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Warten auf Saville – 36 Jahre nach dem Blutsonntag von Derry

von Jürgen Schneider

Derry, Nordirland. Das neue Free Derry Museum liegt in der Bogside, einstigem Sumpfland außerhalb der Stadtmauern. Schon beim Betreten des Museums hört der Besucher Gewehrfeuer, Schreie, Rufe, Tumult. Erst später sieht er auf einem Großbildschirm die Szenen zu diesen O-Tönen: Aufnahmen vom Bloody Sunday.

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Battle of the Bogside, Wandgemälde der Bogside Artists (Dezember 2007)
Foto: Uta Baatz

Am 30. Januar 1972 drängten sich 20.000 Bürgerrechtler am Ende einer Demonstration gegen die Internierung ohne Anklage zur Abschlusskundgebung in Richtung Free Derry Corner, als Soldaten des britischen 1st Battalion Parachute Regiment gezielt und kaltblütig 108 Schüsse auf die unbewaffneten Demonstranten abfeuerten, selbst noch auf Leute zielten, die Verwundeten zu Hilfe eilen wollen. Als sich die Soldaten zwanzig Minuten später wieder zurückzogen, waren 13 Demonstranten tot, die Hälfte davon Jugendliche; fünfzehn weitere wurden schwer verletzt, von denen einer später seinen Verletzungen erlag.

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Die Opfer des Bloody Sunday, Wandgemälde der Bogside Artists (Dezember 2007)
Foto: Uta Baatz

Das vom Bloody Sunday Trust ins Leben gerufene Free Derry Museum befindet sich in einer kleinen Abzweigung der Rossville Street: Glenfada Park, am 30. Januar 1972 Schauplatz der Erschießung von zwei Demonstranten, fünf wurden hier angeschossen. Im Museum stehen Exponate zum Blutsonntag im Mittelpunkt: Kleidungsstücke und Familienfotos der Opfer sowie die 14 weißen Kreuze mit deren Namen, die stets beim Gedenken zum Jahrestag »dieses unentschuldbaren Aktes des Staatsterrorismus«, wie es der irische Premier Bertie Ahern später formulierte, mitgeführt werden. Dokumente des »Freien Derry« sowie der Plattenspieler von Radio Free Derry sind ebenfalls zu sehen. Auf Bild/Text-Tafeln wird das mörderische Ereignis Bloody Sunday in seinen historischen Kontext eingebettet.

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Der Plattenspieler von Radio Free Derry, Free Derry Museum (Dezember 2007)
Foto: Uta Baatz


Die Bürgerrechtsbewegung

Vor den 1960er Jahren war der Begriff »Bürgerrechte« in Nordirland nicht benutzt worden, um die Aspirationen der katholischen Minderheit zum Ausdruck zu bringen. Im Herbst 1963 versammelten sich im Städtchen Dungannon Demonstranten, um gegenüber dem Stadtrat die diskriminierende Vergabe von Wohnraum anzuprangern. Auf ihren Plakaten stand: »Wenn unsere Religion gegen uns spricht, dann verschifft uns nach Little Rock.« Diese Manifestation führte zur Gründung der Campaign for Social Justice (CSJ), der ersten Bürgerrechtsorganisation in Nordirland. Erst 1967 entstand die Northern Irish Civil Rights Association (NICRA). Diese war neben örtlichen Organisationen – in Derry etwa dem Derry Housing Action Committee und dem Derry Unemployment Action Committee – Teil der aufkommenden Bürgerrechtsbewegung. Diese war in ihrer Zusammensetzung heterogen: »Die politischen Ideologien reichten von einem vom Katholizismus geprägten Reformismus bis zu den revolutionären Forderungen des Maoismus.« Die Betonung der Bürgerrechtsbewegung lag auf Bewegung, auf Vielstimmigkeit. Doch bei den Zielen war man sich einig: Eine Ende der Diskriminierung bei der Vergabe von Wohnraum und Arbeitsplätzen. In Derry etwa lag die Arbeitslosenquote 1967 bei 20,1 Prozent. Das dort ausgeprägte »gerrymandering«, die gezielte Wahlkreismanipulation seitens der Unionisten, um die Mehrheiten in der Lokal- und Regionalverwaltung zu halten, sowie das diskriminierende Wahlsystem waren den Katholiken ebenfalls ein Dorn im Auge. Geschäftsleute und Grundeigentümer, in der Regel Protestanten, hatten je nach Umfang ihres Eigentums, mehrfaches Stimmrecht. Schließlich sollten auch die B-Specials, eine Hilfstruppe der Polizei, die mehr einer protestantischen Miliz entsprach, aufgelöst werden.

