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Unruhen in Frankreich: der Universalismus ist das Problem

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Laurent Mucchielli in seinem CESDIP-Büro in Saint-quentin en Yvelines bei Paris, Foto: Kamil Majchrzak

Die Unruhen in den Banlieues waren ein Fanal der Diskriminierten. laurent mucchielli über die berechtigten Forderungen der Vorstadtjugendlichen

Das Gespräch führten Emmanuelle Piriot und Kamil Majchrzak. Gleichzeitig erschienen in Jungle World # 26 vom 28. Juni 2006

Laurent Mucchielli ist Soziologe, Forschungsbeauftragter an der französischen Wissenschaftsakademie CNRS und Direktor des Forschungslabors CESDIP (Zentrum für soziologische Forschungen über das Recht und die Strafeinrichtungen). Er ist Spezialist für Fragen der Sicherheitspolitik und Jugendkriminalität. Er hat soeben eine Forschungsarbeit über die Revolte vom November 2005 in den französischen Banlieues veröffentlicht: »Quand les banlieues brûlent« (Wenn die Banlieues brennen).

Sind die Unruhen in Frankreich überstanden?

Der Protest kann sehr schnell wieder aufflammen.

Welche Leute haben die Proteste getragen?

Auffällig ist, dass die Leute im Durchschnitt jünger waren als bei früheren Protestbewegungen. Es waren Heranwachsende oder junge Erwachsene, aber es waren keine in ihren Stadtteilen bekannten Kriminelle dabei. Manche Jugendliche sind jedoch vollkommen aus dem Schulsystem herausgefallen. Andere gehen noch in die Schule, aber befinden sich dort auf einem »Abstellgleis«.

Was sind die Ursachen für die gewaltsamen Proteste? Sie haben mit vielen Jugendlichen gesprochen und sie nach ihren Motiven befragt. Welche Gründe wurden genannt?

Die Leute kritisierten zuerst die Polizei und die Schule. Aber sie hatten auch ganz allgemein ein Gefühl, Ungerechtigkeit und Erniedrigung ausgesetzt zu sein, und das auf vier Ebenen. Sie kritisierten zunächst, wie die Polizei tagtäglich mit ihnen umspringt, die Tatsache, dass sie jeden Tag auf aggressive, beleidigende Weise kontrolliert werden. Diese ständigen Auseinandersetzungen mit der Polizei sind zum Symbol für ihre Situation, ihre Unterdrückung geworden.

Der zweite Punkt, den die Leute kritisiert haben, betrifft die Schule. Besonders diejenigen, die Schulgebäude beschädigt oder angezündet haben, kritisieren die Schul­situation. Das, was sie sagen, widerspricht dem Bild, das wir von der Schule haben – der republikanischen Theorie, die aus der Schule einen Ort der Aufstiegs­chancen und der Chancengleichheit macht. Die Formulierung, die sie oft benutzen, lautet: »Die Schule hat meine Zukunft verdorben.« Das bedeutet, dass sie sich sehr früh darüber bewusst geworden sind, dass sie Schwierigkeiten hatten, dem Unterricht zu folgen, die andere nicht hatten. Sie sind der Ansicht, dass man ihnen nicht geholfen hat, diese Schwierigkeiten zu überwinden.

Ein typisches Beispiel sind diese Jugendlichen, die sagen, dass sie in der Schule nicht mitkommen konnten. Und der Lehrer sagte zu ihnen: »Ich habe keine Zeit, mich um dich zu kümmern, du musst eben am Abend zu Hause arbeiten.« Aber weil die Eltern mit Migrationshintergrund die französische Sprache nicht gut beherrschen, können sie ihnen nicht helfen. Also wächst der Rückstand im Unterricht immer weiter. Nun sind diese Jugendlichen sich sehr wohl darüber bewusst, dass der Schulabschluss über ihr gesamtes späteres Leben, ihre gesellschaftliche Rolle im Voraus entscheidet. Wenn sie am Ende der gemeinsam besuchten Mittelschule auf die berufsnahen Schulen aufgeteilt werden, wissen sie, dass es sich um eine Schule handelt, die sehr geringe Zukunftschancen bietet, während die anderen Schüler auf zukunfts­trächtige Schulzweige geschickt werden.

