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Die „radikale“ Linke auf dem Weg ihrer Selbstentmündigung?

Am 17. Januar veranstaltete die "Antifaschistische Revolutionäre Aktion Berlin" (ARAB) eine interesssante Podiumsdiskussion zum Thema "DDR – Die radikale Linke und der realsozialistische Versuch".

Auf dem Podium saßen der ehemalige NVA-Offizier Ingo Höhmann, Herbert Mißlitz, Ende der 1980er Jahre in der DDR-Opposition aktiv, und Inge Viett, ehemalige Angehörige der Bewegung 2. Juni die acht Jahre in der DDR im Exil lebte.

Alle Diskussionsbeiträge sind hier auf der ARAB-Seite nachzuhören.

Inge Vietts Beitrag wurde auch in der jungen Welt, in der Onlinezeitung trend und auf arab.antifa.de in schriftlicher Form veröffentlicht.

Die Veranstalter schreiben auf ihrer Webseite "Gerne sind wir auch an Kritik und Anmerkungen interessiert."

Gut, dachte sich unser Autor Thomas Klein und stellt sich die Frage:

"Was soll man zu dieser Strömung in der zeitgenössischen Linken sagen, die nur noch militant, aber nicht mehr radikal ist – auch, weil sie sich weigert, nach den Wurzeln dieses DDR-Systems und der wirklichen Funktion der herrschenden SED-Parteiführung zu fragen?"

Hier nun seine lesenswerte Veranstaltungskritik:

Die „radikale“ Linke auf dem Weg ihrer Selbstentmündigung? Beobachtungen während einer Veranstaltung im KATO.

Die linke antistalinistische Opposition in der DDR war während der gesamten Zeit der Herrschaft einer bürokratischen SED-Nomenklatura permanenter Verfolgung unterschiedlichen Ausmaßes ausgesetzt. Obwohl ihr die aus der Sowjetunion bekannte physische Massenvernichtung vermeintlicher oder tatsächlicher „Staatsfeinde“ erspart blieb, organisierten die Sicherheits- und Parteikontrollorgane zu Zeiten des Hochstalinismus doch eine umfassende politische Vernichtungsauslese: Rätekommunistische, linkssozialistische, trotzkistische oder sozialdemokratische Strömungen wurden nachhaltig zerschlagen, die Massenpartei SED periodisch von solchen Tendenzen „gesäubert“ und die Parteimitglieder wirksam eingeschüchtert. Wer im Namen eines demokratischen Sozialismus das politbürokratische Herrschaftssystem herausforderte, sah sich auch während seiner poststalinistischen Periode von zum Teil langjährigen Haftstrafen, betonharten Berufsverboten, sozialer Diskriminierung und einem permanenten Ausreisedruck bedroht. Als ein demokratischer Sozialismus 1968 in der CSSR zur breiten gesellschaftlichen Bewegung wurde, halfen dort nur noch Panzer. Die Anhänger jedweder sozialistisch-kommunistischen Alternative zum in der DDR herrschenden Politbürokratismus wurden als „Antikommunisten“ und „Agenten des Klassenfeindes“ diffamiert. In der postterroristischen Periode einer modernisierten bürokratischen Diktatur sorgte der sich aufblähende Geheimdienst mit neuen ausgeklügelten Herrschaftstechniken (Vorfeld-Prävention und „Zersetzung“) dafür, dass linker antibürokratischer Widerstand weiterhin nur konspirativ arbeiten konnte. Die Furcht der Herrschenden in der DDR vor demokratisch-sozialistischen Herausforderern im eigenen Land war allemal größer, als vor dem westlichen Systemkonkurrenten, mit dem stets, wenn es eng zu werden drohte, der Ausgleich gesucht und gefunden wurde: Mit Schmidt, Strauß und Kohl wurde gedealt, mit der Opposition befasste sich das MfS. Die Herrschaft der SED-Bürokraten war antiemanzipatorisch, paternalistisch, in einem erstaunlichen Ausmaß bürgerlich – kurz: antisozialistisch. Während ihrer 40-jährigen Herrschaft ist ihnen das gelungen, was die ideologischen Feldzüge des antikommunistischen westlichen Systemkonkurrenten nie zu erreichen vermochten: Mit dem gefälschten Etikett des „Realsozialismus“ die Perspektive eines freiheitlichen, demokratischen Sozialismus in der DDR-Bevölkerung (und nicht nur in ihr) nachhaltig zu diskreditieren.

