« Erinnerung an einen Film | Hauptseite | Sehr alte Hinweise für Wahlkämpfer – inzwischen längst Standard »

Nach Chile

von Raul Zelik

Ich habe die Einladung, über den Putsch in Chile zu sprechen, gern angenommen, obwohl es weitaus kompetentere Referenten geben würde: unter chilenischen Exilanten sowieso, aber auch unter deutschen Linken: Klaus Meschkat zum Beispiel, der in den 1960er Jahren führender SDS-Aktivist war, 1969 nach Kolumbien ging, ab 1971 unter der Allende-Regierung über die Selbstorganisierung von chilenischen Arbeitern forschte und nach dem Putsch schließlich im Lager von Quiriquina inhaftiert war.

Wenn ich hier trotzdem reden möchte, dann weil ich mich involviert fühle. Meine Biografie ist mit dem Putsch auf seltsame Weise verwoben. Man könnte sagen: Ohne Pinochet gäbe es meine Kinder nicht. Meine Frau ist die Tochter eines Exilanten, der nach dem Putsch 1973 einige Zeit Verbindungen zum Widerstand hatte und dann als 22Jähriger nach Deutschland floh, wo er praktisch sofort ein Kind zeugte. Das Gefühlsleben dieses Mannes war offensichtlich ziemlich durcheinander: Ich kann nicht sagen, ob wegen Verfolgung und Flucht, seines jugendlichen Alters, der Zerrissenheit zwischen zwei Lebensorten oder einfach wegen eines typisch männlichen Wankelmuts. Auf jeden Fall spielen die Unruhe des Exils, die Zerrissenheit zwischen Chile und Deutschland, zwischen einer chilenischen und deutschen Familie und wohl auch die Frustration über die Niederlage bis heute in unser Leben hinein. Pinochet als Ausgangspunkt einer Migrations- und Familiengeschichte.

In der Familie aus der ich stamme, gab es keinen Bezug zu Lateinamerika, und trotzdem spielte Chile auch in meiner eigenen Biografie eine wichtige Rolle. Wenn man mal unterstellt, dass es im politischen Leben so etwas wie „Erweckungsmomente“ geben kann – bestimmte Wahrnehmungen oder Erfahrungen, die einen Politisierungsschub auslösen –, dann war für mich Chile dieser Moment. Das erste politische Gedicht, das ich mir 1979 an die Wand pinnte, war von Pablo Neruda – auch er übrigens nicht der widerspruchslose Held, zu dem ihn die linke Geschichtsschreibung gemacht hat ... (Neruda verleugnete die Existenz seiner behinderten Tochter Malva Marina, die als Achtjährige in einer niederländischen Adoptivfamilie starb, schrieb Oden an Stalin und beteiligte sich an den innerlinken Säuberungen: Er verhalf dem stalinistischen Attentäter David Alfaro Siqueiros nach dem ersten, missglückten Mordanschlag auf Trotzki zur Flucht aus Mexiko).
Doch auch wenn nicht alles so einfach war, wie es auf den ersten Blick scheint, und viele Opfer des Putsches als Helden kaum taugen, bin ich froh, mir damals ein Neruda-Gedicht und nicht z.B. ein AC/DC-Poster ins Zimmer gehängt zu haben. Die Solidarität mit Chile, die in den 1970er und 1980er Jahren wie eine Klammer in der zersplitterten Linken wirkte, warf wichtige politische Fragen auf, die ein guter Ausgangspunkt für politisches Denken waren und bis heute nichts an Gültigkeit verloren haben.

