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Rassismus und Ausländerrecht - Frankfurts wirksame Strategie

Auszüge eines Offenen Briefes von Robin Kendon (ehemaliger Vorsitzender des Ausländerbeirates Frankfurt/Oder)

Am 23.03.2006 sprang Joseph M. aus einem Fenster der Ausländerbehörde im ersten Stock und stürzte auf die Betonplatten am Boden. (Ostblog berichtete) Aus Panik und Angst vor der Abschiebung, die er entkommen wollte, zog er sich so schwere Verletzungen zu, dass er jetzt querschnittsgelähmt ist. Wie es dazu kam und welche Konsequenzen zu ziehen sind, steht noch nicht fest - genauso wie es noch nicht feststeht, wie Joseph M. sein Leben künftig wird gestalten können. Joseph M. ist mit einer deutschen Frankfurterin verlobt, sie wollten noch vor dem Ablauf seiner Duldung heiraten bürokratische Hürden standen im Weg. Bisher hat jede neue Schilderung des Falles neue Fragen aufgeworfen. Um die soll es hier auch gehen.

Zunächst kamen nur wenig Information an die Öffentlichkeit. Aufgrund einer entsprechenden Polizeimeldung erschien am 25.03. auf der Brandenburg-Seite der MOZ ein Kurzbericht über den Sturz. Der Kreisverband der Grünen/Bündnis90 gab am 28.03. eine Pressemitteilung heraus, in der unter anderem eine lückenlose Aufklärung gefordert wurde. Am 29.03. erschien ein Offener Brief des Ausländerbeirates Frankfurt (Oder), der große Betroffenheit zum Ausdruck brachte, auf einige bis dahin bekannten Fragen im Zusammenhang mit dem Fall hinwies und ebenfalls eine lückenlose Aufklärung forderte.

Gleichzeitig mit zwei öffentlichen Erklärungen wurde von der Stadtverordneten Sandra Seifert eine Anfrage an die Verwaltung gestellt, die in der Stadtverordneten­versammlung am 30.03. beantwortet wurde. Wichtig war die Aussage von Herrn Patzelt, er wolle auf jeden Fall Herrn M. eine Aufenthaltserlaubnis erteilen, wobei er verständlicher­weise darauf hinweisen musste, dass die letzte rechtliche Prüfung noch nicht abgeschlossen war eine Aufenthaltserlaubnis muss ausländerrechtlich begründet sein. Zum Verlauf wie es zu dem Sturz kam - hieß es,
die Bewertung sei noch nicht abgeschlossen. Da diese Antwort nur vorläufig war, kündigte Axel Henschke als Vorsitzende des Hauptausschusses an, dass er das Thema auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung des Hauptausschusses setzen würde.

Nach der StVV - am 31.03. oder 01.04. - hat die MOZ erneut auf der Brandenburg-Seite darüber berichtet. Wie sich herausstellt, konnte dieser Bericht auch nicht alles richtig darstellen, was unter anderem daran liegt, dass es bis heute unterschiedliche Darstellungen des Falls gibt, je nachdem, ob die Betroffenen oder die Verwaltung erzählen. Aufgabe der geforderten Aufklärung ist es, die Widersprüche aufzulösen.

In der Hauptausschusssitzung am 10.04. wurde ein 10-seitiges Papier der Verwaltung präsentiert, in der hauptsächlich die juristischen Fragen behandelt wurden. Es wurde deshalb seitens der Stadtverordneten bemängelt, dass u.a. der Ablauf am 23.03. in der Ausländerbehörde nicht beschrieben wurde. Zur nächsten Sitzung am 09.05. soll das Papier durch diese und andere Angaben ergänzt werden. Mittlerweile haben Herr M. und Frau H, seine Verlobte, eine Dienstaufsichtsbeschwerde mit deren Darstellung des Geschehens eingereicht, die dem Hauptausschuss auch vorliegen wird. Nach meinem Kenntnisstand widersprechen sich die Darstellungen in mehreren Punkten. Wer sich mehr für die Einzelheiten interessiert, kann sich bei den Stadtverordneten erkundigen. Dieser Artikel ist ausdrücklich kein politischer Aufruf, dennoch halte ich es für wichtig, dass Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt sich für das hiesige Geschehen interessieren und wenn irgendetwas nicht klar zu sein scheint, an die Zuständigen Fragen stellen.

Die sowohl von den Grünen als auch im offenen Brief geforderte Aufklärung ist also noch längst nicht passiert, von Schlussfolgerungen und Konsequenzen kann noch keine Rede sein.

