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Prager Frühling ade.

Im August 1968 fuhren der italienische Dichter, Schriftsteller und bildende Künstler Nanni Balestrini, die Journalistin Letizia Paolozzi sowie der Semiotiker und spätere Romancier Umberto Eco und seine Frau Renate über Neuschwanstein und Marienbad nach Prag.

Balestrini war damals Lektor beim Mailänder Verlag Feltrinelli und leitete dessen Sitz in Rom.
Er gehörte der literarischen Neoavantgarde der Gruppo 63 an, die Sinn und Form der experimentellen Moderne propagierte. Mit Hilfe des Computers verfasste er Gedichte und den Roman Tristano (1964).

Einem größeren Publikum wurde er durch den Roman Wir wollen alles (1971) über die Kämpfe der Fiat-Arbeiter bekannt. Mit Die Unsichtbaren über die Generation von 1977 und Der Verleger über den bei einem Bombenanschlag ums Leben gekommenen Feltrinelli bildet es die Trilogie Die große Revolte, die dieses Jahr auf Deutsch im Verlag Assoziation A erschienen ist. Weitere Werke sind Die Goldene Horde, das mit Primo Moroni geschriebene Standardwerk über die sozialen Bewegungen der 70er Jahre, sowie die Camorra-Geschichte Sandokan und das Fußballfanepos I Furiosi.

Die Prager Reise hatte in diesen Tagen ein kurioses Nachspiel. Der Journalist Enzo Battiza, der damals aus dem Wiener Hotel Sacher für den Corriere della Sera über das Geschehen in Prag berichtete, hat Umberto Eco vorgeworfen, er hätte sich nur Sorgen um die SU gemacht. Balestrini sprang seinem damaligen Reisegefährten bei und betonte, dass ihre Sympathien sehr wohl auf Seiten derer lagen, die sich zur Verteidigung des Kommunismus gegen die Repression auflehnten. Die Journalisten, auch die linken, wollten und wollen nicht verstehen, dass es damals nicht um eine Auseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Kommunismus gegangen sei, sondern um einen Konflikt innerhalb des Kommunismus.

Der im Paese Sera, eine zur KPI-Presse gehörende, aber nicht parteioffizielle und sehr populäre Tageszeitung aus Rom, erschienene Artikel ist vor kurzem in einer 68er Anthologie des römischen Literaturverlags nottetempo wieder abgedruckt worden.

Reinhard Sauer


Prager Frühling ade.
Von Nanni Balestrini

Am 20. August 68 war ich mit Letizia Paolozzi, mit Umberto und Renate Eco nach Prag gekommen, um die Schriftsteller der Literární Listy zu treffen, der Zeitschrift, die zum Experimentierfeld und Sinnbild für den damaligen außergewöhnlichen Versuch politischer Veränderung geworden war. In derselben Nacht erfolgte plötzlich und unerwartet der militärische Einmarsch der Sowjetunion. Am Tag darauf habe ich aus Wien für den Paese Sera diesen Bericht geschrieben, wegen dessen mir politische Verantwortungslosigkeit und sogar Prosowjetismus vorgeworfen wurde.

Kaum in Österreich, eilen wir als erstes zum nächsten Bahnhof und suchen nach allen Zeitungen. Ausländische gibt es nur ganz wenige, wir finden sie erst an den Kiosken in der Innenstadt von Wien, wo wir schließlich in der Nacht erledigt ankommen. Beim Vergleich sieht man sofort, dass – während die französische, deutsche, englische und sogar die amerikanische Presse zwar reißerische Schlagzeilen und Artikel hat, gegenüber der Unmenge von überallher kommenden Informationen aber eher zurückhaltend ist - die österreichischen und italienischen Zeitungen jedoch die schlimmsten sind. Bei ersteren ist das noch zu verstehen, mit den ganzen Reportern an der Grenze und den Telefonen, die noch nach Prag funktionieren, sowie den ganzen tschechischen Untergrundsendern, die man von hier aus sehr gut empfangen kann. Was die italienischen Zeitungen jedoch schreiben, „Blutbad in Prag - Stunden des Terrors in Prag“, ist empörend. Gut, sie haben keine Korrespondenten in der Tschechoslowakei (die sind alle nach dem Ceauşescu-Besuch in die Sommerferien gefahren), aber so wie Egisto Corradi im Corriere della Sera vom Donnerstag zu schreiben, dass zahlreiche Prager Straßen in Flammen ständen, ist verrückt. In Prag, von wo wir eineinhalb Tage nach der Okkupation abgefahren sind, stand nämlich keine einzige Straße in Flammen. In der ganzen Tschechoslowakei, von der Hauptstadt bis zur letzten Kreuzung auf dem Land, fand ein riesiges ausgeflipptes Happening statt.