Das Dritte, von dem die Teilnehmer sprachen, ist das Fehlen von Arbeit, und damit gleichzeitig das Fehlen von Einkommensquellen. Sie drücken es nicht unbedingt genau so aus, aber sie problematisieren die Integration in die Gesellschaft und den Übergang zum Erwachsenenleben. Sie sprechen von der Möglichkeit, eine Wohnung zu mieten und bei seinen Eltern auszuziehen, ein Auto zu kaufen und später eine eigene Familie zu gründen. Die ganze grundlegende soziale Eingliederung wird schließlich verhindert und blockiert, wenn man keine Arbeit hat.

Der vierte Punkt, der oft am Ende der Gespräche erwähnt wird, ist die Frage nach der politischen Repräsentation – und die symbolische und allgemeine Abwertung der Jugendlichen in der französischen Gesellschaft. Sie haben das Gefühl, systematisch an den Rand gedrängt zu werden, von der französischen Gesellschaft ungeliebt zu sein, weil ihre Eltern oder Großeltern Einwanderer sind. Manche haben gesagt: »Wir sind Parias, die Gesellschaft ist rassistisch.« Sie haben ein sehr starkes Gefühl der symbolischen Ausgrenzung.

Man kann hinzufügen, dass viele der Väter, aber auch die großen Brüder, eine Form von passiver Solidarität oder von Verständnis für die Revoltierenden bezeugt haben. Warum? Weil auch sie dieses Gefühl der Ungerechtigkeit und der Erniedrigung kennen. Die Mütter haben uns ebenfalls vom schwierigen Verhältnis zur Schule erzählt. Die Väter sprechen von der Schwierigkeit, eine Arbeit zu finden. Die großen Brüder, auch diejenigen, die Hochschuldiplome besitzen, verrichten unterqualifizierte Tätigkeiten. Sie arbeiten zum Beispiel als Wachmänner in Teilzeitjobs in den Einkaufszentren ihrer Wohngegenden. Diese Männer sind fast noch zorniger als die Jugendlichen selbst. Sie haben das gesellschaftliche Spiel mitgespielt, und dennoch haben auch sie das Gefühl festzustecken. Auch wenn die meisten Erwachsenen das Anzünden der Autos des Nachbarn oder der Schule verurteilt haben, so hat doch die Mehrzahl ein gewisses Verständnis, ja eine echte Emphathie für die jungen Revoltierenden.

Welche Rolle kommt den Medien in dieser Krise zu? Hat das Fernsehen die Situation dramatisiert und zu einer Eskalation beigetragen?

Die Unruhen haben nicht wegen des Fernsehens dieses Ausmaß angenommen. Es war ja auch nicht das erste Mal, dass man Autos brennen sah. Dagegen können die Medien auf lokaler Ebene eine Wirkung haben. Zum Beispiel, wenn Karten der Vorstädte mit der Anzahl der verbrannten Autos veröffentlicht werden. Das kann eine Wirkung haben, weil man weiß, dass es einen Wettbewerb der Gewalt zwischen den Jugendlichen der verschiedenen Hochhaussiedlungen gibt.

Waren nur Männer bei diesen Unruhen aktiv?

Die, die sich beteiligten, waren junge Männer. Das bedeutet nicht, dass die Frauen die Aufstände missbilligten. Der Einsatz von Gewalt ist nicht allein eine Angelegenheit von Jugendlichen mit Migrationshintergrund oder von Männern aus den Arbeitervierteln. Gewalt trifft man überall an. Allerdings gibt es eine klare Aufteilung im Hinblick auf die Geschlechterverhältnisse: Die Gewalt verweist auf die männliche Rolle. Aber das bedeutet nicht, dass die Frauen total außerhalb des Geschehens sind, dass sie kein Verständnis haben.

In Deutschland sagen Feministinnen wie Alice Schwarzer, dass es nicht die Autos waren, die brannten, sondern die Frauen. Schwarzer zufolge waren diese Ereignisse kennzeichnend für die patriarchale Gesellschaft. In anderen Analysen sind diese Riots als Vorstadt-Intifada bezeichnet worden. Haben diese Erklärungen eine Gültigkeit?

Das hat nichts mit der Realität zu tun, das sind Albernheiten. Diese Erklärungen, die man auch in Frankreich hört, tragen dazu bei, das Negativbild zu verstärken, das die Gesellschaft sich von diesen Jugendlichen macht. Man zeichnet von ihnen ein Bild, wonach sie gewalttätig sind, Frauen schlagen, potenzielle Terroristen sind.

Aber was sie sagen, ist, dass sie die Schnauze voll haben von diesem Bild.

Wo beginnt da die Realität, wo das Klischee?

