« Kühler Blick auf Atomkraft | Hauptseite | Neulich in der Belforter »

Anmerkungen zu den Gedanken von Michael Beleites nach seiner 10-jährigen Amtszeit als sächsischer Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen

Die Zeitschrift zur kritischen Aufarbeitung der SED-Diktatur „Horch und Guck“ des Bürgerkomitees 15. Januar hat in der Diskussions-Rubrik „aktuell und kontrovers“ ihres diesjährigen März-Heftes einen Beitrag von Michael Beleites zum Stand der Geschichtsaufarbeitung veröffentlicht:

http://www.horch-und-guck.info/hug/archiv/2010-2011/heft-71/07117/

Leider war die Redaktion von „Horch und Guck“ nicht imstande, in ihrer aktuellen Ausgabe eine Wortmeldung dazu von Thomas Klein unterzubringen. Wir springen ein und veröffentlichen seinen Diskussionsbeitrag an dieser Stelle:

Die gegenwärtigen Verhältnisse nicht aus dem Blick verlieren

Anmerkungen zu den Gedanken von Michael Beleites nach seiner 10-jährigen Amtszeit als sächsischer Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen

Von Thomas Klein

Alltäglich kann es nicht genannt werden, wenn ehemalige Amtsträger von Bundes- oder Landesbehörden Zweifel am normierten Gang der Dinge äußern, deren Verwaltung ihnen oblag. Noch unüblicher ist dies, wenn sie noch im Amt sind. Weil (wie immer) Ausnahmen die Regel bestätigen, hat jüngst der scheidende sächsische Landesbeauftragte für die Unterlagen der DDR-Staatssicherheit in seiner Bilanz zur „Geschichtsaufarbeitung“ solche Zweifel geäußert.[1] Dabei hat Michael Beleites lediglich Unbehagen hinsichtlich einiger Sachverhalte verbalisiert, die weithin bekannt sind, aber aus wohlverstandenen Gründen kaum diskutiert werden – gerade dort nicht, wo ihre Entstehung hauptsächlich verantwortet werden muss.

Michael Beleites war nach eigenem Bekunden vor 10 Jahren dem Ruf in ein solches Amt entgegen eigener Bedenken unter anderem deshalb gefolgt, um die Auseinandersetzung mit der DDR-Staatssicherheit nicht allein denen zu überlassen, die sich „als alte und neue Karrieristen der Aufarbeitungsinstitutionen bemächtigen, um dort nicht für, sondern in erster Linie von der Aufarbeitung zu leben“[2]. Dieses ehrenwerte Motiv verdient es, die Frage nach der Erfolgsbilanz solcher Anstrengungen aufzuwerfen. Einige Kriterien für die Aufstellung einer solchen Bilanz hat Beleites mittelbar in seinem Text selbst formuliert: Wie steht es mit der Bereitschaft von Geschichtswissenschaftlern und Publizisten, jenseits des Konjunkturkatalogs der Themen von „Jahrestage-Historikern“ und „Kalenderblatt-Journalisten“[3] auch kontroverse Themen der deutschen Nachkriegsgeschichte ins Blickfeld zu holen? Wie ist es um die Resonanz solcher Versuche bestellt? Wie realitätsnah ist das heutige dominante Geschichtsbild von der Verfasstheit damaliger oppositioneller Strömungen in der DDR? Welchen Zielen dienen die geschichtspolitischen Inszenierungen staatsnaher zeitgenössischer Aufarbeitungsbehörden?

