« Freiheit statt Angst 2013 | Hauptseite | Nach Chile »

Erinnerung an einen Film

“Missing” Regie: Constantin Costa-Gavras, 1982

von Angelika Nguyen

Jahrelang hatte ich “Missing” im Kopf.
Die Militärs überall auf den Straßen, die offenen Feuer, eingefangen von einer bewegten Kamera, die bedrohliche Musik, die trockenen einzelnen Schüsse, der nackte Mann, der in den Tunnel gehen muss, der Hauseingang, in dem sich Sissy Spacek während der Ausgangssperre versteckt, das plötzliche weiße Pferd, Leichenberge auf dem Glasdach, Jack Lemmons Gesicht.

Der Film erzählt, wie ein junger Journalist, Charles Horman, US-Amerikaner, ein paar Tage nach dem Militärputsch in Chile verschwindet und wie sein Vater und seine Frau nach ihm suchen. Dabei deckt der Film nach und nach auf, dass die US-Regierung und ihre Geheimdienste und Militärs bei diesem Staatsstreich involviert sind, proportional zur wachsenden Gewissheit um Charlies Tod.

Der Film zeigt die Veränderung der Beziehung des Vaters zu seinem verschwundenen Sohn und seiner Schwiegertochter Beth, die in Chile eine Wahlheimat fanden bis zum Putsch – erzählt den Generationskonflikt auch als politischen Konflikt und wie der ältere Mann lernt, dass die Welt nicht so ist “wie durch die New York Times”.

Mit Gottvertrauen in Recht und Gesetz landet Ed Horman nach 16 Flugstunden am Airport von Santiago de Chile und ist erst mal sauer auf den vermissten Sohn und auf Beth. Für ihn ist klar, dass der Junge irgendwas Rechtswidriges getan hat und Daddy es wieder ausbügeln muss. Beth’ Abneigung gegen die US-Botschaft hält Ed da noch für typische Anti-Establishment-Paranoia. Der Film zeigt die Annäherung der beiden als brisanten, auch zärtlichen Prozess. In den ersten Tagen nach Hormans Ankunft streiten Ed und Beth viel und sind sich keineswegs einig darüber, wie man den Verschwundenen suchen soll. Durch sorgfältig erzählte Details – Charlies Zeichnungen, seine Küchenzettel an Beth, seine ausgedachten Geschichten und Besuche bei Freunden (“Was, Charles hat 18 Stunden hintereinander gearbeitet?”) lernt Ed Horman seinen abwesenden Sohn, den er immer für einen Versager hielt, jetzt erst kennen. Aus der Zweckgemeinschaft mit Beth wächst Nähe und Einsicht in die Welt der Jüngeren. “Ihr liebt euch wohl sehr, ihr Kinder?” So wie Jack Lemmon das sagt, gehört es zu den bewegendsten Momenten des Films. Im Gegenzug verwandelt sich Hormans Freundlichkeit, das zwischenzeitlich sogar Demütige gegenüber US-Behörden (“Ich unterschreibe jede Verschwiegenheitsklausel. Ich will nur meinen Sohn zurück.”) in Misstrauen, Erschöpfung, dann endlich Zorn. Denn da kommt nichts Nettes zurück. “Seien Sie doch ehrlich, Mr. Horman, wenn Sie nicht zufällig in diese Vorgänge verwickelt wären, würden Sie ruhig zu Hause sitzen und sich kein bisschen über diesen Staatsstreich aufregen.” sagt der US-Konsul kaltschnäuzig.
Ed Horman ist aber verwickelt.

Von allen möglichen Gewichtungen der Figuren aus “Missing” hat Costa - Gavras sich für den Weg der Erkenntnis für den unbescholtenen Bibelforscher aus New York City entschieden und mit Jack Lemmon, dem beliebten Komiker der 50iger und 60iger Jahre, kongenial besetzt. Gerade weil Lemmon hier mit derselben Körpersprache agiert wie in “Manche mögens heiß” und “Das Apartment”, bestimmt die Durchschnittlichkeit seiner Horman-Figur den tiefen Ernst dieses Filmstoffes. Unvergesslich der Schmerz in Lemmons Spiel nach dem Anruf, der die Ermordung des Sohnes bestätigt. Als Ed Horman vor seiner Ausreise aus Chile dem US-Konsul sagt: “Ich werde Sie verklagen. Sie und alle, die den Jungen haben sterben lassen.” da glaubt man, dass er Erfolg haben wird. Wenn selbst Jack Lemmon der Kragen platzt, dann siegt das Gute.

Während aber in der letzten Einstellung des Films die Holzkiste mit Charlie Hormans Leiche eindrücklich lange aus dem Frachtraum rollt, wird im Off das Schicksal der Klage von Ed Horman erzählt: sie wurde eingestellt, die Akten als Staatsgeheimnis verschlossen.

Die Geschichte ist authentisch, jahrzehntelang kämpfte Joyce Horman, das Originalvorbild der Beth-Figur, mit ihren Schwiegereltern vergeblich um Aufklärung des Mordes der Junta an ihrem Mann Charles und der Rolle der USA dabei. Ex-Außenminister Henry Kissinger konnte sie nicht mehr sehen.

In beiläufigen Dialogszenen macht “Missing” große Zusammenhänge deutlich. Es ist nur ein kleiner Satz, den Beth im Hotel in Santiago de Chile zu Ed sagt: als er Mitbringsel auspackt und Beth Toilettenartikel aus der Heimat überreicht mit den Worten: “Charles hat gesagt, die sind hier schwer zu bekommen.”, antwortet sie: “Jetzt nicht mehr.” Wochen nach dem Putsch gibt es hier alles zu kaufen, was es zuvor nicht gab – und den Chefs der Vereinigten Staaten ist zu vermelden, dass das Gebiet zurück erobert wurde, eine Demokratie, die ihnen nicht passte, gewaltsam gestürzt und die Zivilbevölkerung geopfert. All das steckt in Beth’ müdem Halbsatz.

Einmal mehr zeigte der griechisch-französische Filmaktivist Constantin Costa-Gavras in seinem akribischen Stil, wie gut das zusammengehen kann: erschütternde Kunst und politische Aufklärung.

1982 schlug der Film in die Kinowelt ein und blieb, vielfach ausgezeichnet, im cineastischen Gedächtnis.

Im Kopf habe ich ihn schon lange, jetzt auch auf DVD.

A.S.H. | 10.09.13 12:53 | Permalink