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“Kinder kommen aus Mamas Bauch oder aus Vietnam.”

“Lenin kam nur bis Lüdenscheid” – Dokumentarfilm von Richard Precht und André Schäfer über eine 68er Kindheit im Westen

Von Angelika Nguyen

Lenin kam nur bis Lüdenscheid. Schon der Titel. Ironie und der Vergleich von linker Gläubigkeit mit Religiösität, geschickt anlehnend an den Titel der berühmten Literaturverfilmung von Francesco Rosi “Christus kam nur bis Eboli”. Lüdenscheid wiederum ist in der bundesdeutschen Mediengeschichte unauslöschlich besetzt durch Loriots adligen Humor.

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Der Film beginnt mit einem verbalen Trommelschlag. “Ich wurde für ein Leben erzogen, das ich nicht leben konnte und auf eine Gesellschaft vorbereitet, die nie kam.” sagt im Off der, dessen Kindheit hier erzählt wird: Richard David Precht, Jahrgang 1964. Also eine DDR-Biographie, denkt so mancher. Tatsächlich handelt es sich jedoch um eine Kindheit jenseits der Mauer, eine Kindheit im Kapitalismus, allerdings in einem Milieu links-alternativer Ideologie. “Jede Kindheit ist anders, aber meine Kindheit war ganz anders anders als die anderen.”, so der ironische Kommentar. Eine linke Kindheit im gesellschaftlichen Klima des konsolidierten Kapitalismus der BRD der 60iger Jahre, im Aufbruch der Antikriegsbewegung, im Kalten Krieg mit der östlich-sozialistischen Welt, im Sturm der RAF. Fotos und 8-mm-Filme aus dem Familienarchiv der Prechts wechseln mit Dokumentaraufnahmen vom Krieg in Vietnam, von Demos in der Bundesrepublik, von Politikerreden, Wasserwerfern und Agent Orange. Hier wird ein privates Leben ständig in Bezug gesetzt zur politischen Weltgeschichte. Das legt auch den Ton fest. Richard Precht kann gar nicht anders, denn so ist er erzogen worden. Wenn er sagt, in welchem Jahr er geboren wurde, folgen Filmaufnahmen von Ereignissen, die sich in diesem Jahr auf der politischen Weltbühne abgespielt haben. Ein erzählerischer Ton, als wenn man einem Kind ein Märchen erzählt, aber übertrieben, ironisch. Der ist als Stilmittel gedacht und passt aber nicht immer. Indem Richard Precht nur das Politische im Privaten sucht, bleibt das Private auf der Strecke. Das Private bleibt geheim, soll geheim bleiben, aber da wir die Menschen sehen, von denen erzählt wird, damals und heute - Hanna, die Schwester, Marcel, der vietnamesische Adoptivbruder und Luise, die vietnamesische Adoptivschwester, die Eltern - teilt sich vieles eben über Körpersprache, Mimik, räumliche Arrangements mit. Die Waldgespräche von Hanna und Richard, zwei hoch gewachsene, leptosome Erwachsene, strahlen eine merkwürdige Kälte aus, eine stockende, distanzierte Reflektion der Kindererlebnisse. Noch distanzierter erscheint das Verhältnis des erwachsenen Richards zu seinem Adoptivbruder Marcel, dem gebürtigem Vietnamesen und zu seiner Adoptivschwester Luise, der gebürtigen Vietnamesin. “Ich habe vor dir immer Angst gehabt”, sagt Luise zu Richard und lacht es weg. Richard mit todernstem Gesicht: “Ich wollte dich anspornen.” Luise wirkt traurig. Langsam dämmert den Zuschauern, dass die politisch korrekte Adoption ihren Preis hatte, den wohl vor allem die beiden, Marcel und Luise, gezahlt haben. “Kinder kamen entweder aus Mamas Bauch”, resümiert Prechts Kommentar, den kindlichen Horizont des kleinen Richard nachahmend, “oder aus Vietnam.” Eine zentrale Erfahrung. Dazu steht ihm erstklassiges Filmmaterial zur Verfügung: Die Familie Precht als eine der ersten Adoptionsfamilien für vietnamesische Kinder kam seinerzeit sogar ins Fernsehen. Noch deutlicher wird das latente Dilemma von Adoptivkindern, die zudem den Kontinent wechseln, im Gespräch zwischen Marcel und Richard: Erwachsen sitzen sie am Küchentisch und Marcel sagt, er würde nie ein Kind adoptieren. “Ich als Adoptivkind würde mich meiner Wurzeln beraubt fühlen.” Mit gesenktem Kopf sitzt Marcel, das gerettete vietnamesische Kind, da und kann es nur in der dritten Person sagen. Richard sitzt daneben, unklar bleibt seine Position, aber der Film hat es so stehen lassen. Eigentlich ist das eine zutiefst schmerzvolle Anklage Marcels, der noch melancholischer wirkt als Luise.