Die verbindliche Orientierung auf die Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen in den USA unter einem Martin Luther King garantierte Gewaltlosigkeit. »Martin Luthers Kings berühmte Worte ›I have a dream‹«, so Gerry Murray aus der Wohnsiedlung Creggan in Derry, »hatten eine sehr, sehr große Bedeutung für unsere Eltern und symbolisierten ihre Entschlossenheit dafür zu sorgen, dass die Ungerechtigkeiten ein Ende finden.« Protestiert wurde mit dem Lied »We shall overcome« auf den Lippen. Im Free Derry Museum wird zudem Bob Dylans Song ›Only a Pawn in Their Game‹ als Bezugspunkt genannt, in dem die Manipulation der armen Weißen durch rassistische Politiker besungen wird. Die Forderungen der Bürgerrechtsbewegung waren immanenter Natur, rührten nicht an der Legitimität des Staatengebildes Nordirland, wenn es auch innerhalb der Bewegung Aktivisten gab, die ein Vereintes Irland anstrebten. »Am wichtigsten war, dass sich die Bürgerrechtsbewegung anschickte, jenseits der diesen Staat definierenden Kategorie zu agieren – der Religion. Die binäre Kodierung des sektiererischen Dualismus von protestantisch und katholisch kennzeichnete die soziale und politische Maschinerie Nordirlands.«

Die unionistisch-protestantische Bevölkerungsmehrheit in den sechs nordöstlichen Grafschaften Irlands zeigte nicht den geringsten Willen, auf die Forderungen der Bürgerrechtsbewegung einzugehen, die unionistisch dominierte Führung lehnte einen Dialog ab und war nicht bereit, die katholische Minderheit am politischen Prozess oder gar an der politischen Macht zu beteiligen. Und mehr noch: Die friedlichen Bürgerrechtsmärsche wurden erbarmungslos zerschlagen.


Von der ersten Bürgerrechtsdemonstration bis zu Free Derry

Am 3. Oktober 1968 verbot die unionistische Regierung eine für den übernächsten Tag in Derry geplante Bürgerrechtsdemonstration. Das hielt 500 Bürgerrechtler, nicht davon ab, dennoch »One Man, One Vote« und ein Ende der Diskriminierung zu fordern. Sie wurden in der Duke Street von der RUC niedergeknüppelt. Fernsehbilder des von einem RUC-Polizisten mit einem Schlagstock traktierten gemäßigten Unterhausabgeordneten Gerry Fitt gingen um die Welt. Am 5. Januar 1969 griff ein von der RUC unterstützter loyalistischer Mob bei Burntollet eine von der studentischen Organisation People’s Democracy organisierte Langstreckendemo von Belfast nach Derry an. Als Reaktion darauf wurden in der Bogside Barrikaden errichtet, und es kam zu heftigen Auseinandersetzungen mit der RUC. John ›Caker‹ Casey malte den bis heute sichtbaren Schriftzug »You Are Now Entering Free Derry« an eine Giebelwand des Hauses Lecky Road, Nummer 33. Die Häuserzeile ist längst verschwunden, die Wand hat selbst den Versuch eines britischen Soldaten überlebt, sie mit Hilfe eines Panzerfahrzeuges zum Einsturz zu bringen.
Mit den Bürgerrechtsdemonstrationen und ihrem »karnevalesken Potenzial« wurde ein Recht reklamiert, das die protestantischen Unionisten und Loyalisten für sich allein in Anspruch nahmen mit der Absicht, dem Territorium mit ihren triumphalistischen und nach einem militärischen Ritual ablaufenden Märschen ihre Hegemonie einzuschreiben.
Am 19. April 1969 wurde der 42jährige Sammy Devenny von der RUC niedergeknüppelt; er starb am 16. Juli 1969. Am 12. Juli hatten die Märsche zur Erinnerung an den Sieg von Wilhelm von Oranien über Jakob II. in der Schlacht am Boyne des Jahres 1690 Gewalt ausgelöst. Die größte Bedeutung hat der von den Apprentice Boys jeweils am 12. August durchgeführte Marsch. Die Apprentice Boys haben sich nach jenen Lehrjungen benannt, die einst vor den anrückenden Heerscharen von König Jakob II. die Stadttore verriegelt hatten. Diesem Akt war eine 105 Tage dauernde Belagerung gefolgt.