Meine Reaktion beim Lesen der italienischen Zeitungen gab mir den Anstoß, diese Eindrücke, das, was ich mit eigenen Augen von der russischen Okkupation habe sehen können, niederzuschreiben. Es interessiert mich dabei nicht, es politisch zu interpretieren, sondern nur zu versuchen, die Stimmung wiederzugeben. Am Vorabend jenes Mittwochs waren wir in Prag spät ins Bett gekommen, nachdem wir in der Laterna Magika gewesen waren. Dort hatten die vom Schriftstellerverband wie durch ein Wunder noch Plätze gefunden, und in der Tat war sie fast ganz von einer Reisegruppe schwedischer Langhaariger besetzt, die wie die Irren klatschten. Dann waren wir in das große Restaurant Secession am Platz der Republik gegangen, dann kurz noch weiter, um die zwei- oder dreihundert Leute zu sehen, die jeden Abend trotz des formellen Verbots der Obrigkeit vor den Grünanlagen an der Na Příkopě diskutieren (am Abend vorher hatten sie darauf verzichtet, die Unterschriftensammlung für den Aufruf fortzusetzen, in dem die Auflösung der Volksmiliz gefordert wurde), und schließlich zum Schwarzbier trinken in die mittelalterlichen Gastwirtschaft U Fleku.

Im Morgengrauen werden wir von Flugzeugen geweckt. Es ist wirklich nicht zu verstehen, warum zu so einer Uhrzeit so viele in allen Richtungen herumfliegen. Und als wir etwas später auf dem Flur auf die Hauswirtin stoßen, die uns teils auf Tschechisch, teils durch Gesten sagt, das sei die Okkupation und man könne die russischen Panzer sehr gut von der Terrasse aus sehen, da halten wir sie erstmal für verrückt. Bis dann im Wohnzimmer aus Radio und Fernseher Aufrufe kommen, auch auf Englisch und Deutsch, und wir auf die Terrasse stürzen, von der wir die ganze Prosecká, die große Allee und Zufahrtsstraße zur Stadt, übersehen, auf der ein Panzer nach dem anderen rollt, dumpf rasselnd; am Himmel überall Düsenjäger und Hubschrauber.

Es folgt ein Herumtelefonieren mit tschechischen Schriftstellern, mit Freunden, mit der Botschaft, um mehr zu erfahren und nach Rat zu fragen. Das Fernsehen sendet weiter Interviews, Kommuniqués, Erklärungen, aber kein wichtiger Politiker erscheint. Im Rundfunk heißt es, dass die Regierung und das Zentralkomitee der Partei ständig in von den Russen umstellten Gebäuden tagen. Er verbreitet auch Appelle auf Russisch, Polnisch, Ungarisch und Bulgarisch und rät den Okkupanten, aufzugeben und hinter ihre Grenzen zurückzukehren.

Die Fernsehkommentatoren (die seit sechs Monaten zu den berühmtesten Personen des Landes gehören) sind unrasiert, in Hemdsärmeln, aber merkwürdigerweise ruhig, distanziert und zuweilen ironisch. Sie wiederholen ständig, dass es nicht zu verstehen sei, warum die fünf Länder diese unsinnige Tat vollbringen, dass wohl ein Irrtum vorliegen müsse, dass sie ein sozialistisches Bruderland seien, die wie die anderen, sogar noch mehr als die anderen, dafür arbeiten würden, eine bessere Gesellschaft zu errichten. Sie laden Moskau ein, es sich noch mal zu überlegen, sich klar zu machen, dass es nicht mehr angebracht sei, derartige Methoden anzuwenden, da sie doch – wie immer schon - sehr wohl bereit seien, mit ihren sowjetischen Freunden zu diskutieren und zu kooperieren. Das ist der Beginn der Operation „der brave Kommunist Schwejk“ (und nichts anderes, so scheint es mir, als die Fortsetzung der ganzen Politik Dubčeks). Auf allen Straßen, auf allen Plätzen, in allen Ortschaften findet zwei Tage lang dasselbe Schauspiel statt: ruhige, distanzierte, zuweilen ironische Tschechen, die sich anstrengen, die Russen davon zu überzeugen, dass sie eine unnötige Dummheit begehen.

