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Hollywood, Buhrufe und die Entdeckung der Langsamkeit

Berlinale 2011: Wettbewerb

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Das Festival begann mit einer Verbeugung, um nicht zu sagen: einem Bückling vor Hollywood. “True Grit” von den Coen-Brüdern ließ sich außerhalb der Konkurrenz feiern, quasi im Vorbeigehen auf dem Weg zur Oscar-Veranstaltung und möglicherweise zum Festival in Cannes. Der sepiafarbene Western, der Initiation, Rachegeschichte, Buddymovie und Lovestory zu einem spannend-schrägen Film in typischer Coen-Manier vermixt, verabschiedete sich nach zwei Tagen - bis zum baldigen deutschen Kinostart.

Dann durfte es endlich losgehen mit normal sterblichen Filmen, die in Konkurrenz antraten und das Kinoniveau wurde gleich hoch angesetzt: Mit “Margin Call”, ebenfalls aus Hollywood, gibt es neue Nachrichten aus der Wall Street. Er zeigt, wie jemand im Film irgendwann sagt, ein “Blutbad”, aber ohne Tote. Es ist der Finanzkrieg, der an Computern, in langen Tabellen und Rechenaufgaben stattfindet, und seine Soldaten verdienen Millionen in Sekunden. Minutiös beschreibt der Film buchstäblich den Vorabend des Zusammenbruchs 2008. Das Ganze spielt in den Chefetagen einer Investmentbank, immer innen, mit der Spannung kalter Sachlichkeit. Meisterhaft werden die darunter liegenden Emotionen Stück für Stück frei gelegt, bis am Schluss Kevin Spacey die einzigen Tränen weint. Sehr rasch erzählt, im Tempo von Reaktionsschnelle in der Finanzwelt, mit sehr modernem Thema.

Ganz anders sind Rhythmus und Tempo des argentinischen Films “El Premio”, der das innere Drama eines Kindes in der Illegalität unter den Bedingungen einer faschistischen Militärdikatur beschreibt. Mit der intensiven kindlichen Hauptdarstellerin vermittelt die Regisseurin ihre autobiographisch motivierte Geschichte. Dieser Film lässt sich beim Aufbau des Konfliktes viel Zeit. Das zwingt zu anderer Art Konzentration, entschleunigt Sehgewohnheiten.

Ebenfalls ungewohnt sind die fast somnambulen Bewegungen des Arztes Dr. Velten in dem deutschen Beitrag “Schlafkrankheit”. Tropenkoller in Kamerun, zunehmende Verweigerung gegenüber europäischen Regeln und eine folgenreiche Metamorphosen lassen den Film zu einer geheimnisvollen Reise werden, die sich erst im letzten Bild offenbart.

In dem US-amerikanisch-deutschen Film “The Future” wird Langsamkeit gar auf die Spitze getrieben bis zum Stillstand des bewegten Bildes. Die Regisseurin, die gleichzeitig die Hauptdarstellerin ist, erzählt eine Dreiecksgeschichte auf charmant abgehobene Weise. Angstvoll versucht Mirandas Freund den Verlust der Liebe zu verhindern, indem er die Zukunft aufhält: seine Freundin, die Nachbarin, selbst die Wellen des Meeres in Santa Monica stehen still.

Beinahe quälend wirken die extrem langen Einstellungen des ungarischen Films “A Torinói Ló” (Das Turin Pferd). Quälend, weil wir an diese Langsamkeit, die ja auch eine andere Wahrnehmung verlangt, nicht gewöhnt sind. Der ungarische Regisseur Béla Tarr hat daraus seinen Stil gemacht und gilt schon als Kult.

Auf andere Art gegen den Strom schwimmt das Regiedebüt “Coriolanus” des großen britischen Schauspielers Ralph Fiennes. Er hat auf verblüffend entschiedene Art den Text des Shakespeare-Stückes von 1607 übernommen, spielt sich gemeinsam mit seinen berühmten Kollegen Vanessa Redgrave, Brian Cox und Gerard Butler die Seele aus dem Leib – und ist grandios gescheitert. Der Irrtum besteht in der kompletten Uneignung der Mittel. Das Stück passt durchweg nicht zum Medium des bewegten Bildes und zu den Kulissen unserer Gegenwart. Gewissermaßen reklamiert auch dieser Film moderne Schnelligkeit – mit der Kunstsprache aus Shakespeares Zeiten, da selbst in höchst brenzligen Situationen noch Zeit zum Reimen und Philosophieren bleibt.

Buhrufe und Massenflucht der Zuschauer erntete der russische Beitrag “V Subbotu” (An einem Samstag) über den Tag, an dem in Tschernobyl der Atomreaktor explodierte. Der Regisseur drehte diesen Film in völliger Unkenntnis filmischer Gestaltungsmittel bei gleichzeitiger Abwesenheit einer Geschichte. Die entstand auch nicht durch die permanent wackelnde Handkamera, welche nichts bewirkte außer Übelkeit und Ärger. Die Auswahlkommission muss sich fragen lassen, wie dieser Film in den Wettbewerb geraten ist.

Begeisterungsstürme löste die deutsch-türkische Multi-Kulti-Komödie “Almanya – Willkommen in Deutschland” aus, obwohl oder vielleicht auch weil deren Erzählweise eher ins Fernsehen gehört als ins Kino.

Der normalste Film und ein Publikumsliebling war die leicht erzählte und schön gespielte Verwicklungs- und Verwechslungs-Tragikomödie “Mein bester Feind” um Österreich-Anschluss, Holocaust und die kriminalistische Suche nach einem echten Michelangelo.

Sind wir reif für eine neue Langsamkeit? Offensichtlich ist der Wille einer Reihe von Filmemachern, sich ihr eigenes Tempo zu suchen. Da ist eine Entschleunigung zu beobachten, eine manchmal radikale Weise, der Atemlosigkeit von Clip- und Video-Kultur einen anderen Rhythmus des Luftholens entgegen zu setzen. Das will vielleicht keine Botschaften transportieren. Aber es kann.

Angelika Nguyen

A.S.H. | 18.02.11 14:34 | Permalink