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rechts: Wand mit der Aufschrift „You Are Now Entering Free Derry“;
links: Bloody Sunday, Wandgemälde der Bogside Artists (Dezember 2007)
Foto: Uta Baatz

Am Abend des 11. August 1969 wurden in der Bogside Barrikaden errichtet, um gegen Angriffe gewappnet zu sein. Die Vorkehrungen erwiesen sich als richtig. Das Viertel musste drei Tage und zwei Nächte mit Steinen und Molotowcocktails gegen die RUC verteidigt werden, die das Viertel in einen Nebel aus mehr als 1100 Tränengasgranaten hüllte. Am 14. August wurde die RUC in der »Battle of the Bogside« Richtung Stadtzentrum zurückgetrieben. Die unionistische Regierung mobilisierte die berüchtigten B-Specials. Um 16 Uhr desselben Tages wurden jedoch Soldaten des Prince of Wales-Regiments der britischen Armee in Bewegung gesetzt. »Die Soldaten wurden mit Tee und Lächeln begrüßt, doch binnen weniger Tage stützten sie sich auf den verhassten Special Powers Act und durchsuchten die Häuser von Katholiken«, wie es auf einer Bild/Text-Tafel des Free Derry Museum zur nicht lange währenden Freude über die Präsenz der britischen Soldaten heißt. Ende September errichtete die britische Armee Checkpoints. Die Barrikaden von Free Derry, das in einem Akt der Selbstverteidigung entstand, blieben bis Ende Oktober, um die RUC und die britische Armee fernzuhalten. Nachdem im Juli 1971 Seamus Cusack (28) und Desmond Beattie (19) von britischen Soldaten erschossen worden waren, erklärte der unionistische Politiker John Taylor, es müssten in den kommenden Monaten noch mehr »Subversive« derart aus dem Verkehr gezogen werden. Free Derry wurde wiederbelebt und erneut verbarrikadiert. Mitglieder der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) patrouillierten nun offen und bewaffnet in dem Gebiet, das neben Bogside auch die Viertel Creggan und Brandywell umfasste. In den befreiten Vierteln erkannte man eine großartige Verwirklichung der allgemeinen Sehnsucht nach Selbstbestimmung. Keine IRA hatte die Gründung solcher Strukturen veranlasst, die entstandenen Räte waren die genuinen Organe der Bevölkerung selber. Die sorgten für die Versorgung ebenso wie für die Verteidigung, sie schufen Ansätze einer eigenen Justiz. Free Derry war eine temporäre autonome Zone, wie sie später Hakim Bey in seinem Buch »T.A.Z. Temporäre Autonome Zone« definierte. Bey verweist auf die jedem System innewohnende Tendenz, permanente Strukturen zu entwickeln, die zwangsläufig die kreativen und radikalen Energien ermüden lassen, die zu seiner Entstehung geführt hatten. Der Aktivist Eamonn McCann berichtet über Free Derry: »Das Chaos, das wir um uns herum empfanden, war real und reicher an Möglichkeiten als diejenigen, die dann Wirklichkeit wurden (...) Keine politische Tendenz war hegemonial.« In Free Derry manifestierte sich die Weigerung, die Legitimität staatlicher Gewalt zu akzeptieren. Die Dynamik der Selbstverwaltung stellte eine Gefahr für die Existenz des nordirischen Staatengebildes und darüber hinaus des britischen Staates dar. Free Derry und ähnlichen »No Go Areas« in Belfast wurde mit der im Morgengrauen des 31. Juli 1972 begonnenen britischen »Operation Motorman«, bei der 21.000 Soldaten, Panzer und Bulldozer eingesetzt wurden, ein Ende bereitet. Danach war das Gebiet des einstigen Free Derry mehr als zwanzig Jahre lang militarisiert wie kaum ein anderes in Europa.