Da ist zum Einen die Tatsache, dass der Übergang zum Sozialismus in Chile von einer Regierung betrieben wurde, die innerhalb des bürgerlich-repräsentativen Systems gewählt worden war und sich ständig darum kümmern musste, Mehrheiten für ihr Projekt zu mobilisieren. Um die Bedeutung dessen zu verstehen, muss man sich vielleicht das Grunddilemma vergegenwärtigen: Im 20. Jahrhundert gab es drei große politische Strategien: revolutionäre Machtübernahme, Reformpolitik und Basisprojekte, z.B. Genossenschaften. Die großen, erfolgreichen Revolutionen zogen so tiefe gesellschaftliche Brüche nach sich, dass sie die Mehrheitsunterstützung einbüßten und zunehmend autoritär verteidigt werden mussten. Der sozialdemokratische Reformismus lief auf ein Gemütlichmachen in den Verhältnissen hinaus und brachte Arbeiterparteien und Gewerkschaften dazu, sich den bürgerlichen Machtstrukturen komplett anzupassen. Die eher anarchistischen Basisprojekte schließlich sind zwar sympathisch und vermitteln wichtige Erfahrungen, beschäftigen sich in erster Linie dann doch aber mit sich selbst. (Dieses Problem ist von dem US-Marxisten Erik Olin Wright in Envisioning Real Utopias ziemlich gut beschrieben worden.)

Ich würde nun behaupten, dass die Unidad Popular in Chile, ohne das Dilemma in dieser Form definiert zu haben, eine Antwort darauf zu entwickeln versuchte. Allendes Linke – und damit meine ich auch Parteien und Bewegungen, die wie der MIR gar nicht an der Regierung beteiligt waren – stellte die schnelle Machtübernahme nicht in den Mittelpunkt ihrer Politik, sondern setzte auf eine Ermächtigung von Arbeitern und Bauern. Der Staat wurde eingesetzt, um Machtstrukturen aufzubrechen, z.B. durch die Vergesellschaftung von großen Industrien oder die Landreform. Es ging aber nicht in erster Linie darum, den Staat zu stärken und Veränderungen durchzupeitschen. Die revolutionäre Reformpolitik der Allende-Jahre, die von einer starken Basisorganisierung begleitet wurde, zielte darauf ab, die gesellschaftliche Unterstützung für das Projekt zu verbreitern. Es war, wenn man so will, ein „hegemoniales Projekt“ im Gramscianischen Sinne: Die Veränderung sollte nicht „aus den Gewehrläufen“ kommen, also letztlich militärisch erzwungen werden, sondern durch Organisationsprozesse, gesellschaftliche Debatten, soziale Kämpfe und direkte Aktion durchgesetzt werden.

Die zweite große Frage, die von Chile aufgeworfen wurde, ist die Gewaltfrage. Wir wissen alle, dass die Unidad Popular militärisch zerschlagen wurde. Für meine Politisierung in den 1980er Jahren war das eine beunruhigende, mich sehr radikalisierende Erkenntnis: Es kann innerhalb der bürgerlichen und internationalen, sprich imperialistischen, Herrschaftsverhältnisse, offensichtlich gar keine Veränderung ohne militärische Gewalt geben. Der bewaffnete Kampf schien nicht nur ethisch legitim, er schien auch überzeugender als alle legalistischen Strategien.

Als Jugendlicher hätte ich diese beiden Probleme sicher nicht in dieser Form artikulieren können, aber auf diffuse Weise waren sie uns durchaus bewusst: Der Sozialist Salvador Allende, der in mancher Hinsicht links von der Kommunistischen Partei Chiles stand, war uns sympathisch, weil er ein radikales, demokratisierendes Projekt verfolgte. Chiles Aneignungsreformrevolution war eben nicht wie die Staatssysteme in der Sowjetunion, China, Jugoslawien oder auch Kuba als Ein-Parteien-Modell gedacht. Keine Organisation konnte einen Alleinvertretungsanspruch formulieren, die gesellschaftliche, künstlerische und politische Dissidenz wurde nicht in Frage gestellt. Die chilenischen Sozialisten haben – wie man in Dokumentarfilmen sehen kann – auf Fabrikversammlungen radikaler gesprochen als viele Autonome: Es ging um die Ermächtigung von unten, um Selbstorganisation, um Klassen-, nicht Parteimacht. Und genau deshalb wurde diese Regierung aus dem Weg geräumt und ihre Anführer ermordet.

Das alles war auch ohne große politische Vorkenntnisse zu verstehen.