Michael Beleites konstatiert, dass mit dem enormen Überwältigungsaufwand der behördlichen Aufarbeitungsmaschine bei ihrer geschichtspädagogischen Öffentlichkeitsarbeit durchaus auch das publizistische Beschweigen gewisser historischer Ereignisse einher gehen kann, „wenn es den Redaktionen und politischen Meinungsmachern nicht gefällt“[4]. Ergänzend ist hier anzumerken, dass speziell hinsichtlich der Geschichte von Opposition und Widerstand in der DDR jede Menge solcher Defizite zu vermelden ist. So finden sich heute im subventionierten Erinnerungsbetrieb beispielsweise kaum Hinweise auf die DDR-weite Aktionswoche gegen die Westberliner IWF/Weltbank-Tagung 1988. Diese Aktionswoche wurde von den oppositionellen Gruppen zeitgleich mit der Westberliner Parallelkampagne und in Kooperation mit diversen Westberliner NGO´s sowie anderen linken außerparlamentarischen Vereinigungen organisiert und gipfelte in der „Potsdamer Erklärung“ der DDR-Opposition. Solche Defizite sind keineswegs zufällig – nicht allein die kapitalismuskritische Ausrichtung der DDR-Opposition, sondern auch deren Ablehnung wachstumsfetischistischen Ökonomismus in Ost und West passen nicht so recht in das heutige Credo von Marktlogik und fortwährender wirtschaftlicher Expansion. Beleites bezeichnet in seinem Beitrag die damaligen Zielhorizonte etwa der DDR-Ökologie- und Anti-AKW-Bewegung völlig zu Recht als keineswegs erledigt. Mehr noch: Seine bittere Bilanz hinsichtlich des Wachstumsdiskurses und seines Appells, „die Zukunftsfragen nicht aus dem Blick [zu] verlieren“, lautet nach 20 Jahren deutscher Einheit: „Dass es tabufreie Gesprächsräume und interessierte Gesprächspartner über solche Fragen hier und heute weniger gibt, als in der DDR der 80er Jahre, stimmt mich nachdenklich.“[5] Doch seine Defizit-Bilanz kann noch viel weiter fortgeschrieben werden - gerade in Hinblick auf sehr gegenwärtige Widersprüche: Auch die damaligen oppositionellen Diskurse um die Hemmnisse für die Herbeiführung einer „gerechten Weltwirtschaftsordnung“, um die Ursachen (und Verursacher) der „Schuldenkrise“ in den 80er Jahren und um den interessengeleiteten Relativismus in der Menschenrechtsfrage während der Blockkonfrontation griffen weit über damals Bestehendes und auch heute Fortexistierendes hinaus. Nicht allein die blockübergreifende Friedensbewegung, sondern die DDR-Opposition in Gänze verweigerte sich einem Bekenntnis für einen der Systemkonkurrenten, sondern folgte (wie damals auch ihre Bündnispartner im Westen) eher der doppelt zugewidmeten Einsicht „Das System ist der Fehler“.
Die damals utopisch anmutende oppositionelle Maxime von einem „dritten Weg“ jenseits von Stalinismus und Kapitalismus (nennen wir ihn „demokratischer Sozialismus“) scheint heute noch utopischer zu sein. Und an dieser Stelle attackiert Beleites die direkte oder indirekte retrospektive Verzeichnung der Herbstrevolution von 1989 als „utopiefreie Revolution“ durch einige Zeithistoriker (Neubert, Schröder, Kowalczuk).[6] Nun mag ja mancher Beobachter die mehrheitliche Entscheidung der DDR-Bürger vom März 1990 für die Ausreise des ganzen Landes in den Westen als realitätstüchtige Utopieverweigerung klassifizieren und sie gleichzeitig als „alternativlos“ (Merkel) anerkennen. Dann sollte man aber auf die veritable Differenz zwischen den Interessen der Bevölkerungsmehrheit und den mehrheitlichen Vorstellungen der Opposition hinweisen, welcher eine solche „Ausreise“ als Zukunft des Landes keineswegs vorschwebte. Ihre Leitbilder fußten auf einer systemübergreifenden Kritik an den Paradigmen einer wachstumsfixierten industriellen Moderne, an der Degradierung des Menschen zu entmündigten Produzenten in der „Megamaschine“ und ihrer Einzäunung als scheinfreie Konsumenten. Die Vorstellung von einer revolutionären Lösung solcher Widersprüche wies erhebliches utopisches Potential auf. Die kleinen oppositionellen Gruppen und die ersten Demonstranten des Herbstes 1989 waren quasi als utopiegeleitete Schrittmacher der anhebenden Herbstrevolution „Zündkerzen“ für ein „revolutionäres Gemisch“, das aber mit der Zeit seine Zusammensetzung erheblich verändert hat. Mit dem Wandel der historischen Situation wollte die Bevölkerung 1990 schließlich mehrheitlich vor allem Versorgungssicherheit, Reisefreiheit und angemessenen Wohlstand. Dies schien auf dem Wege der Wiedervereinigung unverzüglich erreichbar. Das Problem ist aber nicht, dass die ausgehende Herbstrevolution von manchen Zeithistorikern einfach zur „utopiefreien Revolution“ erklärt wird. Das wirkliche Problem ist eines, auf das Beleites dann doch noch verweist: Je stärker sich der beobachtende Zeithistoriker mit jener Sicht auf den Charakter der Herbstrevolution als alternativloser Utopieverweigerung identifiziert, um so ausgeprägter scheint seine Bereitschaft, dass er auch die „Vorwendezeit“ mitsamt der ganzen DDR-Opposition rückblickend „ein[…]taucht in die Farben der weitreichenden Alternativlosigkeit der Nachwendezeit“ und damit „die inhaltlichen Ansätze der DDR-Opposition im Nachhinein ab[…]wertet oder – zumindest indirekt – für erledigt bzw. für irrelevant erklärt“[7]. Mit Behauptungen wie der, dass die Ziele der DDR-Opposition heute im neuen Deutschland eingelöst seien, hatte sich schon vor über zehn Jahren der damals noch amtierende Behördenleiter Joachim Gauck den Protest etlicher Alt-Oppositioneller eingefangen. [8] Seither kreist die Frage im Raum, ob die Fähigkeit, Missstände als solche zu erkennen und die Bereitschaft, gegen sie anzugehen oder sie wenigstens zu benennen, auch bei oppositionell sozialisierten Akteuren abnimmt, je mehr ihre Staatsnähe zunimmt.