Joseph M. ist trotz Operationen querschnittsgelähmt. Mittlerweile beginnt die Reha-Maßnahme. Bis jetzt (02.05.) wurde noch keine Aufenthaltserlaubnis erteilt. Dennoch kann man m.E. davon ausgehen, dass Joseph M. in Frankfurt (Oder) wird bleiben können. Welche Unterstützung er noch erhält und erhalten muss, steht erst nach der Reha fest. Leicht wird es sicher nicht sein.

Der Sturz Joseph M.s aus dem Fenster der Ausländerbehörde ist aber kein Einzelfall. Er wirft viel mehr Fragen auf, wie es zu verstehen ist, dass so was passieren kann, sowohl im bundesweiten Kontext als auch auf die Situation und Einflussmöglichkeiten hier in Frankfurt (Oder) bezogen.

Joseph M. ist nicht der erste in Deutschland, der sich aus Panik und Angst vor der Abschiebung verletzt hat. Die Antirassistische Initiative in Berlin dokumentiert unter anderem die Folgen der Asylgesetzgebung für die Flüchtlinge selbst. Die 13. Auflage dieser Dokumentation umfasst den Zeitraum vom 1. Januar 1993 bis zum 31. Dezember 2004.

Hier einige Zahlen aus diesem Zeitraum:
125 Menschen töteten sich selbst angesichts ihrer drohenden Abschiebung oder starben beim Versuch, vor der Abschiebung zu fliehen. Allein 48 Flüchtlinge starben in Abschiebehaft. Mindestens 575 Flüchtlinge haben sich aus Verzweiflung oder Panik vor der Abschiebung oder aus Protest gegen die drohende Abschiebung (Risiko Hungerstreiks) selbst verletzt oder versuchten sich umzubringen und überlebten zum Teil schwer verletzt. Davon befanden sich 372 Menschen in Abschiebehaft. Im Kontext des bundesdeutschen Asyl- und Ausländerrechtes und deren Umsetzung kommt ein solch tragischer Fall zwar selten vor, über 500 Menschen stellen aber keine Einzelfälle mehr dar. Wie es im offenen Brief heißt, ist es für Nichtbetroffene nicht nachvollziehbar, welche Verzweiflung die Angst vor einer Abschiebung hervorrufen kann. Das ist der breitere Kontext dieses tragischen Falls.

In Frankfurt (Oder) kann man nun das Asyl- und Ausländerrecht nicht ändern. Dennoch muss man sich fragen, welchen Anteil die Stadtverwaltung insbesondere die Ausländerbehörde und das Standesamt - daran hat, dass ein Mensch so in Panik und Verzweiflung geraten konnte. Es geht also nicht um das deutsche Asyl- und Ausländerrecht, so kontrovers dieses auch sein mag, sondern um die Praxis der zuständigen Teile der Stadtverwaltung. Denn es ist nicht der erste ausländerrechtliche Fall, bei dem es Kritik an der Praxis der Ausländerbehörde gibt.

Im Folgenden möchte ich einige Eindrücke aus meiner Berührung mit dem Thema Ausländer und Ausländerbehörde schildern - konkrete Fälle möchte ich hier nicht nennen, denn es geht mir nicht um einen Streit um Details einzelner Geschichten, sondern um ein Gesamtbild und die Bereitschaft, sich damit auseinanderzusetzen. Hinter Details kann man sich auch gut verstecken.

Im Laufe meiner Zeit im Ausländerbeirat - sechs Jahre - habe ich viele Fälle kennengelernt, in denen die Praxis der Ausländerbehörde fraglich schien. Dabei war es nicht unbedingt so, dass man ein eindeutiges Fehlverhalten einzelner Mitarbeiter/innen vorweisen konnte, obwohl es das auch gab (und selten Dienstaufsichtsbeschwerden). Dennoch bleibt ein Bild von der Ausländerbehörde in Frankfurt (Oder), die sich als besonders restriktiv in der Handhabe des Rechts auszeichnet. Dieses Bild von der Ausländerbehörde in Frankfurt (Oder) haben auch Menschen an anderen Orten in Brandenburg beschrieben.

So scheint es in manchen Fällen, dass Ausländer, die z.B. eine Aufenthaltserlaubnis wollen, immer wieder hingehalten werden: hat man gerade einen Nachweis erbracht, wird ein neuer verlangt.

Es ist mir einige Male - schon vor dem 23. März - vorgetragen worden, dass Heiratswillige Asylbewerber "bevorzugt" abgeschoben werden.

