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Sieger der Geschichte im Tiefschlaf

Polen: Gewerkschaften wie die Solidarnosc´ fristen nur noch ein Schattendasein und erfreuen damit die Regierung von Premier Tusk

von Przemysław Wielgosz

gleichzeitig erschienen in Freitag # 36 vom 5.09.08

Am 17. Juli erinnert die Pforte der Haushaltswaren-Fabrik FagorMastercook AG im niederschlesischen Wrocław an den Zugang zu einer Strafanstalt. Wachleute eines privaten Sicherheitsdienstes, den die Betriebsleitung angeheuert hat, besetzen alle Tore zum Werksgelände. Wer es betreten will, muss einen engen Korridor zwischen Metallgittern passieren und eine Leibesvisitation über sich ergehen lassen. Danach darf unter der Aufsicht von Dreier-Patrouillen der Sicherheitsfirma Impel – berühmt für ihre Einsätze bei der Zerschlagung von Streiks – gearbeitet werden. Angesichts der Schlagstöcke und Gaskartuschen, mit denen das Impel-Personal bewehrt ist, dürfte sich mancher bei FagorMastercook gefragt haben, wie er diesen Arbeitstag übersteht

Alles hat einen Monat zuvor begonnen, als die radikale Gewerkschaft WZZ Sierpien´ 80 (August 80) bei Fagor einen Warnstreik organisiert, der sich gegen skandalös niedrige Löhne (1.200 Zloty, umgerechnet 360 Euro) richtet. Die Fabrik gehört zwar der baskischen Kooperative Mondragón, aber die Arbeitsverhältnisse unterscheiden sich kaum von denen in Betrieben Nordafrikas – ein Weltunternehmen sucht billige Arbeitskräfte und findet sie in Polen.

Es verwundert daher kaum, dass am 18. Juli während einer Demonstration von Sierpien ´ 80 vor den Toren Fagors die bewusste Sicherheitsfirma mit kugelsicheren Westen und entsicherten Gummigeschoss-Gewehren auftritt – besser lässt sich kaum veranschaulichen, wie derzeit Arbeitskonflikte in Polen ausgetragen werden können.

Die Regierung des neoliberalen Premiers Donald Tusk und seine Bürgerplattform (PO) lassen kaum etwas unversucht, die Fundamente der sozialen Demokratie Polens zu sprengen, indem sie das Streikrecht, die Vereinigungsfreiheit und das Arbeitsgesetzbuch novellieren. Zur Erinnerung: Die PO wurde im November 2007 auf dem Rücken der Proteste gegen die Kaczynski-Brüder an die Macht gespült, als im Wahlkampf zu hören war: »Die Demokratie vor den verrückten Zwillingen verteidigen!«

Nun erwärmen sich die Arbeitgeber-Verbände mit Donald Tusk an der Idee, künftig Arbeitnehmer für Kosten in die Pflicht zu nehmen, die den Unternehmen durch Streiks entstehen, und damit die streitbaren kleinen Gewerkschaften in die Knie zu zwingen. Künftig sollen zudem die Bestimmungen des Arbeitsgesetzbuches für Betriebe mit weniger als zehn Beschäftigten kassiert werden können. Betroffen wären Unternehmen, die in vielen Regionen noch immer das Rückgrat der polnischen Ökonomie bilden. Andererseits wäre damit nur eine Praxis kopiert, die ausländische Investoren in Polen gern bevorzugen. Oft die gleichen Unternehmen, die von erschreckenden Sozialstandards in Polen reden, wenn polnische Anbieter auf den EU-Markt wollen.

Dies alles geschieht laut Tusk zum Wohl der Wirtschaft und des Dialogs zwischen Arbeit und Kapital. Freilich beklagt die Konföderation der Privaten Arbeitgeber (KPP), dass in zu vielen Betrieben zu viele Gewerkschaften diesen Dialog hemmen. Gern werden Extrembeispiele zitiert, wonach es Firmen mit einige Dutzend Arbeitnehmervertretungen geben soll. Ein demagogisches Argument, weil es tatsächlich allein der Bergwerkskonzern KGHM ist, der bei seinen etwa 17.000 Beschäftigten 40 Gewerkschaftsorganisationen unter einem Dach weiß, während für eine Mehrheit der Privatunternehmen gewerkschaftliche Aktivitäten eher Seltenheitswert beanspruchen. Jetzt sollen auch die reglememtiert werden können. Flankiert wird dieses Ansinnen von einer Kampagne in den Medien, die Gewerkschafter anstandslos als kompromissunfähige Rabauken beschreiben – unfähig, so etwas wie Verantwortung für ihren Betrieb und das Land zu empfinden.

Inzwischen gelten Arbeitskämpfe in polnischen Unternehmen als Ausnahme. Schon während der beachtlichen Streikwelle zwischen 2000 und 2003 gingen im Schnitt für die davon betroffenen Unternehmen lediglich zwei Arbeitstage pro Jahr verloren. Wen wundert da der Niedergang der großen Gewerkschaftszentralen?

1990/91 waren in Polen zwei Fünftel der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert – 2007 noch elf Prozent. Allein von Dezember 2006 bis Juni 2007 verlor die einst große Solidarnosc´ 26.000 Mitglieder. Und die postkommunistische OPZZ verkümmert unter dem Joch des finanziellen Ruins, nachdem die Gewerkschafts-Kasse durch eine private Stiftung übernommen wurde, die der ehemalige OPZZ-Vorsitzende kontrolliert. Von der Existenz einer dritten großen Gewerkschaft, dem Forum Zwiazków Zawodowych (FZZ), würde man vermutlich nicht viel wissen, hätte es im Vorjahr nicht den großen Streik der Krankenschwestern gegeben, die größtenteils diesem Verband angehören.

