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Eine Liebe, kälter als der Tod

“Der Vorleser”, Regie: Stephen Daldry

Von Angelika Nguyen

Wie schuldig kann man sein?, fragt der erwachsene Michael Berg in “Der Vorleser”. Das klingt nach Verhandlung. Kann Schuld verhandelt werden, zumal die Schuld einer deutschen KZ-Aufseherin, die in Auschwitz gearbeitet hat? Wie fühlt jemand, der unwissentlich diese Frau geliebt hat? “Der Vorleser” wurde vermutlich so immens berühmt wegen der Perspektive, die er wählt. Es ist nicht die Täterperspektive, es ist die eines Nachgeborenen, der zu früh die Frau gesehn, die er zu spät erkannt. Wobei das mit dem Sehen wörtlich gemeint ist, denn Sinnlichkeit ist Inhalt und Antrieb der Liebe des Jungen zu Hanna Schmitz, jener ehemaligen KZ-Aufseherin. Auch wenn es manchen nicht gefällt, die Täterinnen und Täter in den KZs, waren Menschen. Schlinks Geschichte basiert auf dieser schlichten Tatsache. Sie ist eine beachtliche Gratwanderung zwischen Verurteilung und Identifikation.

Die subjektive Perspektive, die strenge Ich - Erzählung ist das Unterpfand dafür, dass diese Geschichte überhaupt funktioniert, ohne dass der gesellschaftliche Konsenz gegen Naziverbrechen verletzt wird. Jemand geht in sich, erzählt die prägende Begebenheit seiner Jugend. Die entscheidende Schwäche des Films ist, dass diese Ich-Perspektive nicht herüberkommt. Ein einziges Mal macht Regisseur Stephen Daldry deutlich, wie es wäre wenn er die Geschichte aus der Perspektive seiner jungen Hauptfigur inszeniert hätte: Als Michael nach seinem ersten Sex mit Hanna, von dem wir leider nur erste Berührungen sehen dürfen, wieder im Elternhaus sitzt. Dort hat alles seine Ordnung, die Mahlzeiten, die Hierarchie, das Geschirr auf dem Esstisch, Mutters Blicke, Vaters Fragen. Michaels Entrücktsein wird erzählt, sein Empfinden des Raumes. Da erlaubt sich die Kamera den subjektiven Blickwinkel, da dehnt Daldry die Zeit und lässt alles intensiv und surreal zugleich wahrnehmen – aus der Subjektiven.

Ansonsten nimmt der Film einen merkwürdig neutralen Blickpunkt ein. Wir sehen alles immer von außen. Nur selten noch gelingt es dem Film, die Gefühle der Figuren entsprechend dem Sujet zu intensivieren und damit tatsächlich zu dem Dilemma zu führen, in dem sich die Hauptfigur befindet. Dem zwischen subjektiven Gefühlen wie Zärtlichkeit, Sex, Sorge und objektiven Tatsachen wie zum Beispiel Massenmord.

Die ehemalige KZ-Aufseherin und Massenmörderin Hanna Schmitz ist für den 20 Jahre jüngeren Michael Berg nicht nur die erste Frau, sondern bleibt die Frau seines Lebens. Das prägt. Soll alles danach, die Gerichtsverhandlung, die Reise zu dem ehemaligen KZ, Sex mit anderen Frauen, Michaels Gefühlskonflikt zeigen, eine Erschütterung, eine unheilbare Sehnsucht oder nur Enttäuschung, dann muss dem ein unglaubliches Glück, eine vollkommene Harmonie, eine utopische Eruption voran gegangen sein. Dies verpflichtet zu guten Liebesszenen. Die gelingen dem Film leider kein einziges Mal. Dabei ist es egal, ob es ums Baderitual, Sex, den gemeinsamen Fahrradausflug oder ums Vorlesen geht. Da fehlen große Momente, die beweisen, wieso dieser Junge sein ganzes restliches Leben so an dieser Frau hängt.