Und dann die Bilder vom Putsch: Selten in der Geschichte ist so deutlichen, wer die Guten und Bösen sind. Zunächst hatte die chilenische Rechte mit Hilfe der US-Geheimdienste (oder umgekehrt) über Jahre hinweg ein Klima der Anspannung und Verunsicherung geschaffen: Lebensmittelverknappung, Unternehmer-Lockout, terroristische Aktionen unter fremdem Namen, die Hysterisierung der Mittelschichten usw. Und dann ergriff die von preußischer Militärkultur geprägte Armee die Macht, unterband jede Form von Protest und ertränkte die Gesellschaft in Terror. Dem wichtigsten kritischen Musiker und Gitarristen wurden die Hände gebrochen, bevor man ihn ermordete. Dieses Bild hat für mich ein für alle Mal die Frage geklärt, welche Bedeutung dem Menschenrechtsdiskurs der bürgerlichen Staaten beizumessen ist. Der „freie Westen“, den wir als Jugendliche durchaus als freier oder zumindest als weniger unfrei wahrnahmen als die Staaten des Warschauer Pakts, sozusagen als kleineres Übel, bewies in Chile, dass er in einer Krisensituation ohne Skrupel auf das gesamte Repertoire des Terrors zurückzugreifen bereit ist. Demokratie ist nur so lange von Bedeutung, wie diese den Kapitalismus nicht in Frage stellt. (Wie ich Jahrzehnte später gelernt habe, ist das eine zentrale These Carl Schmitts, des ehemaligen NS-Kronjuristen und autoritären Staatstheoretikers: Das verborgene Gravitationszentrum politischer Macht ist der Ausnahmezustand, der ein reine Willkür- und Terrorakt ist.)

Doch Chile war für meine Politisierung nicht nur wichtig, weil es auf grundlegende Fragen der Politik verwies. Die Ereignisse prägten auch ganz konkret das Bewegungsspektrum, das ich als 15Jähriger kennenzulernen begann. Die breite Solidaritätsbewegung, die 1973 entstanden war und kirchliche, kommunistische, sozialdemokratische und linksradikale Gruppen gleichermaßen umfasste, bereitete das Terrain für eine neue Generation von Solidaritätsbewegungen.
Der Aktivismus der 1960er, 1970er und 1980er Jahre in Europa, aber auch Lateinamerika war seltsam: Er war viel internationalistischer als die Linke heute, gleichzeitig aber auch viel weniger globalisiert. Es war seltener, dass Leute im Ausland arbeiteten, man reiste weniger, man beherrschte andere Sprachen schlechter. Und trotzdem war das politische Bewusstsein zumindest ab 1967 extrem internationalisiert. Der Vietnam-Krieg, die Kämpfe im Iran, die antikolonialen Kriege in Afrika, die Black Panther in den USA und das, was sich davon in schwarzer Musik und Blackploitation-Filmen reflektierte, die lateinamerikanischen Stadtguerillas, der Pariser Mai oder auch der antifranquistische Widerstand in Spanien – das war der politische Erzählungsraum der 1970er Jahre.

Chile stellte in dieser internationalistischen Stimmung einen Kristallisationspunkt dar. Ein Land wurde zum konkreten und dauerhaften Bezugspunkt einer Solidaritätsbewegung. Das hatte Nachteile – weil sich internationalistisches Selbstverständnis in eine Art NGO-Politik verwandelte –, aber eben auch Vorteile: Die Solidaritätsbewegung beschäftigte sich wirklich tiefgründig mit den Verhältnissen in Chile und Lateinamerika und baute ein Netz von Beziehungen zu und mit lateinamerikanischen Linken auf. Die Mittelamerika-Solidaritätsbewegung, in der ich in den 1980er Jahren dann meine ersten politischen Erfahrungen sammelte, war in vieler Hinsicht eine Fortführung dieser Chile-Solidarität.

