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Weiteres Warten auf Saville

von Jürgen Schneider

Am 30. Januar 1972 drängten sich in der nordirischen Stadt Derry 20.000 Bürgerrechtler am Ende einer Demonstration gegen die Internierung ohne Anklage zur Abschlusskundgebung in Richtung Free Derry Corner, als Soldaten des 1. britischen Fallschirmjäger-Bataillons gezielt und kaltblütig 108 Schüsse auf die unbewaffneten Demonstranten abfeuerten, ja selbst noch auf Leute zielten, die Verwundeten zu Hilfe eilen wollen. Als sich die Soldaten zwanzig Minuten später wieder zurückzogen, waren 13 Demonstranten tot, die Hälfte davon Jugendliche; fünfzehn weitere wurden schwer verletzt, von denen einer später seinen Verletzungen erlag.

Am 29. Januar 1998 kündigte der damalige englische Premier Tony Blair eine Untersuchung der Bloody Sunday-Ereignisse unter der Leitung von Lord Mark Saville an. Die Kommission unter der Leitung von Saville tagte in der Guildhall von Derry von 1998 bis Anfang 2005. An 367 von insgesamt 435 Sitzungstagen wurden die mündlichen Aussagen von 922 Zeugen gehört. Weitere 1563 Zeugenaussagen erfolgten auf schriftlichem Weg. Der Kommission lagen zudem 121 Ton- sowie 110 Videobänder vor. Beweismittel, wie die von den Fallschirmjägern verwendeten Gewehre, verschwanden unter verdächtigen Umständen, die von den am 30. Januar 1972 eingesetzten zehn Armeefotografen geschossenen Fotos wurden vernichtet.

Der lang erwartete Saville-Bericht und somit die »definitive« Version der Ereignisse des Blutsonntags von Derry sollte bereits im Mai, spätestens aber im Juni 2008 vorliegen. Nun schrieb Saville an die Hinterbliebenen der Opfer, die Fertigstellung seines Berichtes, der laut Irish Times um die 5.000 Seiten lang sein wird, werde sich wegen der Komplexität der Materie vermutlich bis zum Herbst 2009 verzögern. »Meine Kollegen und ich sind uns der Notwendigkeit, den Bericht so bald wie möglich fertig zu stellen, sehr wohl bewusst, wir sind aber auch entschlossen, fair, genau und gewissenhaft mit den vor uns liegenden Ergebnissen umzugehen.«

Die Angehörigen der Opfer wissen ohnehin, was am 30. Januar 1972 geschah, und glaubten den Lügen der Mörder nie. 1992 starteten sie die Bloody Sunday Justice Campaign mit den Forderungen: a) den Untersuchungsbericht Widgerys für null und nichtig zu erklären (in dem den Organisatoren der Demonstration die Schuld an den tödlichen Ereignisse zugeschoben und die Schuldigen für unschuldig erklärt wurden) b) die Unschuld der Erschossenen offiziell zu bestätigen und c) die Verantwortlichen anzuklagen.

Sind Saville und seine Kollegen etwa zu anderen Schlussfolgerungen gekommen als die Angehörigen und Beobachter, die den offiziellen britischen Verlautbarungen zum Blutsonntag keinen Glauben schenken können, und wollen die relative Ruhe im befriedeten Nordirland nicht durch eine Veröffentlichung des Berichts beeinträchtigen? Oder haben sie noch keinen gangbaren Weg gefunden, die Schuldigen aus der Schusslinie herauszuhalten?

A.S.H. | 06.11.08 20:38 | Permalink