« Nordirland – Zurück zur Internierung? | Hauptseite | Die Meute heult auf »

Gnadenloser Bildersturm aus Mumbai

“Slumdog Millionär” , Regie: Danny Boyle
Von Angelika Nguyen

Das so genannte Feel-Good-Movie beginnt mit Folterszenen. In einem kahlen Raum schlägt ein indischer Polizist den jungen Jamal, hängt ihn an den Händen auf, versetzt ihm Elektroschocks. Anlass ist die bei uns wohl bekannte, allerdings bis dahin völlig harmlose TV-Quizshow “Wer will Millionär?”. In der Pause zwischen zwei Sendungen wird der Kandidat, der nur eine Frage vom Millionengewinn entfernt ist, gefoltert, weil der Quizmaster einen Betrug vermutet. Minutiös, quälend genau zeigt der Film die Folterung. Gelähmt sitzen die Zuschauer da. Wo sind Fröhlichkeit, die Atemlosigkeit, das Glück, das der muntere Trailer versprach?

Der Kandidat Jamal Malik wird sich im Laufe des Films noch an viele harte und grausame Erlebnisse seiner Kindheit erinnern. Die Antworten auf die Quizfragen weiß er nicht aus Büchern oder jahrelangem Kreuzworträtseln, sondern aus seinem eigenen Leben. Das war so gnadenlos, dass er den Polizisten sagt, einmal hätte er die Antwort lieber nicht gewusst.

Wie sichtbare und unsichtbare Wunden der realen Slumkinder in Indien entstehen, erzählt dieser Film. Ein Sozialdrama also? Oder vielleicht eine Erfolgsgeschichte: junger Slumdog gewinnt 20 Millionen Rupien und entkommt dem Elend? Seht, einer von uns hat es geschafft?

Nichts von alledem, denn Regisseur Danny Boyle hat seinen ganz eigenen Stil, der ungeachtet dessen, dass im Abspann ein indischer Koregisseur auftaucht, auch in “Slumdog Millionär” unverkennbar ist.

Jamals Erinnerungen werden oft auf konträre Weise ins Bild gesetzt. So wird ein Massaker in Jamals Heimatslum, das ihm als grausamste Erinnerung haften bleibt, als greller Bildersturm erzählt, abgehoben, traumhaft, von lauter Musik rhythmisiert wie ein Videoclip. Möglicherweise soll das den Schockzusatnd des Kindes widerspiegeln. Denn was dort passiert ist mehr als ein Kind ertragen kann.

Die Grundspannung des Films besteht im Widerspruch zwischen TV-Entertainment und einer Kindheit in indischen Slums.

Bei Danny Boyle war sozialer Realismus schon immer gepaart mit unbekümmerter Poesie, betörenden Bildern und einer gewissen Kühle, die jede wirkliche Einfühlung, aber auch Kitsch verhindert: kein Zweifel, auch mit “Slumdog Millionär” sind wir in der Danny-Boyle-Welt gelandet. Die Slumdogs, die kleinen Kinder um die Protagonisten Jamal und Salim, sind viel zu gehetzt, verfolgt, bedroht, um sich groß ihren Gefühlen hinzugeben. Ständig sind sie in Aktion, müssen es sein. um zu überleben. Danny Boyle beschönigt nichts, schneidet nicht weg, wenn die Erwachsenen Gewalt an den Kindern verüben. Jamals Kindheit ist etwas, erzählt der Film, das es zu überstehen gilt. Slumdogs in Indien, die ihre Volljährigkeit erreichen, sind Überlebende. Unversehrt sind sie nie. Aber Danny Boyle bleibt bei all dem erstaunlich leichtfüßig. Seine immense Vitalität bezieht der Film aus dem flinken und unbefangenen Spiel all der kleinen und größeren Kinder der Clique, Laien, weil echte Slumdogs aus Mumbai und aus der häufigen rasanten Montage der Bilder. Danny Boyle ist ein Ensembleregisseur, er mag keine Stars.
“Slumdog Millionär” ist aber nicht nur die Geschichte des Jamal Malik, der sich nach einer Kindheit in den Slums im grellen TV-Licht wiederfindet, nicht nur die Geschichte eines von Produzenten nicht groß unterstützten, öfter gefährdeten Low-Budget-Projektes, das der Publikums- und Awardrenner des Jahres 2009 wird, sondern auch die Geschichte eines einst ziemlich schrägen Independentregisseurs mit kleiner, aber feiner Fangemeinde, der in den Mainstream und auf die zentrale Glamourbühne der Oscars gerät. Mit “Slumdog Millionär” schuf Danny Boyle einen internationalen Hit, der Welten verbindet. Und siehe da, nur um uns zu zeigen, dass sie schon längst vernetzt sind: zum Beispiel durch TV-Formate wie “Wer mit Millionär?”. Jene Sendung, die auch die meisten von uns in Deutschland gesehen, kommentiert und sich mindestens schon bei zwei, drei Fragen an die Stirn gegriffen haben, warum der Heini im Fernsehen nicht auf die Antwort kommt!

Die Dramaturgie der erfolgreichen Show hat der Film übernommen: jede Frage löst ein Nachdenken aus, ein Abschweifen aus dem Fernsehstudio in die innere Welt, wo sich vielleicht doch irgendwo die Antwort befindet…Daraus entstand die verblüffend einfache Idee, an die Fragen des Showmasters die biographische Rückblende des jungen Slumdogs Jamal zu knüpfen, der mit 18 Jahren schon mehr erlebt hat als üblicherweise ein Mitteleuropäer in seinem ganzen Leben.

Danny Boyles Stil hält die Ereignisse stets auf Abstand. Besonders die Liebesgeschichte, die der Antrieb für Jamal sein soll, wird unterkühlt inszeniert, das schöne Gesicht von Freida Pinto bloße Dekoration. Mitreißend dagegen sind Boyles atemlose Bilderclips vom Massaker, von Jamals und Salims Flucht mit dem Zug (wo er exakt jenes preisgekrönte Foto von Don Bartletti nachstellt, mit Flüchtlingen aus Honduras, von Waggon zu Waggon springend), von Jamals witziger Jagd nach einem Autogramm. Die globale Erkennungsmusik von “Wer wird Millionär?” funktioniert auch als Soundtrack. Danny Boyles Film ist zum Gruseln , zum Lachen, zum Tanzen und zum Staunen. Nur keine Gefühlsausbrüche. Selbst auf dem Höhepunkt der Show, dem Millionengewinn, lässt Danny Boyle nur dosiertes Glück zu. Gnadenlos unterschneidet er Jamals Triumph mit dem Untergang von dessen Bruder Salim.

Auch für Trauer war kein Platz. Außer in den tellergroßen Augen von Dev Patel, dem Darsteller des Jamal.

A.S.H. | 23.03.09 21:56 | Permalink