Chiles Transformation
Das ist sozusagen der persönliche Teil, warum mich die Ereignisse in Chile so lang beschäftigt haben. Ich möchte jetzt in einem zweiten Schritt versuchen, die Entwicklung im Land selbst in groben Zügen zu skizzieren.
In der linken Geschichtsschreibung beginnen die Veränderungen in Chile normalerweise mit dem Regierungsantritt Allendes. Ich denke jedoch, dass das nicht stimmt und einen falschen Eindruck von Transformationsprojekten schafft. Die parteipolitische Zusammensetzung von Regierungen ist nicht bedeutungslos, aber viel entscheidender sind gesellschaftliche Kräfteverhältnisse und Konstellationen.

Die chilenische Veränderungspolitik, z.B. die Landreform oder die Teilverstaatlichung der Kupferminen, setzt unter dem Christdemokraten Eduardo Frei ein, der 1964 bis 1970 Präsident ist. Wie kann das sein? Die Politisierung auf dem Kontinent, die sozialen Kämpfe von Bauern, Slumbewohnern und Arbeitern, die Angst vor einer Revolution wie in Cuba und das Erstarken einer relativ radikalen Wahllinken sorgten dafür, dass sich die politische Rechte in Chile ausdifferenzierte und die Christdemokratie progressive Positionen einnahm: Landreform, Förderung von Genossenschaften, Teilverstaatlichungen usw. Aus Sicht von Präsident Frei und seinen internationalen Verbündeten stellten solche Reformen Maßnahmen dar, um einen radikaleren Bruch zu verhindern. Doch das ändert nichts daran, dass die Christdemokratie selbst die Transformation einleitete. Der Wandel war also nicht in erster Linie das Ergebnis von Wahlen, sondern er wurde gesellschaftlich erzwungen: Die chilenischen Intellektuellen, gerade auch die Ökonomen, verteidigten mehrheitlich marxistische oder dependenztheoretische Konzepte (eine Lesart postkolonialer, antiimperialer Ökonomiekritik) und die sozialen Kämpfe von unten, z.B. die Landbesetzungen, nahmen manche Veränderungen faktisch vorweg. Zudem setzte die befreiungstheologische, christliche Linke die Christdemokratie an der Basis unter Druck. So funktioniert eine realistische Reformpolitik!

Unter Allende radikalisierte sich der Wandel – wobei es innerhalb der Unidad Popular gravierende Differenzen gab. Die Kommunistische Partei, die sich an den Interessen der UdSSR orientierte, stand in vielen Fragen rechts von den chilenischen Sozialisten und strebte, das war Moskaus Politik in ganz Lateinamerika, eher nach einem Bündnis mit national und demokratisch gesonnenen Teilen des Unternehmer- und Bürgertums. Die christliche Linke der MAPU, die revolutionäre Linke der MIR und Teile der Sozialisten hingegen wollten eine radikale Aneignungspolitik von unten, was auf eine Verschärfung der Klassenkonflikte hinauslief.
Der Putsch – und daran sieht man, dass nackte Gewalt aus Sicht der Herrschenden eine sehr rationale und effiziente Strategie sein kann – zerstörte beide Strömungen gleichermaßen. Er unterband die Annäherung der reformistischen Linken an die Christdemokratie und schüchterte die Bauern-, Stadtteil- und Arbeiterbewegungen so ein, dass die sozialen Kämpfe zum Erliegen kamen.
Der 11. September wirkte in dieser Hinsicht sogar weit über den südamerikanischen Cono Sur hinaus: Von Linken wird häufig darauf hingewiesen, dass Pinochets Chile ein Labor für den Neoliberalismus der Chicago Boys gewesen sei. Im Nachhinein stellt sich diese Entwicklung vielleicht gradliniger dar, als sie im historischen Moment tatsächlich war. Aber es ist doch richtig, dass sich in Chile zum ersten Mal zeigte, wie effektiv sich Gewalt und Schock einsetzen lassen, wenn es darum geht, gesellschaftliche Kräfteverhältnisse zu brechen. Der Putsch zerschlug die Arbeiterbewegung, die kritische Intelligenz verstummte, und die bürgerliche Mitte, die sich aufgrund des gesellschaftlichen Drucks nach links bewegt hatte, rückte wieder weit nach rechts.

