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Quintessentielle Trivialität: Bloomsday

von Jürgen Schneider

Am Samstag, also am 16. Juni, wird wieder der »Bloomsday« begangen, der nach einem der Hauptprotagonisten des Romans »Ulysses« aus der Feder des irischen Schriftstellers James Joyce benannt ist: dem Pflastertreter Leopold Bloom. Nicht nur von Literaturwissenschaftlern, auch bei Publikumsumfragen wird »Ulysses« gern als der bedeutendste Roman des 20. Jahrhunderts eingestuft. Dennoch scheinen viele Leser Berührungsängste vor einem vielschichtigen Epos zu haben, dessen Sinn sich vorgeblich erst nach jahrelangem Studium erschließt. Weltweit sind ungezählte Gelehrte mit der professionellen Entschlüsselung dieser ins Universelle gesteigerten Dubliner Odyssee befasst. Dabei wird – bei allen unterschiedlichen Ausdeutungen – »Ulysses« primär vor einer homerischen Folie gelesen. Die vielfachen Parallelen und Korrespondenzen drohen andere Bezüge zu unterschlagen. Nicht weniger bedeutsam ist nämlich die Annahme, dass in »Ulysses« auch der irische literarische Diskurs zu einem geheimen Subtext geworden ist, für den Joyce keinen Schlüssel geliefert hat. Als ebenso mythische Determinanten hinter den Wanderungen Blooms dienten altirische »imramha«, Geschichten von See- und Reiseabenteuern. Nach dieser Interpretation ist Bloom sowohl griechischer Held als auch irischer Milesier. Die hyperpenible topographische Präzision verweist auf die Faszination, die in der irischen Literatur dem konkreten Ort und seiner Namensgebung zukommt.

Zweifellos hat die internationale Joyce-Industrie, ein veritables Dechiffriersyndikat mit uneingeschränkter Deutungshoheit, zu einem tieferen Verständnis des Romans beigetragen, zugleich aber den Mythos von dessen Unverständlichkeit mitbefördert. Umgekehrt ist der Autor längst für literaturfremde Zwecke vereinnahmt worden – ein für die Strategen des irischen Fremdenverkehrs unverzichtbarer Touristenmagnet. Dasselbe Dublin, dem Joyce im Jahre 1904 aus Überdruss an der »Stadt des Versagens, der Ranküne und der Unglückseligkeit« (Joyce an Nora Barnacle, 22. 8. 1909) den Rücken kehrte, begeht jenen denkwürdigen 16. Juni, an dem die Romanhandlung spielt, mit Kostümklamauk und einem dem Karneval ähnlichen Spektakel. Der »Bloomsday« ist längst von der Eventkultur vereinnahmt und drauf und dran, dem irischen Nationalfeiertag zu Ehren des heiligen Patrick den Rang abzulaufen. Von den einen als Vulgarisierung und Trivialisierung eines sakrosankten Kunstwerks beklagt, gilt anderen die Feier des längsten Tages der Weltliteratur als Beweis für die Wirkmächtigkeit literarischer Imagination. Mag sein, dass ein Roman von »quintessentieller Trivialität« der dem heroischen Abenteuer des modernen Alltagslebens bis in die feinsten Verästelungen nachspürt, zu einer Ver-Wirklichung von Fiktion geradezu einlädt.

Der erste Bloomsday fand 1954 in Dublin statt. Mit dabei waren u. a. der Dichter Patrick Kavanagh und der Schriftsteller Flann O’Brien. Der irische Senator David Norris weiß zu berichten, dass schon dieser erste Bloomsday aus der literarischen Bahn geriet: »Sittsam und zivilisiert ging es los, doch auf dem Weg zu ihrem Bestimmungsort kamen sie an so vielen Pubs vorbei, dass sie schließlich kaum noch stehen konnten.« Endlich angelangt beim Martello Tower in Sandycove, in dem die erste Episode des »Ulysses« angesiedelt ist und der Protagonist gegen die englische Herrschaft in Irland auftritt, »gipfelte das Ganze schließlich darin, dass sich Kavanagh und O’Brien aus Versehen gegenseitig anpinkelten.«