Autos anzünden, Auseinandersetzungen mit der Polizei, das ist seit 25 Jahren eine Realität in Frankreich. Ausgangspunkt waren die von der Polizei so genannten Rodéos von Les Minguettes, einer Trabantenstadt von Lyon, im Jahr 1981. Es handelte sich um die Ausdrucksform einer Revolte aus den Unterschichten und einer Jugend, die nichts mit der Gewalt gegen Frauen oder der Rolle der Religion in den Vorstädten zu tun hatte. Der Protest begann deutlich vor dem Wiedererwachen der Religion in den Vorstädten. Nur ein einziges Mal hat man im November 2005 religiöse Oberhäupter auf der Straße gesehen, da haben sie von den Jugendlichen verlangt, nach Hause zu gehen und mit den Dummheiten aufzuhören.

Die Unruhen waren eine Form des Zorns. Und die Soziologen sind nicht die einzigen, die das sagen. Die auf die Trabantenstädte spezialisierten Polizeidienste sagen es ebenfalls. Am 7. Dezember 2005 hat die Zeitung Le Parisien einen Bericht des französischen Verfassungsschutzes bekannt gemacht, der sehr klar sagte, dass es sich um eine spontane Revolte aus den Unterschichten handelte, an der Jugendliche teilnahmen, die keine im Stadtteil bekannten Straftäter waren, die nicht religiös waren, hinter denen keine manipulierende Macht stand und deren Mangel an kollektivem Bewusstsein mit ihrem Status als aus der Gesellschaft Ausgeschlossene zusammenhing. Diese Unruhen hatten keinen »ethnischen« Charakter. Das ist von grundlegender Bedeutung. Diese Beobachtungen stehen im Einklang mit einer Analyse der geographischen Verteilung des Protests. Die schwerwiegendsten Ereignisse fanden in den »urbanen Brennpunkten« statt. Das sind jene Vorstädte, in denen die ärmsten Bevölkerungsteile konzentriert sind, Vorstädte, in denen aus Gründen der Wirtschaftsgeschichte Frankreichs viele Migranten leben, insbesondere Nordafrikaner. Das sind jene Vorstädte, in denen die Arbeitslosigkeit zwei-, drei- oder viermal höher ist als in anderen Landesteilen, wo man im Wesentlichen auf sozialen Wohnungsbau trifft, auf Familien mit höherer Kinderzahl, mit dem Problem überbelegter Wohnungen. Die Unruhen waren die Konsequenz aus einem Prozess der Ghettoisierung.

Welchen Sinn geben Sie diesem Begriff der »Ghettoisierung«?

Die Lebensbedingungen der Franzosen haben sich in der Zeit des Wirtschaftswachstums von 1945 bis 1975 im Allgemeinen verbessert und angeglichen. Heute verbessern sie sich im Gesamtdurchschnitt weiterhin. Aber eine Schere tut sich auf. Es gibt Leute, die zunehmend reicher werden, und andere, die zunehmend verarmen. Und jene, die sich immer mehr bereichern, leben unter sich in denselben Wohnvierteln. Genauso leben jene, die immer mehr verarmen unter sich in denselben Wohnvierteln. Diese immer stärker werdende Ungleichheit schlägt auf die Geographie des Wohnraums durch. Möchte man eine etwas wissenschaftlichere Bezeichnung wählen, lässt sich sagen: Ghettoisierung ist die soziale und räumliche Trennung der sozialen Gruppenschicksale innerhalb der Gesellschaft.

Warum schlossen die Banlieuejugendlichen sich nicht den Studierenden, die gegen den CPE protestierten, an? Einige Banlieuejugendliche kamen auf die Demos, aber nur um Demonstranten anzugreifen.

Das sind zwei unterschiedliche Fragen. Man muss eine Sache begreifen: Zum ersten Mal in der Geschichte der Arbeiterschaft seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts sind die Bewohner der Arbeiterviertel und Vorstädte nicht politisch repräsentiert. Niemand ist da, um sie zu verteidigen, um ihnen beizubringen, Demos zu organisieren, ein politisches Flugblatt zu schreiben, eine Petition zu verfassen, zu streiken. Und da es nicht mehr die Industriearbeit im klassischen Sinne gibt, bestehen nicht mehr die Organisationsstrukturen, die es vor 30 Jahren in den Vorstädten noch gab. Ich meine Organisationsformen, die mit der Arbeitswelt verknüpft waren, politische Parteien, Gewerkschaften, die Aktivisten von Bildungswerken – ob kirchlich oder laizistisch. Genau dort wurden die Jugendlichen politisch erzogen. Vor der Ankunft des Islam war der Katholizismus sehr stark in diesen Vorstädten vertreten. Es gab sogar spezielle Arbeiterpriester. Diese Welt ist vor 25 bis 30 Jahren untergegangen. Die Jugendlichen, genauso wie ihre Eltern, sind isoliert. Sie können keine politischen Aktionen im klassischen Sinne durchführen, sie haben nicht die Instrumente dafür.