In Chile war diese Strategie ein voller Erfolg. Wenn man heute durch das Land reist, ist man erstaunt, wie tief sich neoliberales, also individualisiertes, tauschwertförmiges Denken in die Gesellschaft hineingefressen hat. Selbst Familien sind oft ökonomisierte Orte, in denen finanzielle Leistungen kalkuliert werden. Die Privatisierung des Bildungswesens zwingt die Menschen dazu, schon als Kinder und Jugendliche solche ökonomischen Kalküle zu verinnerlichen. Das hat Chile, v.a. seit dem Ende der Militärdiktatur, hohe Wachstumsraten beschert, das gesellschaftliche Klima aber unerträglich gemacht. Und bis zur Studierendenbewegung seit 2011 gab es keine gesellschaftliche Kraft, die diesen Konsens in Frage hätte stellen können.
Doch Chile war nicht nur ein Labor neoliberaler Krisenbewältigung, das dann auf andere Länder und Weltregionen ausstrahlte. In dem südamerikanischen Land wurde auch ein Exempel statuiert. Wahrscheinlich hatte das US-Außenministerium gar nicht so hochgesteckte Ziele, als es auf einen Putsch hinzuarbeiten begannen. Doch auch wenn es sich nur zufällig so ergeben haben mag: Der Putsch besaß eine wichtige geopolitische Dimension. Er signalisierte der Wahllinken, also sozialdemokratischen, sozialistischen und kommunistischen Parteien gleichermaßen, dass Washington eine Annäherung an radikalere Positionen nicht dulden werde. Auf diese Weise wurde auch die europäische Linke diszipliniert, die nach 1968 wieder über echte Transformationspolitik nachzudenken begonnen hatte. In Südeuropa, v.a. in Italien, wo Anfang und Mitte der 1970er Jahre – heute kaum noch vorstellbar – eine vorrevolutionäre Situation herrschte und ganze Stadtteile von Basisorganisationen kontrolliert wurden, kam die Botschaft besonders deutlich an. Die Kommunistische Partei erwies sich Ende der 1970er Jahre als verlässlicher Verbündeter des Systems und leistete einen aktiven Beitrag zur Niederschlagung der Revolte. (Es ging dabei nicht nur um Terrorbekämpfung: Die Repression betraf nicht in erster Linie bewaffnete Gruppen wie die Roten Brigaden, sondern v.a. auch die Bewegungslinke, wie sie beispielsweise von Toni Negri repräsentiert wurde). Die KPI-Führung begründete ihre Haltung dabei stets mit der Furcht vor einem chilenischen Szenario.

In den 1970er Jahren haben Linke in Europa, aber auch in Chile selbst viele Erklärungen zum Scheitern der Allende-Regierung geliefert. Für die einen war der Putsch der Beweis, dass es ohne leninistische Avantgarde und entschlossene Machtübernahme eben doch nicht gehen kann. Andere äußerten, dass man früher und entschlossener bewaffnete Strukturen hätte gründen müssen. Beiden Analysen ist gemein, dass sie letztlich mehr Führung verlangen.

Auf den ersten Blick scheint das plausibel, doch auf den zweiten halte ich die These für falsch. Die staatssozialistischen Systeme und Organisationen, die solche Probleme ja immer effizient gelöst haben, existieren nicht mehr oder spielen als emanzipatorische Akteure keine Rolle mehr. Im Nachhinein wird deutlich, dass gerade der Mangel an Führung und Avantgarde, der in Chile Anfang der 1970er Jahre zu beobachten war, vielleicht auf etwas Neues verwies.
Klaus Meschkat, von dem ich anfangs erzählt habe, schrieb 1974 über seine Begegnung mit der Selbstorganisierung in Chile: „Es kam auf den Gesichtspunkt an, dass die Arbeiterklasse (...) ihre Autonomie nicht nur in der langfristigen Zielsetzung, sondern auch und vor allem in der Ausbildung neuer Aktions- und Organisationsformen zum Ausdruck bringt. Die Formen des Kampfes sind von seinen Inhalten nicht zu trennen: autonome Organisation der Arbeiter beinhaltet eine antikapitalistische und antibürokratische Stoßrichtung (...) Voraussetzung dafür, dass die organisierte Klasse die Machtfrage stellen kann, ist der Kampf gegen die eigene Bürokratie in der Arbeiterbewegung, die ihre Monopolstellung nur dann behaupten kann, wenn sie die Atomisierung der Basis aufrechterhält – also jenes Prinzip, auf dem sich bürgerliche Demokratie gründet. Bei den Verfechtern der UP-Strategie wurde der Respekt vor den Institutionen der gegebenen Verfassungsordnung, der sich aus taktischen Gründen zuweilen rechtfertigen lässt, oft zu einer durchgängig bestimmenden Grundhaltung, die auch das Verhältnis der Parteispitzen zu der Klasse prägt, die sie vertreten wollen.