Wir gehen aus dem Haus und kehren erst in der Nacht zurück, nachdem wir kreuz und quer durch die ganze Stadt gelaufen sind. Auf Panzer (alles russische, denn welches die bulgarischen, ungarischen und polnischen Panzer sind, ist nicht erkennbar, vielleicht sind sie gar nicht da) treffen wir an fast jeder Straßenkreuzung, in Zweier- oder Dreiergruppen postiert. Um sie herum eine Menschenmenge. Viele Tschechen können Russisch und sprechen mit der Panzerbesatzung. Sie attackieren sie auch heftig, tippen sich mit dem Zeigefinger an die Stirn, wie um zu fragen, ob sie plötzlich zu spinnen angefangen hätten, erklären ihnen, dass sie sich in Prag, Tschechoslowakei, Mitglied des Warschauer Paktes, einem sozialistischen Land befänden. Sie haben auch schon Flugblätter auf Russisch gedruckt und vervielfältigt, wo dies alles in klaren und einfachen Sätzen zusammengefasst ist.
(Ich habe ganz vergessen zu sagen, dass der stärkste Eindruck, den wir vom Prag vor der Okkupation hatten, der ist, dass es schlagartig zur Hippie-Hauptstadt geworden war. Die Straßen und Plätze der Innenstadt waren immer voll mit jungen Männern und Frauen aus aller Herren Länder, mit geblümten Hemden und Miniröcken. Gitarrenspiel in Lokalen und auf Brücken. Die Hälfte der Bevölkerung in Blue Jeans. Die Männer mit den längsten Mähnen, die je zu sehen waren. Junge Leute aus allen Ländern mit Bart und Schlafsack, die überall kampieren.)

Der größte Teil der Leute, welche die Panzer umstellen, ist also jung und langhaarig. Aber auch zahlreiche Angestellte mit Aktentasche, die nicht ins Büro gegangen sind, Frauen mit Kindern im Kinderwagen und Einkaufstasche, Armeeoffiziere und Polizisten. Viele mit dem Transistorradio am Ohr. Es sind die Angestellten, welche mit den Russen die längsten Gespräche führen, die immer mit einem Schulterzucken und dem Ausbreiten der Arme enden. Da sagen die jungen Leute, dass das keine gute Art sei, nicht zuhören zu wollen, sie geben ihnen die Flugblätter und wenn sie die nicht wollen, klettern sie auf den Panzer und stecken sie ihnen in die Uniformtasche. Unterdessen haben sich weiter unten die kleineren Jungs und die Mädchen bunte Kreide besorgt und in kurzer Zeit sind die Panzer alle angemalt. Das am meisten wiederholte Motiv ist das Hakenkreuz, dann viele Wörter auf Russisch, die „Haut ab nach Hause – Wir wollen euch nicht“ bedeuten, und dann noch viele Dubčeks und Svobodas und überall große Fragezeichen.

Das Panzer-Happening läuft aller Orten so ab, auch auf dem Land. Sobald ein Panzer irgendwo stehenbleibt (was oft vorkommt, da es immer etwas gibt, das kaputt geht), kommt der ganze Ort an mit Kreide, Pinseln und Pappschildern, die überall angebracht werden, auf den Ketten, auf dem Vorderteil, um den Turm, hinten auf den großen Tanks, und drum herum eine große schimpfende, redende, diskutierende und gestikulierende Menschenmenge. Oft ist die ganze Panzerbesatzung so verstört, dass sie wieder hinein steigt und die Luke schließt. Da hängt die Menge die letzten Schilder auf, beschimpft noch ein letztes Mal lautstark die Soldaten, wirft ein paar Steine oder Grasplacken gegen die Panzerplatten, steckt dann eine Stange mit einer tschechoslowakischen Fahne in die Rohrmündung und alle ziehen wieder los, um zu sehen, ob sie noch weitere Panzer finden.

Die Russen sind alle sehr jung, haben himmelblaue Augen, sind eingeschüchtert und müde; sehr viele Mongolen, verblüfft. Sie haben allerstrengsten Befehl bekommen, sich nicht provozieren zu lassen, keine Waffen zu benutzen, wenn sie nicht angegriffen werden. Einige diskutieren auch lebhaft, antworten auf die Beschimpfungen, stoßen die Langhaarigen herunter, die sich auf den Panzerturm setzen wollen, drohen den Touristen, die aus zu großer Nähe filmen und fotografieren, mit der Hand. Die meisten aber haben die Augen aufgerissen, werden rot, wenn sie verstohlen auf die Miniröcke starren, verhaspeln sich beim Antworten auf die massiven Beschimpfungen der Jugendlichen in lila Hosen, versuchen, sich den in ihre Ohren gebrüllten Lektionen in Marxismus zu entziehen.

