« »Mein bestes Argument ist das fertige Gebäude.« | Hauptseite | 8.Mai 2014 - Wer nicht feiert hat verloren »

„Ich will kein Jude sein.“

„Lauf Junge lauf“ (Regie: Pepe Danquart)

Von Angelika Nguyen

Gegen Ende des Films sitzt der 10jährige Jurek auf einem Baum und weigert sich, herunterzukommen. Er will seine neue Heimat, eine polnisch-katholische Bauernfamilie, die ihn liebt, nicht mehr verlassen. Jurek, der einmal Srulik hieß, hat einiges durch. Einen ganzen Film lang war er auf der Flucht vor deutschen Nazis und judenfeindlichen Polen, erlebte den Mord an seinem Vater, ernährte sich in den Wäldern um Warschau von Schnecken und gestohlenen Hühnern, verlor bei einem Unfall seinen rechten Arm, schlief in Schneewehen, fand Zuflucht bei einer Bäuerin, die ihm das Vaterunser beibrachte, geriet mehrfach vor den Lauf deutscher Pistolen, erlebte die Befreiung durch die Rote Armee. Als ihn niemand mehr verfolgt, verrät ihn ausgerechnet ein Jude, ein Nachbar. Seltsame Verkehrung. Da kommt ein Auto wie früher, und es steigt einer aus. Nur dass der Mosche Franklin heißt und Abgesandter des jüdischen Waisenhauses in Warschau ist. Da flüchtet der Junge auf den Baum und schreit von oben: „Ich will kein Jude sein!“. Aufruhr. Der kleine Bengel Jurek, ehemals Srulik, will das Judentum verlassen. Der traut sich was.

Sruliks wahre Identität sei es, so das Presseheft, Jude zu sein. Judentum nicht nur als Religion, sondern als Schicksalsgemeinschaft. Entsprechend pathetisch fällt die Szene aus, in der Sruliks Vater kurz vor seinem Opfertod den Sohn beschwört, er dürfe niemals vergessen, dass er Jude sei. Einfühlungskino liebt so etwas. Aber vielleicht entstand ja durch das Trauma des Verlustes der Familie und die Leistung des Überlebens eine neue komplexere Identität bei dem Kind - die dann da auf dem Baum bei den Kowalskis sitzt und sich weigert, mit Mosche zu gehen.

Der Schriftsteller Jurek Becker (geboren als: Jerzy Bekker), der als kleines Kind die Nazizeit in Ghetto und KZs überlebte, bestand zeit seines Lebens darauf, dass zwar seine Eltern Juden gewesen seien, er selbst jedoch sei keiner. Er klagte damit eine Freiheit ein, derer er sich von vielen Seiten beraubt sah: selbst entscheiden zu können, ob er Jude ist oder nicht. Das wollten auch Endre Friedmann und Bernard Schwartz. Sie legten ihre Namen ab und suchten sich neue: Robert Capa und Tony Curtis.

Diese Freiheit hat der kleine Srulik nur kurz. Verfolgung, erfährt er, ist nicht nur anstrengend, sie verpflichtet auch. So steigt er vom Baum herab ins Auto zu Mosche und fährt gewissermaßen gleich durch nach Tel Aviv, wo die Schlussszene des Films unversehens sich abspielt.

Als dem “ Sieg der Menschlichkeit über die Gräuel der Nazizeit“ vergab die Deutsche Film- und Medienbewertung dem Film ihr Prädikat: Besonders wertvoll.

Bei so viel Erhabenheit wagt man kaum noch, den Film auf seine erzählerische Qualität hin zu prüfen. Aber genau da leidet der Film. Eine plötzliche Rückblende an der spannenden Stelle, als Srulik vor der Tür der katholischen Bäuerin ohnmächtig wird, unterbricht den linearen Verlauf ohne Not, genauso wie diese dann wieder endet, und Srulik bei der Frau eine Art Zuhause findet. Eigentlich nur eine Episode, wird es übertrieben lange erzählt. Die beliebige Stationen- Dramaturgie setzt sich fort. Praktische Details des Überlebens, etwa, wie die Kinder in den Kampinoski-Wäldern an Feuer herankommen, um das gestohlene Huhn zu backen, werden leider ausgeblendet. Die Motive der viel gelobten Helferinnen und Helfer bleiben dunkel, überhaupt sind die Figuren, einschließlich des Jungen, seltsam fern, von außen nur gesehen, wie in einem Dokumentarfilm. Und die Geigen sind zu laut.
Die Besetzung der Hauptrolle ist nicht so glücklich wie behauptet. Die polnischen Zwillinge Andrzej und Kamil Tkacz wurden als Entdeckung gefeiert. Dabei ist schon die Doppelbesetzung problematisch. Sie verhindert, dass sich ein Darsteller kontinuierlich mit der Rolle beschäftigt, und sie hatte natürlich nur einen ganz pragmatischen Grund: die streng reglementierte Drehzeit für kleinere Kinder wurde damit verdoppelt – und die teure Drehdauer halbiert. Die Tkacz- Brüder wirken jedenfalls oft unbeteiligt, und hinter ihren riesigen dunklen Augenpaaren kann sich alles verbergen – oder nichts.

Dennoch besingt der Medien-Chor den Film ziemlich einstimmig, als machte das Thema aus ihm ein gelungenes Kunstwerk per se, ein pädagogisch wichtiges sowieso. Scharen von Lehrerinnen und Lehrern sahen in kostenfreien Vorführungen diesen Beitrag zum Geschichtsunterricht.

Der deutsche Regisseur Pepe Danquart, einst berühmt geworden mit seinem Kurzfilm „Schwarzfahrer“ (Oscar 1994) und als Dokumentarfilmer gefeiert unter anderem für seine Sport-Dokumentation über die Eisbären Berlin („Heimspiel“ 2000), legt hier seinen ersten abendfüllenden Kinospielfilm vor. Aber er vermochte dem Stoff nichts Neues abzugewinnen. Den Veränderungsprozess der Persönlichkeit des Kindes auszuloten war seine Sache nicht. Vielmehr bestand Danquarts Ambition darin, voller Ehrfurcht „das wahre Leben“ von Yoram Fridman in Szene zu setzen, das früher in Uri Orlevs Kinderbuch zum Bestseller wurde.

Wie von den Produzenten gewünscht, errichtete der Regisseur ein Denkmal. Seltsam starr.

A.S.H. | 22.04.14 10:06 | Permalink