Ein dialektisches Verständnis des Verhältnisses von Avantgarde und Klasse, das deren reale Bewegung in den Mittelpunkt rückt, ist einem zurechtgestutzten Leninismus fremd, wie er sich bei „reformistischen“ wie „revolutionären“ Parteien in verschiedenen Varianten auffinden lässt. Nicht zufällig wird in vielen Chile-Analysen marxistisch-leninistischer Parteien und Gruppen (...) festgestellt, es habe dem Proletariat eben an der richtigen Führung gefehlt. Dass das Prinzip der Führung selbst ein Problem impliziert, bleibt im Dunkeln.“
Gerade das Fehlen der Führung, nämlich die Tatsache, dass Demokratie als Ausgangspunkt der Transformation begriffen und die Selbstermächtigung von unten als treibender Motor anerkannt wurde, ist also wahrscheinlich das Zeitgemäße am Chile der Unidad Popular.

In der Solidaritätsbewegung gab es immer Diskussionen darum, ob die Ereignisse eher als Scheitern (selbstverantwortet) oder als Niederlage (die fremdverantwortet ist) zu begreifen sind. In Chile selbst dürfte heute das Gefühl des Scheiterns überwiegen – es ist wenig geblieben, die Erinnerung an die 1960er und 1970er Jahre scheinen im Ausland lebendiger als im Land selbst. Trotzdem würde ich behaupten, dass es sich nicht um ein Scheitern, sondern um eine Niederlage handelt, die Optionen eröffnet. Anders als der Staatssozialismus, der immer gewonnen ha, bis er von innen zerbröselte, hat das Projekt „demokratischer Sozialismus“, verstanden als hegemoniale Bewegung, die die Machtverhältnisse grundlegend verändern will und somit auch auf einen Bruch hinarbeitet, aber die militärische Entscheidung nicht in den Mittelpunkt stellt, nichts an Gültigkeit verloren.

Lateinamerika: Die Rückkehr demokratisch-sozialistischer Politik?
Ich würde das auch vor dem Hintergrund der jüngeren lateinamerikanischen Geschichte behaupten. Der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ macht diskursiv und zum Teil auch symbolisch ja viele Anleihen bei Allendes demokratischem Weg zum Sozialismus.
Dabei sind die Gemeinsamkeiten zunächst kleiner, als man von Europa aus vermuten könnte. Anders als in Chile um 1970 spielt die kritische Intelligenz im „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ heute kaum eine Rolle. Die meisten Intellektuellen sind in Venezuela weit nach rechts geschwenkt; eine echte Transformationsdebatte oder eine politisch-ökonomische Analyse, die der Dependenztheorie der 1960er Jahre vergleichbar wäre, gibt es unter chavistischen Intellektuellen nicht. Auch die populare Selbstorganisierung ist in Venezuela und Bolivien, von Ecuador ganz zu schweigen, schwächer als in Allendes Chile, wo die Arbeiterkoordinationen der cordones industriales wirklich Ausdruck von Klassenmacht waren.