Verstärken die Unruhen diesen Trend zur Entpolitisierung der Gesellschaft?

Ja, natürlich, man benützt die Gewalt, wenn man keine anderen Mittel zur Verfügung hat, um sich Gehör zu verschaffen. Diese Jugendlichen glauben, dass das beste Mittel, um ihre Lebensverhältnisse sichtbar zu machen, darin bestehe, Autos anzuzünden. Übrigens haben sie damit nicht mal Unrecht. Denn das Ergebnis war doch, dass die Mittel für Sozialinitiativen, für Stadtteilgruppen, die die Regierung vor zwei Jahren gestrichen hatte, wieder flossen. Die Jugendlichen sind nicht dumm. Sie stellen fest, dass, wenn sie etwas tun, dies Reaktionen hervorruft.

Stellen die Unruhen ein spezifisch fran­zösisches Problem dar, oder könnten sie auch anderswo ausbrechen?

Das Unbehagen ist bereits in anderen Ländern zum Ausdruck gekommen. In Großbritannien, in den USA. Aber Frankreich weist einige Besonderheiten auf. Der Ghettoisierungsprozess ist hier äußerst weit fortgeschritten – außer in einigen Ausnahmefällen wie Marseille oder Perpignan, die die Wohnviertel der Unterschichten in der Innenstadt behalten haben. Das ist ein großer Unterschied zu Italien oder Deutschland, wo es Unterschichtviertel in den Innenstädten gibt. Dann gibt es diesen republikanischen Staatsdiskurs, der sehr zweideutig ist und eine französische Besonderheit darstellt, der den Anspruch erhebt, dass alle Staatsbürger gleich seien und dass es daher kein Diskriminierungsproblem gebe. Das ist absurd und verschließt total die Augen vor der Realität. Es gibt in Frankreich große Diskriminierungsprobleme. Aber anstatt sie anzugehen wie in anderen Ländern, behauptet man, dass sie nicht existieren, nur, weil die Republik offiziell universalistisch ist. Das ist schädlich. Die französische Gesellschaft muss damit anfangen, wie alle anderen modernen europäischen oder westlichen Gesellschaften, multiethnisch und zum Teil multikulturell zu werden. Aber dieser Gedanke wird nicht formuliert, obwohl das doch eine grundlegende gedankliche Voraussetzung ist, die ausgearbeitet und überdacht werden müsste, um dafür Sorge zu tragen, dass alle repräsentiert werden, dass eine wirkliche Bekämpfung der Diskriminierungen stattfindet und nicht nur moralische Erklärungen.

Darüber hinaus gibt es ein wirkliches Problem der Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich, vielleicht stärker als in anderen Ländern. Es hängt zum Teil mit unserem schulischen Modell der Elitebildung zusammen. Und damit, dass die berufsnahen Schulzweige in Frankreich abgewertet sind. Das ist in Deutschland nicht der Fall, wo es eine wesentlich stärkere Bindung zwischen Ausbildung und Arbeitsleben gibt. In Frankreich herrscht ein Schulmodell der Elitebildung vor, demzufolge der Abschluss eines Schülers, der die Oberschule nicht besucht hat, wertlos ist.


Interview: Emmanuelle Piriot und Kamil Majchrzak, Übersetzung: Bernhard Schmid

Siehe auch:

http://laurent.mucchielli.free.fr/

http://www.cesdip.org/

Michal Stachura | 05.07.06 13:55 | Permalink

Kommentare

Am Ende der Deutschen Patriotischen Welle, sollten die Französisch sprechende Vaterlandslose Gesellen, die überall in Europa Fussball spielen, gewinnen. Das wäre ein Gewinn für den Internationalismus in Europa.

Verfasst von: vg | 06.07.06 17:49

richtig so. dass in deutschen ländle mal die überflüssigen widerstand leisten ist mal wirklich zeit. hartz iv muss wech!

Verfasst von: Jochen | 09.07.06 00:07

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