Selbstgewiss hatte zuvor Prechts Vater argumentiert: “Was heißt denn hier, ein Kind aus einem fremden Kulturkreis reißen. Das Kind hat mit einem halben Jahr doch noch gar keinen Kulturkreis, keine Sprache. Es hat Hunger und Schmerzen.” Was erst mal plausibel klingt, ist möglicherweise nichts als die linksalternative Entsprechung zu westlich-kapitalistischem Kolonialismus. Dahinter steht, von zwei Enden aus gesehen, die Einbildung, dass ein Leben in der so genannten Dritten Welt nicht so lebenswert sei wie das hungerfreie in der Ersten. Dazu gehörte auch jene Kleinigkeit, dass die Precht- Eltern den beiden Adoptivbabys als erstes deren beide ursprünglichen vietnamesischen Vornamen weg nahmen, ein Stück Identität. Das stieß die linke Precht-Alternative an ihre Grenze und ist plötzlich genauso bürgerlich wie die, die sie bekämpfen wollen. Lachend wiederum erinnern sich Hanna und Richard der elterlichen Verbote und Erlaubnisse, die, weil mehr ideologisch als vernünftig gesteuert, komische Blüten trieben. So durfte keine amerikanische Cola getrunken oder Raumschiff Enterprise geguckt, aber Asterix und Obelix als einziges Comic gelesen werden, weil französisch. Vieles gerät durcheinander auch in Richards Kopf. Die filmische Reflektion dieses Durcheinanders ist witzig und gehört zu den Stärken des Films. So erscheint dem kleinen Richard die DDR, in der die linke Utopie bereits Wirklichkeit geworden ist, als eine Art umzäuntes kommunistisches Paradies, ähnlich dem Tierpark in Friedrichsfelde.

Zwei nachhaltige Erschütterungen der deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte beschreibt der Film eindrucksvoll als privaten Schock: die RAF und den Mauerfall. Da brachen dem Richard Precht Welten zusammen. Bis Solingen, klagt der Kommentar, kam Lenin nie. Das Erinnerungswerk eines Kindes der 68er Bewegung ist mit viel Akribie gemacht worden, wobei Ironie jede Art der Einfühlung verhindert. Das macht den Film auch ein bisschen gleichgültig. Das Schöne an Dokumentarfilmen jedoch ist, dass sie auch Unbeabsichtigtes dokumentieren. Im Interview betont Richard Precht, dass er mit “Lenin kam nur bis Lüdenscheid” einen Gegenentwurf plante zu den Frustrationen anderer 68er Kinder, die ihre antiautoritäre Kindheit im Nachhinein als Albtraum bezeichnen. Aber Prechts fröhliches Gegenbild ist gebrochen. Lebensverletzung und Schmerz der Protagonisten werden sichtbar, ohne thematisiert zu werden, vieles liest sich zwischen den Zeilen.

http://www.lenin-film.de/

A.S.H. | 16.06.08 13:51 | Permalink