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Biedermann und Brandstifter

“Der Anständige”, Dokumentarfilm von Vanessa Lapa

Angelika Nguyen

Er habe, heißt es in dem Brief, leider den Hochzeitstag vergessen, weil er “unmenschlich viel zu tun gehabt” hatte. Treffender geht es kaum, denn der Mann, der das schreibt, war Chef von SS, Waffen-SS, Gestapo und Polizei, Leiter des Mordes an den Juden Europas. zeitweilig Heeresgruppenführer, Innenminister, zweitmächtigster Mann Nazideutschlands fast bis zum Schluss.
Sein Name: Heinrich Himmler.

Der Film beginnt mit einer Art Prolog. Kriegsende 1945. Zwei Frauen sitzen in körniger Schwarz-Weiß-Einstellung auf einem Balkon vor deutscher Stadtlandschaft, sie sehen aus wie Tiere in der Falle, ein junges Mädchen und eine ältere Frau, Mutter und Tochter. Im Off hört man die Frage “What’s your husband’s name?” Antwort: “Heinrich Himmler”. Weiter die Frage, wer denn verantwortlich gewesen sei für die Konzentrationslager. Antwort: “Also, für die Lager war es mein Mann.” Das ist der Originalton des Verhörs von Marga Himmler und Original-Film. Dann setzt die Rückblende ein, in die Biographie Himmlers. beginnend 1900, dem Geburtsjahr.

Noch so eine wild kompilierte Dokumentation über Hitlerdeutschland, wie sie auf Phoenix in Endlosschleife laufen, fragt man sich, wieder ein Naziführer ganz privat? Ja und Nein. Privat ja, aber streng chronologisch, ohne Abschweifungen und mit einem klaren Konzept. Niemand hat hier einen klugen Autorentext verfasst, keine analytischen Historiker geben im Off Erklärungen ab. Die gesprochenen Sätze sind fast ausschließlich O-Töne von Himmler selbst und seiner Familie, für den Film in Dialogform mit Schauspielerstimmen gesprochen. Die Bilder – seltenes Originalmaterial aus deutschem Alltag und Zeitgeschichte der 20iger, 30iger, 40iger Jahre und Himmler in Familie oder bei der Arbeit, und immer jeweils zeitlich sorgfältig passend zu den Entstehungsdaten der Texte - bilden eine Kommentarebene ganz unüblicher Art.

Die israelische Regisseurin Vanessa Lapa, angetrieben, wie sie sagt, von Zorn, Neugier, Furcht, Verantwortung, selbst Enkelin von Überlebenden der Shoa, hat diesen Film im besonderen Auftrag gemacht. Das beginnt mit dem Archivmaterial.

Zentral verwendet wurde eine Sammlung von Briefen, Fotos, Tagebüchern, Haushaltsbuch, Geschenkelisten, Babytagebuch, Kochbuch, Poesiealbum aus dem Privatbesitz der Familie Himmler, die eine abenteuerliche Reise hinter sich hat. 1945 entdeckt von amerikanischen Soldaten im Haus von Himmler in Gmund am Tegernsee, wurde sie mitgenommen an einen unbekannten Ort und landete später im Privathaushalt des Malers Haim Rosenthal in Tel Aviv. 2006 kaufte Vanessa Lapas Vater das Archiv zu einem symbolischen Preis, der Verkäufer wünschte sich statt Geld einen Dokumentarfilm.

Dessen Idee liegt nun in der sich wechselseitig kommentierenden Bild-Ton-Montage, in der Einheit der Widersprüche zwischen weich-vertrauter, manchmal etwas blumig-pathetischer Privatheit der Familientexte – Liebesschwüre der Eheleute, Ermahnungen an die Tochter, deren Klage über den abwesenden Vater, Neckereien, Rezepte, Geschenke, später noch Sehnsuchtsseufzer der heimlichen Geliebten - und den im Bild kumpel-harten Studentenverbindungen, Vorführung von Beinprothesen des Ersten Weltkriegs, konzertierten Leibesübungen in Nazivereinen, Aufmärschen, Militärs, brennenden Synagogen, Deportationen von jüdischen Familien, Massenerschießungen in Osteuropa, KZ-Überlebenden.

In dieser Kontrast-Montage hat der Film zwei Welten zusammengebracht und lässt sie uns in ihrer tatsächlich statt gefundenen Gleichzeitigkeit erleben.

Der Titel des Films bezieht sich auf mehrere Zitate Himmlers, für den Anstand ein zentraler Begriff war, Lebensmaxime und ideologischer Pfeiler. In seiner Ermutigungs-Rede 1943 vor SS-Offizieren in Posen redete Himmler offen über die Ausrottung des jüdischen Volkes, Massenmorde und Vernichtungskrieg im Osten und hob es als “anständig” hervor, dies bisher “durchgehalten” zu haben. Das Wort fand die Regisseurin als Eintrag des Vaters im Poesiealbum der Tochter wieder: “Man muss im Leben immer anständig und tapfer sein.” So ist dieses Wort in seiner völligen Verkehrung Schlüssel zur Welt des Heinrich Himmler.

Der Film erhebt den scheinbaren Widerspruch zwischen der biederen Normalität des Privatmannes und dem immensen Ausmaß von Himmlers Rolle im mörderischen Nazisystem zum dichten Gestaltungsprinzip.

Aber, bei allem künstlerischen Augenmaß, das Lapa und ihr Team in Bildauswahl und Sound-Gestaltung bewiesen, gelang der Regisseurin nicht die Disziplinierung der Schauspielerin Sophie Rois, die die Marga-Himmler-Texte öfters kabarettistisch interpretiert, von glucksender Vertraulichkeit bis zu schlüpfrig-heiserer Ermahnung, die Stimme fast abbrechend in allzu hohen Höhen, die ehrgeizige Übergestaltung stört und verzerrt jene Normalität, die ja das eigentlich Erschütternde an dem Film ist.

Nur beim Anblick der Opfer lässt der Film die Himmlers “schweigen”. Das Zusammentreiben der gekennzeichneten Menschen auf der Straße, die Gesichter der Geschockten, Geängstigten, die sich abschleppen mit ihrem Gepäck, Rucksäcken, Bettzeug, Koffern, die vor Viehwaggons warten, die ausgeladen werden aus Lastwagen und gehetzt zu den schon ausgehobenen Massengräbern, vor der laufenden Kamera erschossen. Der Film zeigt das minutenlang, immer wieder neue Erschießungen. An diesen Stellen werden die stummen Szenen mit adäquaten Geräuschen unnatürlich laut synchronisiert: die Schließung der Waggons, die Schritte, die Schüsse.

Am Schluss dann nach dem Selbstmord im Mai 1945 der tote Himmler in einem Zimmer, umgeben von alliierten Soldaten, selbst im Tod noch diese Redlichkeit im Gesicht. Tochter Gudrun, erfährt man im Abspann, unterstützt heute in dem Verein “Stille Hilfe” von Anklage bedrohte und verurteilte Nazis mit Geld und Zuspruch, und vor ein paar Monaten schrieb eine bayrische Lokalzeitung von der Tochter der “Nazi-Bestie”.

Die Bestie war keine Bestie, nur ein Mann, der die Macht erhielt, seine tiefe rechtsextreme Überzeugung in die Tat umzusetzen, war Vater, Ehemann, Geliebter. Das erzählt der Film eindringlich.
Wer will sich das antun? Hoffentlich viele.

A.S.H. | 29.09.14 14:05 | Permalink