Und doch stimmt, dass man in Venezuela und Bolivien heute an Chile anknüpft. Man versucht, eine politische Hegemonie für ein sozialistisches Projekt zu entwickeln und hat Raum für die Selbstorganisierung von unten geöffnet – oder diesen zumindest, anders als in leninistischen Szenarien, nicht verschlossen. Die Rechte hat darauf mit ganz ähnlichen Mitteln reagiert wie einst in Chile: Sie hat mit Hilfe von Massenmedien, der Hortung von Lebensmitteln, Unternehmer-Lockouts und Kapitalflucht für Verunsicherung gesorgt und mit gezielter, auch gewalttätiger Eskalation ein Klima permanenter Anspannung geschaffen. Durch die Konfrontation mit der Opposition, die letztlich eine andere Klasse repräsentiert, scheint für die linke Transformationsdebatte kaum Platz. Außerdem sind die Eigentums-und Machtverhältnisse nach wie vor kaum angetastet. Die alten Eliten sind in Venezuela und Bolivien geschwächt worden, doch im und beim Staat haben sich neue „sozialistische“ Eliten herausgebildet, deren Klasseninteressen denen der alten recht ähnlich sind. Besonders in Venezuela kann man das beobachten: Militärs und höheres Management schaffen, mittels der Kontrolle von Staatsunternehmen und der Vergabe von Staatsaufträgen, immense Geldbeträge beiseite. Das immerhin war in Chile anders: In drei Jahren blieb kaum Zeit für einen echten Korrumpierungsprozess.

So skeptisch einen das stimmen mag, so bleibt andererseits doch anzuerkennen, dass die südamerikanischen Linksregierungen dem Neoliberalismus eine schwere Niederlage zugefügt haben und das Konzept „demokratischer Sozialismus“ zumindest wieder diskutierbar machen. Es ist gelungen, die Putschversuche (2002 und 2008) abzuwehren, die erstaunliche Parallelen zu den Ereignissen 1971-73 in Chile aufwiesen, dann aber doch auch ganz anders verliefen. Da es kein kommunistisches Lager mehr gibt, agierte Washington in Venezuela 2002 weniger aggressiv als 1973 in Chile. Der venezolanische Putsch wurde unterstützt, solange er in den Massenmedien als demokratisch legitim erschien; als sich dies aufgrund von Massenprotesten änderte, begann Washington zurückhaltender zu agieren. Und in Bolivien 2008 später verlor der rechte Umsturzversuch in dem Moment an Unterstützung, als die UNASUR-Staaten der gewählten Regierung von Evo Morales demonstrativ den Rücken stärkten. Politische Legitimität scheint heute wichtiger zu sein, so offen tyrannisch wie 1973 will man heute nicht vorgehen. Zum anderen geht es auch um weniger als damals: Die Linksregierungen können den Neoliberalismus in Frage stellen, nicht aber den kapitalistischen Weltmarkt.

Die populistische Linke Südamerikas scheint aus dem Putsch 1973 gelernt zu haben: Die Unterstützung der Militärs für das Projekt ist in Venezuela unter Chávez konstituierend gewesen, und in Bolivien ebenfalls von großer Bedeutung. Die politischen Kosten sind allerdings beträchtlich: Viele hochrangige Militärs, die massiver Korruption bezichtigt werden, sind in Venezuela unangetastet geblieben, weil Chávez das Bündnis mit der Armee nicht gefährden wollte. Und in Bolivien garantiert der Sozialist Evo Morales den Folterern der Militärdiktatur weiterhin Straffreiheit, damit niemand auf den Gedanken kommt, sich einem Umsturzversuch anzuschließen.
Der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ hat sich gehalten, weil er Lehren aus Chile gezogen und strategische Bündnisse geschlossen hat. Politisch erfolgreicher war er aber nicht unbedingt. Weder hinsichtlich der Basisorganisation noch der gesellschaftlichen Debatte ist Venezuela heute mit dem Chile der frühen 1970er zu vergleichen – natürlich auch weil sich die internationale Situation völlig verändert hat.