Wenn es um die Frage des Ermessensspielraumes geht, versteckt sich die Ausländerbehörde oft - so mein Eindruck - hinter der Aussage, wir mussten so handeln, weil die Paragrafen es so bestimmen - als ob es keinen Ermessensspielraum geben würde. Eine Abwägung aller Paragrafen, die tatsächlich in Frage kämen, findet anscheinend nicht statt - oder z.B. erst dann, wenn dies angeordnet wird.

Konkret im Falle von Herrn Mathenge und Frau Hofmann ist es mir nicht nachvollziehbar, warum eine Abwägung derjenigen Gesetzesparagrafen, die mit einer bevorstehenden Eheschließung zu tun haben, anscheinend keine Rolle gespielt haben - so der von Herrn Derling in der Stadtverordnetenversammlung am 30.03. vorgetragene
Bericht. Niemand hat der Ausländerbehörde unrechtmäßiges Handeln vorgeworfen nur, dass sie unter Einbeziehung anderer Paragrafen anders rechtmäßig hätte handeln können.

Selbst wenn es keine Alternative zur Abschiebung gibt, scheint keine vernünftige Kommunikation seitens der Ausländerbehörde mit dem betroffenen Ausländer stattzufinden - man kann mutmaßen, weil auch vorher keine vernünftige Kommunikation stattfindet. Es kann m.E. auch nicht ausgeschlossen werden, dass eine bessere, Angst abbauende Kommunikation das Abtauchen in die Illegalität vermeiden könnte. Kommunikation bedeutet in diesem Kontext viel mehr als das Mitteilen der Verwaltungsentscheidungen man muss mit den Menschen reden, sich Mühe geben, dass Informationen beim Gegenüber auch ankommen.

Die Anzahl der Probleme, die Studierende der Europa-Universität bei der Ausländerbehörde immer wieder berichtet hatten, scheint erst nach mehreren Gesprächen, an denen auch Uni-Präsidentin Frau Schwan beteiligt war, bzw. nach dem Beitritt Polens zur EU, zurückgegangen zu sein. Hier scheint es tatsächlich Bemühungen um eine bessere Kommunikation gegeben zu haben. Warum nicht bei anderen Ausländern?

Diese Eindrücke lassen also Fragen aufkommen, die über die Aufarbeitung eines Einzelfalles hinausgehen. Ich möchte aber auch nicht den Eindruck erwecken, ich verurteile pauschal eine Behörde, denn sie hat eine besonders schwierige Aufgabe innerhalb der Verwaltung. Ebenfalls möchte ich keinen Vorwurf gegen die Mitarbeiter/innen der Behörde einzeln oder gemeinsam richten. Es liegt an anderen, zunächst den Stadtverordneten im Hauptausschuss, die Darstellung der Verwaltung und der Verlobten Frau H. und Herrn M. miteinander zu vergleichen und die Widersprüche aufzulösen.

Zum Schluss: das Handeln der Verwaltung - hier: der Ausländerbehörde hat Auswirkungen auf das Leben anderer - hier: ausländischer Menschen. Wenn die Summe der Handlungen sehr oft zum Nachteil dieser Menschen auswirkt, wenn diese Menschen oft Angst haben, überhaupt zu dieser Verwaltung hinzugehen, dann passt es nicht zu der erklärten Politik der Stadt als ein modernes und kundenorientiertes Dienstleistungsunternehmen -, weltoffen und freundlich sein zu wollen. Deshalb ist die Aufklärung über den Fall Joseph M. und das Ziehen von Konsequenzen für die Arbeit der Verwaltung und m.E. für die Entwicklung der Stadt so wichtig.

Anmerkung:

Die tragischen Ereignisse ziehen für Herrn Mathenge und seine Lebensgefährtin zahlreiche Folgen nach sich, die mit großen finanziellen Belastungen verbunden sind. Dies reicht von der rechtlichen Aufarbeitung bis zum rollstuhlgerechten Umbau der gemeinsamen Wohnung. Deshalb ruft der Vorstand des Kreisverbandes Frankfurt (Oder) von Bündnis90/Die Grünen zu Spenden für Joseph Mathenge auf. Die Spenden werden nach Eingang an Herrn Mathenge und seine Lebensgefährtin weitergeleitet.

Spendenkonto:
Bündnis90/Die Grünen Frankfurt (Oder)
Stichwort: Joseph Mathenge
Kto-Nr.: 36 000 69 399
BLZ: 170 550 50, Sparkasse Oder-Spree

Siehe auch:
http://www.de.indymedia.org/2006/05/146044.shtml

http://www.inforiot.de/news.php?topic=news&article_id=7636

Michal Stachura | 03.05.06 10:35 | Permalink