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Das Schweigen über die Shoa

“Die Wohnung”, Dokumentarfilm von Arnon Goldfinger

Von Angelika Nguyen

Immer wieder sucht der Israeli Arnon Goldfinger im Gesicht seiner Mutter Hannah Gefühle und wendet sich immer wieder enttäuscht ab. “Das berührt mich nicht.” sagt sie zu seinen Fragen und Recherchen um zwei große Rätsel in ihrer Familie: Was hatten seine deutschen Großeltern mit einem hohen Nazi zu tun? Und ist Urgroßmutter Paula Lehmann wirklich in der Shoa ermordet worden?

Dass diese Fragen überhaupt entdeckt werden, verdankt Arnon einem Zufall. Es begann mit dem Tod seiner Großmutter: Die Wohnung in Tel Aviv ist plötzlich verlassen, das Private offenbar. Der Enkel Arnon kommt, um die Wohnung aufzulösen. Staub tanzt im Lichtkegel, Kleiderhaufen, Aktenstapel, alte Fotos. Ein Antiquar kommt, um mit unterhaltsamer Sachkenntnis die Schwarten auszusortieren. Für solche Eindrücke lässt der Film sich Zeit. Aus einem Gemälde schaut Großmutter Gerda jung und ernst herab, ebenso Großvater Kurt ein paar Wände weiter. Er sieht sehr deutsch aus, mit Brille und Anzug. Arnon beschreibt ihn als Zionisten und deutschen Patrioten zugleich. Dazu sind Kurts Eisernen Kreuze zu sehen.

Die deutschen Juden, die “Jekkes”, wie sie in Israel genannt werden, konnten sich, wie es heißt, am wenigsten an ihre neue Heimat gewöhnen, sie waren eben sehr deutsch. “Jewish, but so much German”. Regisseur Arnon erzählt, wie als kleiner Junge immer das Gefühl hatte, nach Deutschland zu kommen, wenn er die Wohnung seiner Großeltern betrat. Bücher, Schallplatten, Zeitungen, Briefe - alles auf Deutsch. Großmutter Gerda lernte nie Hebräisch.

Was der Film behauptet, kann er auch beweisen. Da ist er akribisch. Immer werden die entsprechenden Dokumente sichtbar. Was er nicht herausfindet, bleibt als Rätsel stehen. Davon gibt es in dem Film einige. Am meisten beschäftigt Arnon, ob es eine Freundschaft zwischen seinen verfolgten jüdischen Großeltern und dem SS-Offizier Mildenstein, den Eichmann im Jerusalemer Prozess als seinen Amtsvorgänger bezeichnet, gab. Wie kommen Davidstern und Hakenkreuz zusammen auf dieses eine getippte Blatt in der Wohnung? Diese Frage lässt ihn nicht mehr los. Es ist vielleicht das Berührendste an diesem Film, dass wir den Regisseur selbst auch als Protagonisten erleben, der auf eine Art Befreiung hofft. Befreiung vom Druck jahrzehntelangen Schweigens und Verdrängens in der eigenen Familie.

Für einen Dokumentarfilm ist “Die Wohnung” ungewöhnlich durchgestaltet, So verwendet Goldfinger, der Kurse für Spielfilmscripte gibt, in manchen Sequenzen einen Komödienstil. Der altmodische Kofferstapel zum Beispiel wächst im Zeitraffer-Trick, und einen Spruch seiner Großmutter Gerda (“Komm nie mit leeren Händen irgendwohin.”) baut er zum Stereotyp aus: Besucht er Zeitzeugen, hat Arnon immer einen Blumenstrauß bei sich, den er immer auf dieselbe witzige Weise ins Bild bringt. So exponiert er wichtige, möglicherweise entscheidende Gespräche seiner Spurensuche: mit der Tochter des Nazis Mildenstein, mit Gerdas bester Freundin Gertrud oder einem fernen Cousin in Berlin. Ab irgendeinem Punkt reicht das Bild vom Strauß für einen Lacher. Das löst auch den Druck, bringt Leichtigkeit im Umgang mit dem tödlich ernsten Sujet.

Humor braucht Arnon Goldfinger aber auch persönlich dringend, denn Lösung, vielleicht gar Erlösung sucht er den ganzen Film lang, vornehmlich in den äußerst beherrschten Zügen seiner Mutter Hannah.

Gegen Filmende sind beide auf dem Jüdischen Friedhof in der Herbert-Baum-Straße: Mutter und Sohn, zwei Menschen der jüdischen Diaspora und suchen einen Grabstein. Aber der Dokumentarfilm folgt nicht den dramaturgischen Gesetzen Hollywoods. Wo bleiben die großen Gefühle? Sie bleiben aus. “Das berührt mich nicht.” sagt Hannah schon wieder. Und Arnon sagt: “Das macht mich traurig.”

Damit thematisiert der Film ein Phänomen in Israel und anderswo: den Generationskonflikt in den Familien der Shoa, wie der Mord an den Juden Europas auf Hebräisch heißt, das Schweigen darüber und die Auswirkungen des Schweigens auf die Nachgeborenen.

Und er lässt spüren, dass das blanke physische Entkommen, das bloße Asyl noch keine Errettung sein muss, sondern auch das zur Entrechtung der europäischen Juden gehörte - sie zu zwingen, ihr Vertrautes zu verlassen, ihre kulturelle und sprachliche Identität aufzugeben und in die Fremde zu gehen.

Von Arnons Mutter Hannah, dem jüngsten Verfolgungsopfer der Familie Tuchler, in Berlin geboren und in Israel sozialisiert, ahnt man schließlich, dass es schon viel für sie ist, da irgendwo mit Arnon zwischen Stolpersteinen und Grabsteinen in ihrer Geburtsstadt herumzulaufen.
Auch noch bei diesem Regen.

A.S.H. | 18.06.12 15:34 | Permalink