Kapitalismus ohne Demokratie
Was bleibt also vom Chile der Unidad Popular? Für viele Chileninnen und Chilenen ein bitteres Gefühl der Niederlage, der zerstörten Hoffnungen, aber auch die Gewissheit, dass es ganz anders sein könnte. Freunde berichten von der unglaublichen Euphorie und Freude jener Jahre, in der es möglich schien, eine andere Gesellschaft ohne militärischen Zwang aufzubauen. Es bleibt der Schock, dass eine der stärksten Bewegungen der lateinamerikanischen Linken weitgehend ausradiert werden und das ihr folgende neoliberale Modell 40 Jahre Bestand haben konnte. Es bleibt die Erinnerung an den Sieg über die Diktatur, aber auch der Frust darüber, dass der Widerstand, der Pinochet in den 1980er Jahren an die Wand drängte, durch das Referendum gebrochen und danach eine Art Elitenpakt ausgehandelt werden konnte. Die Sozialistische Partei und der MIR – einst wichtige Referenzpunkte in der internationalen Debatte – verloren jede Anziehungskraft. Karrieristen, die im Namen ihrer Organisationen Vereinbarungen mit dem Establishment trafen, sorgten dafür, dass aus der Niederlage wirklich ein Scheitern wurde. Doch immerhin die Studierendenbewegung der letzten Jahre stellt unter Beweis, dass kollektives historisches Wissen nie völlig verschwindet.

International scheint mir die Bilanz positiver. Das Chile der Unidad Popular hat bewiesen, dass es andere Sozialismuskonzepte gab und gibt. Salvador Allende ist ein Symbol dafür, dass es den demokratischen Sozialisten, der über Reformen zu einer anderen Gesellschaft kommen will, wirklich geben kann, dass Sozialdemokratie nicht immer und überall auf eine Anpassung an die Macht hinauslaufen muss. Und das Beispiel Chile zeigt auch, dass es die internationale Solidarität wirklich gibt: Zehntausende wurden privat aufgenommen, außer Landes geschafft, mit Papieren – legalen oder illegalen – versorgt. Das war nicht nur heroisch, das war v.a. menschlich anrührend. Ein Hinweis, dass das abstrakte Wort „Solidarität“ ganz konkret-menschlich etwas mit Empathie, Freundschaft, Liebe zu tun hat. Manchmal auch mit und für Leute, die man gar nicht kennt.

Das Wichtigste und Aktuellste, was vom 11. September 1973 bleibt, ist wahrscheinlich die Erkenntnis, dass Kapitalismus und Demokratie wenig miteinander zu tun haben. Die demokratischen Errungenschaften, die wir heute schätzen, obwohl sie so begrenzt sind, sind das Ergebnis gesellschaftlicher Kämpfen. Der Kapitalismus kann sich der Demokratie sehr schnell entledigen, wenn es nötig wird. Wir erleben die Aktualität dieser Erkenntnis, wenn Angela Merkel von der „marktkonformen Demokratie“ spricht und die europäischen Technokraten ihr Krisenmanagement gegen gesellschaftliche Mehrheiten durchsetzen. Ich denke, dass die Instabilität dieser Verbindung von Demokratie und Kapitalismus etwas ist, worüber wir viel genauer nachdenken sollten. Demokratisierung hat eine starke antikapitalistische Komponente; Sozialismus verstanden als alternatives Projekt einer bedürfnis- (und nicht profit-) orientierten Ökonomie muss ein demokratischer Prozess sein, in dem die Gesellschaft die Kontrolle über Leben, Arbeit, Wohnen, Konsum usw. erlangt.

Trotz des Schreckens, der im Übrigen relativ war – in der kolumbianischen Demokratie sind mehr Oppositionelle verschwunden als in der chilenischen Militärdiktatur –, sollten wir uns bei Chile nicht nur und nicht in erster Linie an die Niederlage erinnern. Chile, das war die Vorwegnahme einer anderen Form von Sozialismus, in der sich reformistische, revolutionäre und die Politik der direkten Aktion miteinander verbanden. Chile, das war kollektive Euphorie und der Beweis, dass sozialistische Politik in erster Linie ein Akt der Freude ist. Chile hat die politische Biografie von Hunderttausenden geprägt, und es liegt an uns, das damals erworbene Wissen nicht zu vergessen.

natter | 10.09.13 14:45 | Permalink