OST:BLOG

"28 millimetres" von JR und Ladj Ly

Pünktlich zum ersten Jahrestag der berechtigten Aufstände von Jugendlichen in den Pariser Vorstädten gegen ihre Gettoisierung werden alte Deutungsmuster aus den bewährten Mottenkisten herausgekramt.

In die banlieues der Zentren bürgerlicher Demokratien trauen sich die journalistischen Schriebtisch-Küchen-Soziologen äußerst selten hinein. Millionen sozial Ausgegrenzter Menschen, die illegalisiert und kriminalisiert ums Überleben kämpfen stellen ihre heile Trikolore-Welt von Freiheit-Brüderlichkeit-Gerechtigkeit auf den Kopf. Sie sind die Antithese zu den liberalen Versprechen der freiheitlichen Gesellschaftsordnung. Ähnlich wie man/frau nichts von 6.5 Millionen Arbeitslosen als Unterschicht bzw. „Abgehängtes Prekariat“ in Deutschland wissen will, werden auch die Ursachen der Gettoisierung verschleiert. Vor einigen Monaten berichteten wir direkt aus Clichy-sous-Bois und den Strassen von Paris über aktuelle Entwicklungen in Frankreich. Hautnah erlebten wir die Situation an den Unis und die Besetzung der Sorbonne Universität während der Demos gegen das Ersteinstellungsgesetz CPE. In diesen hitzigen Tagen haben wir zwar unsere Kamera verloren und mussten einen Abend in der Notaufnahme verbringen, nach wie vor gilt unsere Solidarität den Ausgegrenzten und den zur Sprachlosigkeit verurteilten. Hier und überall.

Eine Interessante Auseinandersetzung mit den herrschenden Stereotypen über die banlieues bieten die Streetart-KünstlerInnen Jr und LADJ LY mit dem Projekt 28 millimetres. Seit fünf Jahren versuchen sie zwischen Los Angeles und Berlin „illegal“ auf der Strasse ihre Arbeiten zu präsentieren.

Den Anfang bildete eine wilde Ausstellung auf den Mauern der Cité des Bosquets in dem Vorort Montfermeil im Jahre 2004. Dabei benutzte Jr eine 28 Millimeter Brennweite um die wahren Zustände hautnah abzubilden. Jr wollte mehr zeigen als die 35 Millimeter Standard-Linse für Porträtphotos erlaubt. Es folgten „Galerien“, die die Ausgestoßenen in die Viertel der links- bis rechtsliberalen BoBos (Bourgeois Bohème) und ins Pariser Zentrum, wo die Yuppies am rechten Ufers der Seine wohnen, brachten.

R.2-l'Est ft 57Clan - Cris du ghetto [mp3 banlieues Rap]

Buch zum Projekt erschienen bei Editions Alternatives (Gallimard)

Kidz in the hood, Foto: Jr

Zur Situation in den banlieues:

IM GESPRäCH*Claude Dilain, Bürgermeister von Clichy-sous-Bois bei Paris, über soziale Gettos und
eine Gesellschaft, die assimilieren, aber nicht integrieren will
Der Kinderarzt Claude Dilain gehört der Sozialistischen Partei an und ist seit 1995 Bürgermeister
von Clichy-sous-Bois. Dort hatten im November 2005 nach dem Tod zweier Jugendlicher, die auf der
Flucht vor der Polizei einen tödlichen Stromschlag erlitten, die Unruhen in den Banlieues ihren
Ausgangspunkt. Seither kommt Frankreich nicht mehr zur Ruhe.

Der Universalismus ist das Problem
Die Unruhen in den Banlieues waren ein Fanal der Diskriminierten. laurent mucchielli über
die berechtigten Forderungen der Vorstadtjugendlichen

Laurent Mucchielli ist Soziologe, Forschungsbeauftragter an der französischen Wissenschaftsakademie
CNRS und Direktor des Forschungslabors CESDIP (Zentrum für soziologische Forschungen über das Recht
und die Strafeinrichtungen). Er ist Spezialist für Fragen der Sicherheitspolitik und Jugendkriminalität.
Er hat soeben eine Forschungsarbeit über die Revolte vom November 2005 in den französischen Banlieues
veröffentlicht: »Quand les banlieues brûlent« (Wenn die Banlieues brennen).

Zu den Unruhen in den französ. Banlieues, Hintergründen und Auswirkungen
Bernhard Schmid, Paris

Frankreich im Herbst
Ein Jahr danach: Bernhard Schmid schaut zurück auf die Ereignisse in den Pariser Banlieues

Von wegen alles anders
Die Banlieue Clichy-sous-Bois heute. Eine Reportage von Bernhard Schmid

Kommentierte Brände
Analysen zu den Riots in den Banlieues. Eine Bücher- und Broschürenschau von Bernhard Schmid.

Siehe auch:

http://www.28millimetres.com/

http://www.jr-art.net/

http://www.kourtrajme.com