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Verrückter Kibbuz

“Sweet Mud”, der preisgekrönte Film des israelischen Regisseurs Dror Shaul, läuft endlich in unseren Kinos

Von Angelika Nguyen

Der Film beginnt mit einem Rätsel. Noch vor der ersten Szene ist ein Knacken zu hören, das wir nicht einordnen können. Bei jedem zweiten Knacken zersplittert das Filmbild, kriegt feine Risse. Was ist das für ein Knacken?

Israel 1974. Es ist ein heißer Sommer, den der junge Dvir im heimatlichen Kibbuz verlebt. In den Monaten vor seiner Bar Mizwa, seiner Jugendweihe, erfährt er Einiges, was für sein weiteres Leben entscheidend sein wird. Aber nicht die pädagogischen Gelände- und Betreuungsaufgaben im Vorfeld der Bar Mizwa sind es, die Dvir rasant heranreifen lassen, sondern die soziale Realität des Kibbuzes selbst. Ob es der Zwang ins ungeliebte Kinderhaus ist oder die heimliche Beobachtung der sexuellen Aktivitäten der Erwachsenen, sein zum Soldaten mutierter Bruder oder sein verschwundener Vater - Dvir erlebt alles in intensiver Dramatik. Zentrum seiner Sorgen jedoch ist seine endlos traurige Mutter Miri, die alle für verrückt halten. Selbst ihr älterer Sohn Eyal weiß nichts mit ihr anzufangen. Dvir dagegen hält zu seiner Mutter. Sie ist sein vertrauter Ort. Aber sie kann ihm nicht helfen. Im Gegenteil: Am Ende wird Dvir ihr auf eine Weise helfen, die ihn über seine Jahre weit hinaus wachsen lässt.

In Deutschland läuft der Film Jahre nach seiner Premiere und unter der etwas unzutreffenden Übersetzung “Sweet Mud”. Er setzt sich kritisch mit der Geschichte der Kibbuzim (hebräisch = Zusammenkunft) in Israel auseinander. Die Kibbuzim, eine Art ländliche Kollektivsiedlung, wollten nach marxistischen Idealen von der klassenlosen Gesellschaft leben. Soziale Unterschiede sollten durch Gleichstellung und gemeinschaftliche Erziehung außerhalb der Kleinfamilie verschwinden.

Am Beispiel des Schicksals von Dvirs Mutter zeigt Regisseur Dror Shaul, wie verheerend Basisdemokratie sein kann, wie zerstörerisch eine Gemeinschaft werden, die sich nicht mehr selbstkritisch hinterfragt. Das Kind Dvir, auf der Schwelle zur Pubertät, erlebt die in Israels Anfängen als fortschrittlich kreierte Lebensform der Kibbuzim nur noch in dessen Deformation, in einem speziellen Verrücktsein. “Adama meschugga’at” – “Verrückte Erde” heißt denn der Film auch im Original. Es ist die sehr persönliche Aufarbeitung Dror Shauls, eines ehemaligen Kibbuzkindes, seiner Vergangenheit und gleichzeitig in seiner Subjektivität sehr glaubwürdig. Das vielfältige Echo, Preise beim Sundance-Festival und der Berlinale, zeigen ein weltweites Interesse. Es ist ein schonungsloser Film über ein historisches Wahrzeichen Israels – die Kibbuzim – ohne es zu verraten. Ein Film aus Israel ohne Shoa, ohne Nahostkonflikt und doch ein Film über Israel und sein Ringen mit sich selbst.

Wenn auch die Figuren der Mutter und ihres Geliebten Stephan etwas starr bleiben wie auch ihre Liebesgeschichte reichlich abstrakt (was vielleicht nur die kindliche Sicht bestätigt), ist der Film insgesamt doch ein großes Kunstwerk. Vor allem wegen des Jungen Dvir , der sehr intensiv von Tomer Steinhof gespielt wird. Aber auch wegen der Abwechslung im Erzählton. Degenerierte Erwachsene setzt er gegen die bezaubernde Zartheit des Kinderpaares Dvir und Maya (Danielle Kitzis), die beiden schönsten Gesichter des Films, die Steifheit der Kibbuzfunktionäre gegen einen verspielten Drachen, Pädagogik gegen Kinderhumor, die Ausweglosigkeit der Mutter gegen die Flucht ihres Sohnes.

Es ist auch ein Film, der bewusst grandiose bewegte Bilder schafft: Da fliegt ein Stuhl ins Bild und zertrümmert einen Medizinschrank. Da fährt Dvir auf dem Fahrrad durch die flirrende Landschaft, da brennt eine ganze Stallanlage, da regnet es auf eine biblische Weise. Hier wollte jemand nicht nur eine Geschichte los werden, sondern auch Kino machen.

Der Schluss beginnt wieder am Anfang. Wieder dieses Knacken. Dvir liegt auf seinem Bett und kaut den französischen Lutscher, den Maya ihm geschenkt hat. Immer wenn er aufbeißt, knackt es. Dvir liegt da, guckt an die Decke und knackt den Lutscher. So verbringt er die Minuten vor der wichtigsten Tat seines Lebens.
So sieht ein Abschied aus.

A.S.H. | 29.08.08 12:57 | Permalink