Dies alles ist nicht neu, es ist gesicherter Forschungsstand und – noch wichtiger – Teil des Erfahrungsbestands mehrerer Generationen antistalinistischer Opposition in der DDR. Wer es wissen wollte, konnte es wissen – schon lange, bevor die Akten offen waren. Doch von alledem war nicht die Rede, als am 17. Januar die „Antifaschistische Revolutionäre Aktion Berlin“ im Kreuzberger Veranstaltungsort KATO der Frage nachging, welches Verhältnis heute die radikale Linke zum „realsozialistischen Versuch DDR“ entwickeln könne. Ein ehemaliger NVA-Offizier eröffnete seine Präsentation mit einem Bekenntnis „ohne wenn und aber“ zur DDR. Für „Westlinke“ war es vermutlich von gewissem Neuigkeitswert, unverfälscht eine Vorstellung dessen geboten zu bekommen, was in der DDR über Jahrzehnte deren Staatsbürgern an demagogischem Müll zugemutet wurde: So hörte man nach 20 Jahren endlich wieder einmal die Offenbarung, die Okkupation der CSSR 1968 sei eine „Maßnahme“ zur Verhinderung des Versuchs der imperialistischen Mächte gewesen, die CSSR aus dem Bund der „Bruderländer“ herauszubrechen. Die erste leibhaftige Begegnung der stalinistischen Parteiführung mit der Arbeiterklasse am 17. Juni 1953 in Gestalt eines Faustschlags (Brecht) zeitigte aus der Sicht dieses „bekennenden Antimilitaristen“ aus der NVA ganz berechtigt den Einsatz von Panzern zur Abwehr eines faschistischen Putsches – wie auch der 13. August 1961 eigentlich eine imperialistische Aggression verhinderte. Ansonsten seien wohl hier und da auch „Fehler“ gemacht worden, ohne dass sich der Referent genauer an solche zu erinnern vermochte. In diesem Punkt war Inge Viett mit ihrem Beitrag auskunftsfreudiger, ohne dass sie auch nur im Mindesten auf die Idee kommen wollte, solche angeblichen Fehler und „Schwächen“ könnten authentische Elemente oder Folgeeffekte der konsistenten Herrschaftslogik politbürokratischer Machtabsicherung gewesen sein. Anstelle einer sich an den Begriffen marxistischer Analyse orientierenden materialistischen Kritik dieser nominalsozialistischen Gesellschaftsformation übernahmen alle Referenten kritiklos das ideologische Vokabular des legitimatorischen und verkommenen „ML“ unseligen Angedenkens mitsamt seinem Inhalt: Inge Viett solidarisierte sich mit der DDR als (dem „Grundcharakter“ nach) „erster sozialistischer Gesellschaft auf deutschem Boden“, beschönigte die Folgen der Vergesellschaftungsblockaden durch das Verfügungsmonopol der Parteibürokratie über das Staatseigentum an Produktionsmitteln, fand keine begriffliche Differenzierung für den Unterschied zwischen autokratischem Wirtschaftsdirigismus und durch ihn verhinderter sozialistischer Wirtschaftsplanung, begriff nicht den Umfang stattgefundener Totalenteignung der praktisch zu „Staatssklaven“ degradierten arbeitenden Klassen und wollte einfach nicht verstehen, dass der Repressionsapparat gegen deren Selbstorganisation als größter Gefahr für diese Diktatur über die Arbeiterklasse in Stellung gebracht wurde. Diesen Repressionsapparat verharmlost Inge Viett überdies als „altbacken und herkömmlich“ und verkennt völlig die damalige gesellschaftliche Wirkungstiefe dieses Drohpotentials. Das Ganze findet seine Steigerung in der Bilanz, das MfS sei im Alltag höchstens Objekt von Witzen gewesen. Ihr ist völlig entgangen, dass das Arsenal betrieblicher und sozialer Kontroll-, Unterdrückungs- und Überwachungsinstanzen weit über den für sich genommen schon imposanten Umfang geheimdienstlicher Abwehrarbeit hinausging. Ihre Ignoranz angesichts nicht zu leugnender Ungeheuerlichkeiten dieses „Realsozialismus“ – die sie durchaus zu benennen weiß – gipfelt im der höhnischen Indienststellung der Marx´schen Rede vom „Reich der Notwendigkeit“, mit der schon Generationen von Parteiführern noch jede Schweinerei rechtfertigten, wenn ihre Kritiker ihnen das Marx´sche Bild einer zu entwickelnden Assoziation freier Produzent/Innen entgegenhielten.

