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Kühler Blick auf Atomkraft

“Unter Kontrolle”, Dokumentarfilm von Volker Sattel

“Tschernobyl hat uns das Genick gebrochen”, sagt der Wachmann des still gelegten Brüters Kalkar mit tragischem Gesicht. Fast möchte man mit ihm weinen. Die atomare Verheißung der 1950iger Jahre, die saubere Utopie der Zukunft - jetzt ist sie futsch.

Der Film erzählt eine kleine Historie der deutschen Kernenergie auf besondere Art, nämlich ohne Polemik.

Regisseur Volker Sattel, zugleich auch Kameramann, erkundet die Atomkraftwerke räumlich, architektonisch, technisch und lässt diese Eindrücke auf uns wirken. Angesichts der ganz realen Kernschmelze im japanischen Atomkraftwerk Fukushima nach dem Tsunami und der eilig verfügten Aussetzung des Ausstiegs aus dem Ausstieg durch die Union-FDP-Regierung ist dieser Film hochaktuell, aber auch zeitlos. Nüchtern nimmt er aus dem Thema jede Leidenschaft heraus und macht eine vor allem visuelle Bestandsaufnahme. Was war, was ist und was wird sein?

Er zeigt in Echtzeit Betriebsabläufe, das langwierige Herunterlassen der Brennstäbe, die Duschen der Belegschaft, Dekontaminierungsschleusen, Hakenleisten für gebrauchte Mäntel, Betriebsversammlungen und die Atomkuppel von innen, besucht die gespenstische Investitionsruine und den seltsamen Rummelplatz von Kalkar.
Still und aufmerksam fährt die Kamera die Ausmaße der Atomkraftwerke ab. Durch diese filmische Unvoreingenommenheit bekommen wir eine Ahnung davon, wie alles begann: gigantisch, selbstbewusst, optimistisch.

Auch die Fasziniertheit des Regisseurs von der Architektur und Technologie der Atomkraftwerke und sein Respekt vor den Mitarbeitern der AKWs bestimmen den Film.

Aber wer kann heute noch im Ernst behaupten, Atomkraft sei sicher, sauber, zukunftsträchtig? Höchstens die Atomindustrie selbst. Und indem Mitarbeiter im Film ihren Standpunkt erläutern, setzen sie sich ganz allein dem Spott und besseren Wissen des Publikums aus. Diese Selbstdarstellung nutzte Sattel konzeptionell und kommt dabei ohne jeden verbalen Kommentar aus. Das ist subtil und erzeugt mehr als einen Lacher.
So erschließt sich am Ende der Filmtitel in dreifacher Bedeutung: Unter strenger Kontrolle fanden die Dreharbeiten statt, unter Kontrolle wähnen noch immer Beschäftigte und Fürsprecher der Atomindustrie die Radioaktivität und “Unter Kontrolle” schließlich als ironischer Kommentar, denn gerade die erwiesene Unkontrollierbarkeit der Atomenergie macht sie zur größten Zeitbombe der Geschichte.

Eigene Skepsis teilt uns der Regisseur still mit, beispielsweise über das intensive Gefühl der Beklemmung, das die Kamera minutenlang in 600 Meter Tiefe im unterirdischen Endlager Morsleben erzeugt.

Der Film ist auch Dokument. Er fängt die öffentliche Unaufgeregtheit in den Jahren 2008 bis 2010 vor Fukushima ein, die seltsame Normalität, mit der Atomkraftwerke in Deutschlands Landschaften gehörten. Es bedurfte der Katastrophe von Fukushima, damit die Ablehnung des enormen Risikos von Atomkraft aus der Protestbewegung in die Mitte der Gesellschaft gelangt und heute sich mehr Menschen für den Film interessieren als noch zur Berlinale.
Im Film ist oft die Atomkuppel zu sehen, das Symbol für Atomkraftwerke. In ihrer geometrischen Geschlossenheit wirkt sie geradezu konspirativ. Das passt zur Aussage eines Mitarbeiters im Film, eine Art AKW-Credo: “Was hier drinnen ist, bleibt auch drinnen.”
Jetzt ist es draußen.

Angelika Nguyen

A.S.H. | 27.05.11 15:51 | Permalink