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Das ewige Winterkind unter Winterkindern

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Ich habe gedacht, wenn ich mich schreibend verschenke, entfliehe ich dem Teufelskreis der Erinnerung. Schreibend bin ich tiefer ins Erinnern hineingeraten als mir lieb ist.

Peter Wawerzinek erhielt den Ingeborg-Bachmann-Preis 2010. Happy sind alle Freunde und Bewunderer von ScHappy, wie sich Peter Wawerzinek, geboren 1954 als Peter Runkel, seit den 1980er Jahren nennt. Happy über seine Auszeichnung.

War es schon eine Freude als letztes Jahr Karsten Krampitz den Publikums-Preis in Klagenfurt erhielt, und nun im Jahr der WM schnappt sich ScHappy den Pott - für „Ich finde dich“, einen Auszug aus seinem autobiografischen Buch „Rabenliebe“, das Ende August erscheint.
Darin beschreibt Peter Wawerzinek seine Eindrücke, als er in einem Spätherbst von den Eltern als Kleinkind auf der Flucht gen Westen verlassen, zurück gelassen wurde. Nach seiner Mutter machte sich Peter Wawerzinek 45 Jahre später auf die Suche, fand sie und traf sie einmal. Was sie ihm nicht geben konnte musste er sich selber erarbeiten – die Erinnerung an seine Kindheit.
Im Schneeweiß ein neues Leben begann, ein Leben im Kinderheim: „in Räumen ohne Glanz, Alltag und Rhythmus“. Er versucht sich zurück zu beamen, zu der Zeit im Heim und erinnert sich vor allem an Schnee und an: „Anmarschieren, abmarschieren, stehen, auf der Stelle treten, links um, rechts um, drei Schritte vor, zwei zur Seite, Hände von einander lösen, hinterm Stuhl die Lehne mit beiden Händen fassen, aufhören zu sprechen, nicht grinsen, ruhig zum Stuhl gehen, nicht laufen, auf seinem Stuhl Platz nehmen, nach vorne sehen, auf den eigenen Teller blicken, den Löffel erst benutzen und anfangen mit dem Essen, wenn es gesagt wird. Alles auf dem Teller Befindliche schön brav aufessen. Sitzenbleiben, bis der Letzte mit seinem Essen fertig ist. Formeln des Dankes sagen. Antreten, abtreten, aufs Zimmer gehen, mit dem Bettenmachen fertig werden, auf Kommando einschlafen“.
Nach zehn Jahren in staatlichen Kinderheimen wurde Wawerzinek adoptiert und wuchs an der Ostsee auf. Nach der Schule machte er eine Lehre als Textilzeichner und zog 1978 nach Ostberlin. Das Studium an der Kunsthochschule Weißensee brach er nach zwei Jahren ab, jobbte in verschiedenen Berufen, etwas als Briefträger, Kellner oder Rampenwart in einer Kaufhalle, und ist seit 1988 als freier Autor, Regisseur und gar als Sänger umtriebig. Wie 1990, als er zusammen mit den jetzigen Rammstein-Musikern Paul Landers und Flake Lorenz auftrat und im Wohnungsstudio von Jonas Soubeyrand Stücke aufgenommen wurden.
Viele kennen Wawerzineks Kolumne „Klaus+Peter“ in der Berliner Zeitung, für die er seit 2000 bisher 123 Folgen schrieb. Dort erzählt er von Spaziergängen, die er mit seinem Freund Klaus durch Berlin und Umgebung veranstalten. Und über alles was ihnen über den Weg lief. Um etwas zu erleben muss man nur spazieren gehen.
In den letzten Jahren war er auch immer mal wieder als Archivar und Autor im hohen Norden des Westens unterwegs, in einem Dorf, bekannt für Künstlerstipendien und betreutes Trinken. In Wewelsfleth entwickelte er zusammen mit Krampitz die Idee einer Trinkerklappe für den Eulenhof, einer Resozialisierungseinrichtung. Die Idee ist simpel - die gestressten Ehefrauen packen ihren Trunkenbold auf eine Schubkarre und stellen ihn vor besagte Klappe, kurz klingeln und ab zum Ausnüchtern ohne die Liebste beim schlafen zu stören.

Aber gehen wir einige Jahre zurück. Mitte der 1980er Jahre war Peter Wawerzinek in der Ostberliner Literaturszene ein Begriff, obwohl er sich bis heute über die Missachtung und das Desinteresse bestimmter Kollegen beschwert. Im Gegensatz zu den Gedichteschreibern der Prenzlauer Berg Connection hielt er es mehr mit Prosa. Schrullige Geschichten und eine Super-Live-Performances waren sein Markenzeichen. Dass seine Auftritte in Räumen der Subkultur stattfanden, erklärt sich von selbst. Eine auf Video festgehaltene Leseperformances beim Kirchentag von Unten, 1987 in Berlin, dokumentiert seine explosive Dynamik. Mal stehend, sitzend, liegend, mal schreiend, flüsternd, gestikulierend – die Texte lebten. Mich erinnerten diese Texte vor 25 Jahren an ähnliches, dass ich gerne sonntäglich im „Zündfunk“ hörte. Eine Mischung aus Pop-Literatur und absurden Alltagsbeobachtungen. Wir Jüngeren konnten damit eher etwas anfangen, als mit den komplizierten Schachtelsätzen der Lyrik-Stars Papenfuß, Döring, Anderson. Diesen wiederum waren die Wawerzinek-Texte zu profan und sie fanden keinen Einzug in die Künstlereditionen und Literatur-Samisdat. Was die Autoren-Kollegen dachten und was das Publikum empfand waren zweierlei.

ScHappys literarische Einsamkeit endete, als er 1988 in Halle an der Saale „Matthias“ BAADER Holst kennen, schätzen und lieben lernte. Von dieser Zeit bis zu BAADERS Tod 1990 handelt das aktuelle Buch von Wawerzinek: „Das Desinteresse. Festschrift für einen Freund“. Darin schildert er die langen Nächte langer Gespräche, die Essorgien in HO-Gaststätten, das Aufschnappen feinster Gesprächsfetzen der Frauen am Nachbartisch, das Zelebrieren der vielen Lesereisen und den Umgang mit dem Nachlass eines Freundes. Diesen Nachlass holte Wawerzinek zusammen mit dem Verleger Erich Maas nach BAADERS Tod aus dessen Wohnung. Erich Maas war es, der nach der Wende aus Westberlin in den maroden Osten zog und BAADER und ScHappy traf und unbedingt ihre Texte verlegen wollte. Ein Glück für Peter Wawerzinek an solch einen Verleger zu gelangen, der auch Thomas Kapielski, Funny van Dannen und Harry Hass verlegte. Nicht nur ein besessener Verleger war Maas, auch ein Freund wurde er. Er verstarb viel zu früh kurz nach der Jahrtausendwende in Berlin.
Genau zum 20. Todestag von „Matthias“ BAADER Holst erhielt Peter Wawerzinek den Ingeborg-Bachmann-Preis. Nochmal: Glückwunsch!

Das Desinteresse Peter Wawerzinek, Hasenverlag, Halle Saale 2010, 124 S., 12,80 €
„Matthias“ BAADER Holst – hinter mauern lauern wir auf uns Tom Riebe. Hasenverlag, Halle/ Saale 2010
Ausstellung: „Matthias“ BAADER Holst (1962-1990). Stadtmuseum Halle/ Saale

natter | 19.07.10 17:13 | Permalink