Auch Herbert Mißlitz, als Zeitzeuge und damals Aktiver in der linken Opposition der DDR durchaus geeignet, diese massive Verzeichnung und Beschönigung der Realitäten nominalsozialistischer Gesellschaftsformierung richtigzustellen, kapitulierte vor dieser euphemistischen „Einheitsfront“. Er entgegnete einer Diskutantin, die darauf hinwies, eben jene Kopf- und Handlanger des DDR-Systems wie erwähnter NVA-Offizier auf dem Podium seien damals die erklärten Widersacher linker Opposition in der DDR gewesen (und umgekehrt), dies würde für ihn nicht gelten. In seinem Beitrag beschränkte er sich darauf, den Unmut Jugendlicher über gewisse administrative Verbotsakte gegenüber Rockbands und Liedermachern zu beschreiben, auf die Schwierigkeiten beim Beschaffen von in der DDR illegalen Büchern hinzuweisen und naiv zu fragen, warum innerbürokratische Rationalitätskonflikte wie der zwischen Gerhard Schürer und Günter Mittag nicht öffentlich ausgetragen wurden! Ansonsten habe in der DDR-Opposition niemand vorgehabt, „den Sozialismus in der DDR abzuschaffen“. Welchen Sozialismus? Herbert Mißlitz ist meilenweit hinter die Standards der Gesellschaftskritik seiner damaligen Organisation „Vereinigte Linke“ zurückgefallen, die auf den Sturz dieser Politbürokratie hinarbeitete und sich im September 1989 in ihrer „Böhlener Plattform“ weitaus radikaler zur DDR-Wirklichkeit äußerte.

Und so wurde die Podiumsrunde vom teilweise entgeisterten Publikum als in verschiedenen Facetten auftretende Einheitsfront zur Verteidigung des DDR-Gesellschaftssystems wahrgenommen. Wo findet man eine Erklärung für dieses geschichtslose, autoritätsgläubige, unkritische und affirmative DDR-Bild? Was soll man zu dieser Strömung in der zeitgenössischen Linken sagen, die nur noch militant, aber nicht mehr radikal ist – auch, weil sie sich weigert, nach den Wurzeln dieses DDR-Systems und der wirklichen Funktion der herrschenden SED-Parteiführung zu fragen? Was wird man von dieser „linken“ Tendenz erwarten können, wenn es heute um die Frage einer neuen linken politischen Kraft jenseits von Links-Partei-Sozialdemokratie und K-Gruppen-Sektiererei geht?
Ganz offensichtlich ist der Ekel vieler Linker vor den medialen Inszenierungen gesamtdeutscher Feierseligkeit von Mauerfall und Wiedervereinigung eine Quelle zeitgenössischen Unbehagens. Da diese Inszenierungen wesentlich von der anhaltenden Indienststellung des Feindbildes „DDR“ in den Begriffen des gegenwärtigen Antikommunismus leben und dieses Bild den am 17. Januar im KATO präsentierten Blödsinn nicht selten noch übertrifft – natürlich im Sinne der ideologischen „Gegenrichtung“ - erklärt sich das plötzlich erwachte Interesse gerade von „Westlinken“ an der früher so tapfer ignorierten DDR sofort von selbst. Hinzu kommt, dass die anhaltende Ohnmacht angesichts der Obszönitäten globalkapitalistischer Barbarei heute das Bedürfnis vieler (vor allem junger) Linksradikaler anfeuert, sich wieder auf die Suche nach Identifikationsmustern und Orientierungshilfen zu begeben. Wir hatten das alles schon mal – etwa in Gestalt der unsäglichen maoistischen K-Gruppen der 70er Jahre. Deren damalige und heute gewendete Parteigänger findet man inzwischen übrigens vielfach in der Phalanx des prowestlichen Antikommunismus wieder. Wenn auch heute neuerlich der primitive Automatismus „Der Feind meines Feindes kann nur mein Freund (gewesen) sein“ das Hirn vernebelt, kann nur ein reaktionäres Gemisch herauskommen – etwa als Einvernehmen ehemaliger stalinistischer Systemwahrer mit vermeintlich linksradikalen Kritikern des real existierenden Kapitalismus. Auf diesem Level sind offenbar einige Fraktionen des „Linksradikalismus“ wieder bereit, ihren Frieden mit dem historischen Stalinismus zu machen. Dieser zeitgenössische Philostalinismus ist aber heute nicht allein ein unbewältigtes historisches Erbe, sondern hat sehr gegenwärtige Wurzeln und droht erneut, zu einer politischen Praxis und Theorie neostalinistischer Provenienz zu werden (1).

Thomas Klein

(1) Vgl. dazu auch: Christoph Jünke, Vergangenheit, die nicht vergeht. Über den langen Schatten des Stalinismus. http://www.sopos.org/aufsaetze/49942b7b40c8a/1.phtml

A.S.H. | 11.02.10 17:26 | Permalink