Und da wären wir auch schon bei den geschichtspolitischen Anstrengungen des „Gedenk- und Aufarbeitungskartells“ - im Wesentlichen die Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur und die Einrichtungen des Bundesbeauftragten und der Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen. Sie sind wohl auch gemeint, wenn Michael Beleites von einer politischen Bildung spricht, „die Diktaturgeschichte deswegen vermittelt, um die Demokratie zu legitimieren“[9]. Sich diesem Dualismus zu verweigern, empfiehlt Beleites mit Hinweis auf eben jenen Teil der DDR-Opposition, der den „Dritten Weg“ beschreiten wollte und an dessen Diskurse anzuknüpfen er vorschlägt. Doch auch Beleites kommt nicht ohne Konzession an den reaktionären Zeitgeist aus: Er insistiert darauf, dass diese Suche nach dem dritten Weg „ja völlig zu Unrecht pauschal als `pro-sozialistisch` diffamiert“ werde. Keine Frage – heute eignen sich Begriffe wie „sozialistisch“ oder gar „kommunistisch“ gut zur politischen Diskreditierung des damit – zumeist willkürlich – belegten Inhalts. Und die politisch alternativen Gruppen in der DDR der 80er Jahre waren längst nicht mehr als die stringent linksoppositionell kenntlichen, zumeist konspirativ arbeitenden Programmgruppen der 70er Jahre tätig. Doch wer die Programmpapiere und Verlautbarungen der 80er-Jahre-Gruppen betrachtet, wird dort Positionierungen finden, die am ehesten libertär-sozialistische Züge aufweisen – ob nun in christlicher, marxistischer, anarchistischer oder sonstiger Ausprägung. Und damals war der Begriff „demokratischer Sozialismus“ eine verbale Kampfansage an den real existierenden Politbürokratismus und den historischen Stalinismus – also gemeinhin in der Opposition positiv besetzt. Sich jetzt um des Zeitgeistes willen selbst von diesem Attribut zu distanzieren und dies auch im Namen der damaligen Akteure zu tun, ist opportunistisch und zeithistorisch verfehlt.