Nackheit allein hilft auch nicht. Kate Winslet legt einige ihrer berühmten ungenierten Nacktauftritte hin, auch David Kross ist in der ärmlichen Einzimmerwohnung öfter nackt als angezogen. Aber ihre Berührungen bleiben Guckkastentheater, gar die Akrobatik auf dem Sessel, wo Winslets Bein fast auf Kross’ Schulter aufliegt und sie ihn unterrichtet, ist lobenswert, aber ohne jegliche Hitze. Kate Winslet scheint zu allem einen gewissen Abstand zu haben, besonders zu ihrer Rolle, aber auch ausnahmslos zu ihrem jungen Geliebten. Der Stress, den sie beide auf Grund von Hannas Launen und Kommandoton haben, kann nicht der Antrieb für ihren ganzen gemeinsamen Sommer sein, da fehlt der Ausgleich, das Erlebnis von Harmonie. Winslets Hanna bleibt fast die ganze Zeit in derselben Stimmung, angespannt und abwesend, einmal erschöpft, traurig in der Badewanne nickend, als der Junge die Fragen aller Fragen stellt: “Liebst du mich?” Die Belastung der Beziehung spielt Winslet hervorragend, aber wo ist das Glück?

Vieles bleibt kahl, vorgeführt, ohne Wärme. Das kann am fehlenden Funken zwischen Winslet und dem möglicherweise überforderten Kross gelegen haben oder an der Regie. Schließlich haben wir Kate Winslet schon ganz anders gesehen.

Die Intensität diese Films liefert indes ein anderer Schauspieler, im Alleingang, Seine Aufgabe ist es, das Gefangensein in dieser Erinnerung zu spielen, aber auch die Auseinandersetzung mit ihr. Ralph Fiennes als erwachsener Michael Berg. Ihm gelingt es, dem Widerschein dieser Liebe stärker Ausdruck zu verleihen als die beiden anderen dieser Liebe selbst.

Ein geplanter Höhepunkt des Films, Michaels einsamer Gang durch ein ehemaliges KZ , gerät auffallend museal, theatralisch. Vielleicht, weil er trotz der Echtheit der Artefakte sehr allgemein bleibt und in seiner Exklusivität eher einem pädagogischen Rundgang für die Schule ähnelt. Michael geht durchs Lager, sieht Berge von Schuhen, Stacheldraht, Verbrennungsöfen. Aber hinter Davis Kross’unbewegtem Gesicht kann sich alles verbergen – oder nichts.

Das Psychogramm der Hanna Schmitz hingegen vervollständigt sich zusehends, ein Geheimnis nach dem anderen wird gelüftet. Am Ende wirkt sie nicht mehr geheimnisvoll, sondern nur beschränkt, fast ein wenig geistig beeinträchtigt, extrem isoliert. Vor Gericht zu ihren Motiven für ihre KZ-Arbeit befragt , antwortet sie: “Sie suchten Wachen.”. Oder als Jahrzehnte später Michael Hanna die Frage seines Lebens stellt: “Was fühlst du, wenn du an deine Taten denkst?” antwortet sie, unfähig ihm zu folgen: “Es ist egal was ich denke oder fühle. Die Toten sind immer noch tot.”

“Der Vorleser” ist nicht nur ein ehrgeiziges Oscarprojekt, er wirft auch ein grelles Scheinwerferlicht auf internationale Zusammenarbeit à la Hollywood. Erneut, aber diesmal auf besonders selbst entwürdigende Weise, gab es deutsche Unterstützung. Im größeren Stil gab es nicht nur Geld von deutschen Filmproduzenten, in den USA verächtlich “Stupid German Money” genannt, sondern auch eine Lieferung bedeutender deutscher Schauspielerinnen und Schauspieler für Klein- und Kleinstrollen. Jura-Professor Bruno Ganz hat kurze Szenen, Burghart Klaußner als Richter darf empört ein, zwei Fragen stellen, Schmitz-Anwalt Fabian Busch schon nur noch entnervt gucken, Susanne Lothar sich immer mehr mit Make Up zukleistern lassen und Mutterblicke versenden, Alexandra Maria Lara hat dagegen schon fast eine Szene als junges KZ-Opfer, die Brecht-Schauspielerin Carmen Maja Antoni richtet in der Gefängnisbibliothek sekundenlang ihre klugen, alten Augen auf Winslet… Die Liste ist noch länger. In den USA dürfte sie abgeleitet “Stupid German Cast” heißen. Das ist aber noch nicht alles: diese deutschen Schauspielerinnen und Schauspieler sprechen in der Originalversion alle Englisch, bei der Verfilmung eines deutschsprachigen Buches, in einer deutschen Geschichte. Eine ganz normale Finanzsache. Stupid. Irgendwie.

A.S.H. | 09.03.09 10:47 | Permalink