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Eine Geschichte um Lüge und Wahrheit - “Nader und Simin” von Asghar Farhadi

Von Angelika Nguyen

Auf der Berlinale 2011 machte dieser iranische Film Furore und bekam den Goldenen Bären. Da gleichzeitig dem Kollegen und Landsmann von Asghar Farhadi, Regisseur Jafar Panahi, als berufenem Mitglied der Berlinale-Jury die Ausreise aus dem Iran verweigert worden war, lag die Vermutung einer politischen Entscheidung nahe.
Wer den Film jedoch sieht, ist überrascht von der Privatheit und psychologischen Sorgfalt der Geschichte.

Das Ehepaar Nader und Simin sitzt zur Anhörung vor dem Scheidungsrichter. Simin will die Scheidung, da sie das Land mit Tochter Termeh verlassen will und ihr Ausreisevisum in 40 Tagen abläuft. Sie findet, Nader müsse mitkommen. Nader aber argumentiert, dass er seinen alten demenzkranken Vater nicht verlassen könne.
Der Richter schließlich verweigert die Scheidung, da Nader objektiv keine Gründe dafür liefert. Zerrüttet wirkt die Beziehung der beiden nicht, vielmehr scheint Simins Scheidungswunsch eine pragmatische Entscheidung zu sein.
Simin zieht unter diesen Umständen zu ihren Eltern zurück. Termeh bleibt in ihrer vertrauten Umgebung beim Vater. Damit beginnt eine verwickelte, multiperspektivische, kanonische Geschichte, die zu erzählen gar nicht so einfach ist. Aufmerksam für Details inszeniert der Regisseur zunächst den ersten Arbeitstag der von Nader nun zur Vaterpflege engagierten Razieh. Die schwangere Razieh bringt ihre Tochter Somayeh mit.
Völlig ungewohnt ist ihr die Altenpflege, aber sie braucht das Geld, weil Hodjat, ihr Mann, gerade seine Arbeit als Schuster verloren und einen Haufen Schulden hat. Höhepunkt der Schwierigkeiten ist Raziehs religiöser Konflikt, als Naders Vater sich eingenässt hat und auf ihre Aufforderung, seine Sachen zu wechseln, nicht reagiert. Telefonisch fragt Razieh ihren Imam um Rat, ob sie einen alten kranken Mann zum Wäschewechsel ausziehen darf. Der Job gefällt ihr gar nicht.
Geduldig erzählt der Regisseur alle Nöte seiner Protagonistin und vergisst auch die Töchter nicht, deren Reaktionen er immer wieder zeigt. Sozialer Alltag gerät bei Asghar Farhadi zur spannenden Angelegenheit. Noch spannender wird es, als der Alte aus der Wohnung verschwindet und Razieh ihn suchen muss. Zur entscheidenden Dramatisierung kommt es, als Nader an Raziehs drittem Arbeitstag überraschend nach Hause kommt und seinen Vater allein in der Wohnung vorfindet. Das eskaliert. Nader will Razieh rauswerfen und schubst sie aus der Wohnung.
Nach einer Fehlgeburt Raziehs landen schließlich alle vor Gericht: Razieh und Hodjat, der schnell aufbrausend ist und Nader als “Mörder” seines Kindes körperlich angreift, und Nader und Simin, das nicht geschiedene Ehepaar. Angeklagt ist Nader, der die Rauswurf-Szene wiederum mit der Gefährdung seines kranken Vaters begründet. Jetzt geht es um die Wahrheit vor Gericht. Ist Nader verantwortlich für die Fehlgeburt? Oder war alles ganz anders?
Das deckt der Film im zweiten Teil auf. Es gibt verborgene Ereignisse, auch wenn man glaubt, man sei dabei gewesen.
Geld, Schulden, Religion, Altenpflege, Irans Staatspolitik, Scheidung, Ausreise, Gefühle von Kindern inmitten der Konflikte der Erwachsenen, iranische Gerichtsarbeit - all das sind Themen, die der Film anspricht. Es sind die Themen, die die Menschen im iranischen Alltag bewegen. Dabei wird Farhadi zwar auch politisch, aber niemals demonstrativ.
“Statt politischer Pamphlete bevorzuge ich Subtilität”, antwortete Farhadi auf Versuche deutscher Journalisten, ihn politisch zu vereinnahmen. Er kritisiert das westliche Bild von der muslimischen Frau. “Alle denken immer, sie seien passiv, ans Haus gebunden und weit entfernt von sozialen Aktivitäten (…), aber im Allgemeinen sind Frauen gesellschaftlich sehr präsent und aktiv, und zwar in einer viel offeneren Art als die Männer.”
Das zeigt auch Farhadis Film: Simin und Razieh, aus ganz unterschiedlichen sozialen Schichten kommend, sind beide die treibenden Kräfte des Films.
Mitten in einer Szene endet der Film. Farhadi mag es, wenn das Publikum mit Fragen das Kino verlässt. Das ist ihm gelungen.

natter | 14.07.11 22:16 | Permalink