Überhaupt: Von einem Mangel an abenteuerlichen retrospektiven Umdeutungen der Positionierungen und der Selbstlegitimation dieser kleinen oppositionellen Gruppen kann gegenwärtig nicht die Rede sein. Jenseits plumper Fälschungen der jüngeren DDR-Oppositionsgeschichte durch Verdrehung ihrer Realgeschichte und ihre Umetikettierung zu Wegbereitern der Wiedervereinigung fand in den 90er Jahren ein absurdes Duell innerhalb der totalitarismustheoretisch geprägten Historikergilde als „kleiner Historikerstreit“[10] statt. Er tobte zwischen jenen, die der DDR-Opposition wegen ihrer „sozialistischen Flausen“ die „Demokratiefähigkeit“ (natürlich im Sinne gegenwärtiger bundesrepublikanischer Lesart) und somit auch gleich die Zuschreibung „Opposition“ absprachen und nur noch Dissidenz zu erkennen vermochten (Martin Jander oder Christian Joppke) und jenen, die sich in der Ehrenrettung dieser Opposition versuchten, indem sie wiederum deren sozialistische Attribute herunterspielten, um sie so besser in den Kanon heutiger gesamtdeutscher Gesellschaftlichkeit eingemeinden zu können. Historiker wie Christof Geisel, denen diese Falschmünzerei auffielen, konnten sich mit ihrer Lesart von einer „Opposition auf der Suche nach dem dritten Weg“[11] der Schelte beider Fraktionen sicher sein.

Nun wird man bei nüchterner Betrachtung der wirklich vorsichtig formulierten Bilanz von Michael Beleites nur zum Ergebnis kommen können, dass diese ziemlich katastrophal ausfällt. Soweit es die von Beleites angesprochenen „Behörden“ und ihre Mitarbeiter betrifft, dürften diese schon „von Amts wegen“ mehrheitlich einer solchen Bilanz widersprechen – erst recht, wenn sie selbst mit ihrer Amtsführung zu dem Desaster beigetragen haben und es deshalb gerne leugnen möchten. Doch was heißt hier Desaster? Bei gleicher nüchterner Betrachtung stellt sich nämlich aus dem „Behördenblickwinkel“ heraus, dass die Sache mit der „Aufarbeitung“ so schlecht nicht läuft. Die Institutionen produzieren Lawinen von geschichtspolitischen „Events“, denen die Problematisierung von Konfliktstoffen eher fremd ist und in denen vorwiegend die Vermittlung der staatspolitisch „richtigen Botschaft“ betrieben wird. Die behördliche Genugtuung, welche solches Tun begleitet, ist uns auch noch aus früheren Zeiten bekannt und kann durch etwa wachsenden Unmut der „Konsumenten“ nicht wirklich gebremst werden. Es kommt also auf den „Blickwinkel“ an – und von dem muss bei jedem Werturteil auch immer die Rede sein. Beschränken wir uns hier also – außer auf den erwähnten „Behördenblickwinkel“ – auf den Blickwinkel derer, die als Zeitzeugen und damalige politische Akteure Gegenstand der Untersuchungen von Zeithistorikern sind und auf die Perspektive der Zeithistoriker selbst. Dabei wissen wir alle, dass hier angesprochene Akteure mitunter eine Doppelrolle spielen und oft sogar in dreifacher Zuordnung aktiv sind, was stets zu possierlichen Interessenkollisionen und mitunter zu Wertungs- und Wahrnehmungsverschiebungen führt. Hinzu kommt, dass jene Akteure zumeist auch heute politisch geleitete Personen sind. Der Autor dieses Textes will sich hier nicht ausnehmen. Versuchen wir es also trotzdem.


„Vor allem aber achtet scharf, dass man hier alles dürfen darf“[12]


Die Erwartungen an die von Beleites angesprochenen „Behörden“ sollten von vornherein niedrig gehalten werden: Sie sind an ihren Verkündigungsauftrag gebunden, der staatspolitischen Correctness verpflichtet und risikoscheu. Mitarbeiter leben dort am ruhigsten, wenn sie deren Geist verinnerlichen. Diese Institutionen erringen, nicht zuletzt mit ihrer Ressourcenausstattung, gesellschaftliche Deutungshoheit und produzieren konforme begriffliche Definitionsmacht. An dieser Produktion sind vermehrt auch ehemalige Akteure der DDR-Opposition verantwortlich beteiligt. Der Konformitätsdruck auf Historiker an universitären oder außeruniversitären wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen ist geringer; in ihrer Mehrheit sind sie aber ständig auf der Jagd nach Fördergeldern und getrieben von der Frage: Was mag den potentiellen Förderer wohl geneigt stimmen?