An diesem Bloomsday will sich das Irish Writers’ Centre zu Dublin mit einer 28-stündigen Lesung von 111 Autor/innen, darunter auch der Literaturnobelpreisträger Seamus Heaney, einen Eintrag in das »Guinness-Buch der Rekorde sichern«. Der Lesemarathon nimmt bereits am 15.06. um zehn Uhr mit einer Einführung von Senator David Norris seinen Anfang. Er wird per Livestream zu erleben sein (www.writerscentre.ie).

Norris ist am 15.06. auch in dem Hörspiel »Anna Livia Plurabelle« von Grace Yoon zu hören, das vom Kulturradio rbb ab 22 Uhr 04 ausgestrahlt wird. Anna Livia Plurabelle begegnet uns nicht im »Ulysses«, sondern in dem 1939 erschienenen Opus »Finnegans Wake«. In diesem polyphonen und polymorphen Joyce’schen Werk verselbständigt sich das Wort zum musikalischen, zum magischen Klang eines aus den unterschiedlichsten Sprachen zusammengesetzten anspielungsreichen Kunstidioms.

Hierzulande ist die Begehung des Bloomsday ebenfalls seit einigen Jahren en vogue. In diesem Jahr ist der Bloomsday vor allem »radio day«. Nach fast 100 Aufnahmetagen mit 37 Schauspielern sendet SWR2 das Hörspiel »Ulysses« am 16. Juni an einem Stück von 8.03 Uhr bis 6 Uhr am 17. Juni, unterbrochen durch Einführungen und Zusammenfassungen. Die Kapitel 1 bis 7 sind ab 20.05 Uhr auch im Deutschlandfunk zu hören. Für die Hörspielfassung zeichnet der Regisseur und Komponist Klaus Buhlert verantwortlich, der stark auf die Homerschen Parallelen setzt. Zu seinem Ensemble zählen u. a. Dietmar Bär, Corinna Harfouch, Jens Harzer, Hans-Werner Meyer, Birgit Minichmayr, Milan Peschel, Anna Thalbach, Thomas Thieme, Werner Wölbern, Manfred Zapatka. Das Hörspiel erscheint am Bloomsday beim Hörverlag in einer Kassette mit 23 CDs oder 4 CDs im Format mp3. Wer nicht alleine vor dem Radio sitzen möchte, kann sich am Samstag um 7 Uhr 45 in die Hörlounge des ARD-Hauptstadtstudio (Berlin, Wilhelmstraße 67A) zum Public Listening begeben. Ab 15 Uhr wird im Hauptstadtstudio dann mit dem Joyce-Kenner Klaus Reichert, dem Regisseur sowie einigen seiner Sprecher/innen über das Hörspiel »Ulysses« diskutiert. Es moderiert Denis Scheck. Das ist der TV-Lesemann, der nur fundiert Inhaltliches absondert, wie etwa: »Ein gutes Buch«. Oder: »Ein sehr zu empfehlendes Buch«. Wem dann Joyce nicht verleidet ist und wer in Köln oder um Köln herum lebt, möge am Mittwoch, den 20.06. ab 19 Uhr 30, in der domstädtischen Lengfeld’schen Buchhandlung Friedhelm Rathjen lauschen, der das Joyce’sche Werk »A Portrait of the Artist as a Young Man« für den Manesse Verlag neu ins Deutsche übertragen hat. In »A Portrait ...« äußert Joyce erstmals Gedanken, die auf den irischen, bei ihm bis zum Exzess getriebenen Impuls verweisen, sich innerhalb der englischen Sprache von der englischen Sprache zu entfernen, mit ihr zu jonglieren und zu experimentieren, sie zu sprengen – die Rache des kleinen Iren am großen Empire.

A.S.H. | 14.06.12 13:04 | Permalink