Lastwagen mit Gruppen von jungen Leuten, die schreiend und singend tschechoslowakische Fahnen schwenken, fahren hin und her, gefolgt von Scharen von Mopeds. Wir kommen vor dem Schriftstellerverband an; man kann nicht hinein, weil die Glastür zu ist und dahinter zwei mongolische Soldaten auf den Stufen sitzen. An anderen Stellen in der Stadt stehen die Soldaten in losen Reihen um Gebäude oder sperren eine Straße ab, vor sich immer einen Haufen Leute, die sie ausfragen, ihnen Flugblätter geben, während sie Transistorradio hören. Ab und zu sind Schüsse bzw. kurze Maschinengewehrgarben zu hören, aber niemand achtet darauf. Während wir noch auf dem Platz der Republik sind, sehen wir in Richtung Wenzelsplatz eine große, schwarze Rauchwolke. Bei der Umstellung des Rundfunks ist ein Panzer gegen ein Auto gestoßen, der Tank ist explodiert, das Auto brennt, dann auch ein in der Nähe stehender Bus und nun auch der Panzer. Die Soldaten versuchen, ihn mit Decken zu löschen. Die Leute drum herum schauen zu und geben ironische Kommentare dazu ab.

Aber es wäre langweilig, mit der Beschreibung immer ähnlicher Szenen ein und desselben Schauspiels fortzufahren. Dieses verändert sich auch am Tag darauf nicht, als wir im Auto die zweihundert Kilometer übers Land zurücklegen, die uns von der Grenze nach Österreich trennen. Neu sind die kyrillischen Schriftzeichen in weißer Kalkfarbe auf dem Asphalt der Landstraßen, fast alle stark gezeichnet von den Ketten der Panzer. Aufgemalt werden sie von kleinen Trupps von Soldaten unter dem Befehl von Unteroffizieren. Man kommt nur mit Mühe voran, weil die Straßenschilder alle übermalt, mit Papier überklebt, um sie unlesbar zu machen, verdreht sind oder Aufschriften tragen wie: „Moskau 3000 km“. Überall Plakate und Parolen, auf allen Masten, Bäumen, Straßenlaternen, über den Straßen Transparente: „ Dubček, Svoboda – Geht nach Hause zurück – Warum seid ihr mit Waffen gekommen? – Wir sind keine Kolonie – Wir wollen euch nicht – Wir sind der Sozialismus” usw. Fast alle auf Russisch.

Auf den Plätzen der Ortschaften, durch die wir kommen, steht oft bloß ein einziger russischer Soldat mit dem rotgestreiften Helm der Militärpolizei, der den Verkehr der Militärkolonnen regelt und dazu eine Fahne hoch über die Köpfe der ihn umringenden Menschentraube hebt. In einer kleinen Stadt ist es die örtliche Polizei, die den Verkehr regelt und immer zuerst den Panzern die Vorfahrt gewährt. Die ganze Bevölkerung steht auf dem Platz, hört Transistorradio, aus denen die tschechischen Untergrundsender immer weiter zur Ruhe gemahnende Botschaften und Meldungen jeder Art ausstrahlen. Alle grüßen herzlich die wegfahrende ausländische Wagenkolonne.

Auch an der Grenze steht ein Panzer, fünfhundert Meter vor dem Grenzposten, mitten auf einer Wiese. Die Zollformalitäten werden vollkommen normal abgewickelt, auch die tschechischen Zöllner sind ruhig, distanziert und etwas ironisch. Von der anderen Seite kommen ganz viele tschechische und auch ein paar ausländische Autos. In Österreich dann ein Stau und Hunderte von Leuten bei einem riesigen Picknick, die diesen weit weg mitten auf der Wiese stehenden Panzer fotografieren und mit dem Fernglas beobachten.

Aus: Junge Welt, 23.08.2008
Übersetzung (und dem Ostblog zur Verfügung gestellt von): Reinhard Sauer
Italienischer Originaltext: Nanni Balestrini u.a., La risata del ’68. Rom 2008, S. 5-16.

A.S.H. | 28.08.08 18:43 | Permalink