Schließlich gibt es noch die unabhängigen Archive, Begegnungsstätten und Vereine, welche ehedem im Umfeld der oppositionellen Vereinigungen entstanden. Sie haben in den 90er Jahren mit Verve ihre Unabhängigkeit zu verteidigen versucht und sich ihrer „Verstaatlichung“ zu erwehren verstanden. Doch auch sie sind von der Gewährung von Fördergeldern abhängig. Wohin das führen kann, ist am Beispiel der Havemann-Gesellschaft zu besichtigen. Sie wird fast nur noch im Gespann mit Institutionen des Gedenkkartells öffentlich wahrnehmbar und tritt kaum noch eigenständig mit authentischen Sichtweisen jenseits des Mainstreams in Erscheinung, für deren Vermittlung es mehr als genug Veranlassung gäbe. Sie betreibt die Verstetigung ihrer Existenz praktisch durch ihre freiwillige „Verstaatlichung“. Ein anderes Beispiel ist die Zeitschrift „Horch und Guck“ des Bürgerkomitees 15. Januar. In dieser Zeitschrift zur Geheimdienst- und Gesellschaftsgeschichte der DDR fanden sich bis 2007 ganz im Geiste der alten DDR-Opposition auch Beiträge zu zeitgenössischen Umtrieben von Geheimdiensten, Militär und in der aktuellen Politik, bis die fördernde „Stiftung Aufarbeitung“ ein solches Profil als nicht mehr förderwürdig erkannte. Mit ihrem Neustart verzichtet die (nunmehr wieder geförderte) Zeitschrift nun auch weitgehend auf solche Themen. Zuvor konnte man sich hier auch über aktuelle Wortmeldungen aus Kreisen der alten DDR-Opposition informieren, die sich etwa gegen den heutigen Ausbau des Überwachungsstaates richteten („Wir haben es satt“, 2001), zeitgenössischen Militarismus thematisierten oder sich mit den Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV solidarisierten. Die Abgrenzung von solchen Bekundungen aus dem Kreis der DDR-„Alt-Opposition“ kam vorwiegend von jenen, die selbst über Parteien oder Institutionen duldend oder mitgestaltend in den Gegenstand der Proteste verwickelt waren. Hier bereits schieden sich die Geister auch in diesem Milieu. Sichtbar wurde dies besonders, als 2007 – just zum gefeierten Jahrestag des (gescheiterten) Überfalls der Stasi auf die Redaktion der Umweltblätter 1987 – auch Mitarbeiter ihrer Nachfolgezeitschrift „telegraph“ (vergeblich) von der Bundesanwaltschaft mit absurden Ermittlungsverfahren (eines davon verbunden mit Haft) überzogen wurden. Während die altoppositionelle Feiergemeinde dies mit dröhnendem Schweigen begleitete, gab es aus Kreisen der „von Natur aus“ äußerst vorsichtigen Wissenschaftlergilde geharnischte Proteste.

Was ist also noch übrig vom Geist DDR-oppositionellen Denkens in den Poren der bundesdeutschen Gesellschaft? Kontrapunkte werden hier und da noch gesetzt im Haus der Demokratie und Menschenrechte, wo nur noch Reste der DDR-Gründerorganisationen ansässig sind. Das Berliner Neue Forum bemüht sich redlich, im Geiste der polnischen „Fliegenden Universität“ missliebige brisante Themen zur Sprache zu bringen. Die Resonanz ist ebenso begrenzt, wie es die Ressourcen sind. Hier und da verdient sich der „telegraph“ den Widerspruch aus der erwarteten Ecke. Es versteht sich von selbst, dass die Erfahrungen dieses Milieus nur im Verbund mit den zeitgenössischen kritischen Strömungen gesellschaftlich wirksam werden können. Ein kleines Beispiel ist der Berliner Volksentscheid zu den Wasserverträgen: demokratisch, nachhaltig, erfolgreich und komplett gegen die in Berlin regierenden Parteien von unten organisiert, nicht zuletzt von der Grünen Liga, mit ein bisschen Beihilfe auch der Stiftung des Hauses der Demokratie und Menschenrechte. Soweit sich auch die Erfahrungsgemeinschaft der alten DDR-Opposition künftig an solcherart „Staatsverleugnung“ wahrnehmbar beteiligen will, muss sie wohl erst aus ihrem Wachkoma herauskommen. Ansonsten ist für Optimismus wenig Anlass.