Worum also geht es Arbeitgebern und Regierung, wenn sie von den Gewerkschaften nur das Schnarchen während ihres bürokratischen Schlafes zu befürchten haben? Es geht ganz klar um die endgültige Eindämmung der kleinen, entschlossenen und bislang nicht von Korruption infizierten freien Gewerkschaften wie eben WZZ Sierpien´ 80, Inicjatywa Pracownicza (Arbeiter Initiative) oder Konfederacja Pracy (Arbeiter-Konföderation).
Die haben – allein schon wegen ihrer Militanz – den in Deutschland von Hobby- Historikern gern zitierten Giganten wie Solidarnosc ´ weit hinter sich gelassen.

Die kleinen Gewerkschaften bürgen nicht für Massenproteste, aber sie drängen in einem Moment zur Offensive, da in Polen die Verhandlungsmacht der Arbeiternehmer bei sinkender Erwerbslosigkeit (dank der so genannten Brot-Emigration von zwei Millionen Polen nach Großbritannien, Irland und in andere EU-Staaten) und einer relativ guten Konjunktur weiter schwindet. Ihre Proteste sind auf Branchen fixiert, die eine hohe symbolische Kraft besitzen, etwa im Bergbau und Gesundheitswesen, bei öffentlichen Dienstleistungen (Post, Transport, Schule) sowie bei eruptiv wachsenden Zeitarbeitsfirmen, bei denen die großen Gewerkschafts-Zentralen jede Idee schuldig bleiben, wie mit diesem Phänomen umzugehen wäre.

Solidarnosc und OPZZ fürchten nicht ganz zu Unrecht, die neuen Kombattanten der polnischen Gewerkschaftsszene könnten ihnen den Todesstoß versetzen. Beide plädiderten deshalb auf einer Sitzung der Trilateralen Kommission – dort sitzen sie mit den Arbeitgebern und der Regierung zusammen – dafür, die gewerkschaftliche Aktion im Betrieb sollte allein den großen syndikalistischen Zentralen vorbehalten bleiben – nur sie könnten als repräsentativ gelten.

Hält man sich an diesen Maßstab, bleibt der Eindruck nicht aus, dass derzeit gewerkschaftliche Interessenvertretung um so schwindsüchtiger wird, je größer eine Gewerkschaft ist. Eine Ausnahme von dieser Regel bietet allein Zwiázek Nauczycielstwa Polskiego (Vereinigung Polnischer Lehrer), die am 6. Mai die Hälfte aller Schulen in einen Ausstand um höhere Gehälter führte. Oder man denkt an das Jahr 2006 und den damaligen Streik der Postboten, der vom anarchistischen Syndikat Inicjatywa Pracownicza (IP) angestoßen wurde und für Panik unter den Post- Arbeitgebern sorgte.

Anders der Streik der Krankenschwestern im Juli 2007, den nicht Drohungen der Regierung des Premiers Jarosław Kaczynski abwürgten, sondern Funktionäre der Zentrale FZZ, noch bevor Pflegerinnen und Hebammen ihre Forderungen durchsetzten konnten.

Auch während des 46 Tage dauernden und von Erfolg gekrönten Streiks in der Zeche Budryk Anfang 2008 – er wurde gleichfalls von der Gewerkschaft Sierpien´ 80 angeführt – traten die Bergbau-Solidarnosc´ und das der OPZZ angehörende Bergarbeitersyndikat ZZG als Streikbrecher in Erscheinung. In diesem Fall erschien die zunächst irrational wirkende Anti-Streik-Haltung der regionalen Solidarnosc´-Führung in dem Augenblick plausibel, als sich herausstellte, dass deren Funktionäre im Aufsichtsrat von Sportvereinen sitzen, die vollauf vom Bergbau-Konzern in Budryk finanziert werden.

Mehr denn je stellt sich unter diesen Umständen die Frage nach der Zukunft der polnischen Gewerkschaften. Die Verteidigung des Arbeitsgesetzbuches vor Angriffen der Arbeitgeber, der Regierung und der Gewerkschaftsbürokratie könnte einem angeschlageneren Syndikalismus wieder zu mehr Glaubwürdigkeit verhelfen. Wenn die Courage dazu vorhanden ist. Ohne die Einheit aller Gewerkschaften jedoch dürfte noch mehr verloren gehen als schon verloren ist. Das sollte auch all jene Verbände alarmieren, die heute den Arbeitgebern in der Hoffnung hinterher laufen, der Staat werde ihnen das Zertifikat für die Alleinvertretung einer Belegschaft zuweisen – die Erwartung typisch gelber Gewerkschaften, denen es beschieden sein sollte, bald nur noch ein Schattendasein zu fristen.

Werden die kleinen Gewerkschaften im Land der Solidarnosc´ in die Illegalität getrieben, muss die Regierung damit rechnen, dass Proteste der Kontrolle entgleiten und nicht mehr kalkulierbar sind. Während einer Demonstration vor dem Ministerrat warnte Jarosław Urbanski von der Inicjatywa Pracownicza: »Wenn ihr uns nicht erlaubt die Fabriken zu besetzen, werden wir sie anzünden!«

Przemysław Wielgosz ist Chefredakteur der polnischen Ausgabe von Le Monde Diplomatique

Übersetzung aus dem Polnischen: Kamil Majchrzak

Michal Stachura | 05.09.08 21:47 | Permalink