________________
[1] Michael Beleites, Die Zukunftsfragen nicht aus dem Blick verlieren. Gedanken nach 10 Jahren als Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen. Horch und Guck Heft 71, März 2011, S. 70ff.
[2] Ebenda, S.70.
[3] Ebenda.
[4] Ebenda, bezugnehmend auf die defizitäre öffentliche Resonanz einer Fachtagung zur Geschichte der Zwangskollektivierung in der DDR und dem Umgang mit den Genossenschaften nach 1990.
[5] Ebenda, S. 71.
[6] Ebenda.
[7] Ebenda.
[8] Offener Brief an Joachim Gauck vom 8.11.1999 anlässlich dessen Interview im Tagesspiegel vom 7.11.1999: „Heute hören wir von Ihnen, nun sei in Deutschland erreicht, wofür damals die Opposition in der DDR und die Bürgerbewegungen des Herbstes 1989 gekämpft haben. … Wissen Sie noch, was in dem Verfassungsentwurf des Runden Tisches stand? Er enthielt viele unserer Forderungen von damals. Prüfen Sie bitte nach, was davon heute Wirklichkeit ist. Erinnern sie sich noch an die Sozialcharta des Runden Tisches? Und erinnern Sie sich daran, warum und auf wessen Veranlassung dies alles beim Einigungsprozess im Papierkorb verschwand. Wir wollten nicht nur mehr Mitbestimmung, wir wollten Teilhabe und Selbstbestimmung. Wir wollten nicht nur die papierne Freiheit, sondern auch soziale Gerechtigkeit. Fragen Sie die vielen Arbeitslosen, fragen sie vor allem auch die Frauen aus der ehemaligen DDR, was sie von der Koexistenz von Meinungsfreiheit und Obdachlosigkeit, von Versammlungsfreiheit und Erwerbslosigkeit, von Reisefreiheit und Sozialhilfebedürftigkeit halten. Aber Sie denken heute, wir sollten als Bürger des beigetretenen Viertels bescheidener sein. Dieser Zug zur Bescheidenheit ging uns damals, im Herbst 1989, vollständig ab. Und es wird Zeit, dass wir nicht nur in Neufünfland, sondern in ganz Deutschland diese Unterwürfigkeit abschütteln. Nur wer die Neigung zur Anpassung und das Vertrauen in Parteien und Ministerien, die unsere Angelegenheiten zu unserem Schaden verwalten, überwindet, wird etwas verändern. Auf Sie und viele unserer alten Mitstreiter, die in Amt oder Mandat ihren Frieden mit dem Bestehenden gemacht haben, müssen wir wohl verzichten. Vorerst aber sprechen wir Ihnen das Recht ab, sich auf uns zu berufen, wenn Sie über die Opposition in der DDR sprechen.“
[9] Beleites a.a.O., S. 74.
[10] Bernd Gehrke, Manch Neues und ein Historikerstreit en miniature, IWK 2 (2003).
[11] Christof Geisel, Auf der Suche nach einem dritten Weg. Das politische Selbstverständnis der DDR-Opposition in den 80er Jahren, Berlin 2005.
[12] Zeile aus Bertolt Brechts „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“, der „symbolischen Karikatur der Freiheit", wie der Musikkritiker Hans-Heinz Stuckenschmidt zur Uraufführung des Opus im März 1930 schrieb. Der Spiegel 39/1959.

A.S.H. | 27.05.11 17:15 | Permalink