Internierung

Vor dem Hintergrund der Eskalation in Nordirland erfolgte im Januar 1970 die Spaltung der Irisch-Republikanischen Bewegung in einen »offiziellen« Flügel (Official IRA und Sinn Féin), der mit einem idealistischen Konzept der stufenweisen Überwindung der Klassenherrschaft in Irland aufwartete. Die anderen erklärten sich als die »Provisorischen« (Provisional IRA und Sinn Féin) und wollten so lange so heißen, bis eine befreite und wiedervereinigte Irische Republik geschaffen war. Dass die »Provos« dann jedoch die Officials in der Gunst der katholisch-nationalistischen Bevölkerung rasch überflügelten, lag daran, dass sie zu deren Schutzorganisation wurde. Margaret Bradley, eine Schwester des am Blutsonntag erschossenen Jim Wray, erklärt jedoch: »Damals war die IRA in Derry ein ziemlicher Witz. Nach dem Blutsonntag sagte sich die jüngere Generation jedoch: ›Wenn sie Unbewaffnete niedermähen können, wenn es so ist ...‹ So wurde die IRA in Derry stärker.«

Doch das unionistische Regime wollte ein Erstarken der IRA mit allen Mitteln ersticken und konnte die britische Regierung überzeugen, dass die Einführung der Internierung hierfür das geeignete Mittel sei. Doch die am 9. August 1971 begonnene »Operation Demetrius« geriet zu einem politischen und militärischen Fiasko, die Masseninternierungen und Folterungen bei Verhören führten zu einer breiten Solidarisierungswelle, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Internierung beileibe nicht nur IRA-Aktivisten traf – von den am 9. August 1971 internierten 342 Personen (16 davon aus Derry) waren lediglich dreizehn Provos.

Anfang 1972 waren bereits fast 1.000 Menschen interniert. Mit Einführung der Internierung hatte Nordirlands Premierminister Brian Faulkner für die Dauer von einem Jahr jegliche Demonstration verboten. Am 22. Januar 1972 knüppelten britische Soldaten Bürgerrechtler brutal zusammen, die gegen das Internierungslager in Magilligan bei Derry protestieren wollten. Faulkner verlangte, dass die Armee »Free Derry zerschlägt«. Die Organisatoren der für den 30. Januar geplanten Demonstration nahmen mit der örtlichen Provo-Führung Kontakt auf, die der Derry Civil Rights Association verbindlich zusagte, dass sich die IRA-Kämpfer an diesem Tag bewaffneter Aktionen enthalten würden.

Am 28. Januar segnete das »Cabinet Sub-Committee on Northern Ireland« sowie das »Joint Security Committee« der Londoner Regierung die Armeepläne RUC ab, gegen die Anti-Internierungsdemonstration vorzugehen und einen Tag später erklärten Armee und RUC gemeinsam, jegliche Gewalt müsse den Organisatoren der Demonstration angelastet werden. Zuvor hatte der Kommandierende der britischen Landstreitkräfte, General Robert Ford, in einem Memorandum empfohlen, auf die »ring leaders« der »Derry Young Hooligans« zu schießen.


Nach Bloody Sunday

Bloody Sunday markierte das Ende der Strategie der gewaltfreien direkten Aktion und des zivilen Ungehorsams, wie sie die Bürgerrechtsbewegung verfolgt hatte. Das Vorgehen der Fallschirmjäger bewirkte die totale Militarisierung des Konfliktes. Mit 467 Todesopfern, fast 5000 Verletzten, mehr als 10000 Schießereien und 1382 Bombenanschlägen wurde das Jahr 1972 zum schlimmsten in der Geschichte des euphemistisch ›Troubles‹ genannten Krieges. Mit der Zurückhaltung der IRA war es nach dem Blutsonntag endgültig vorbei. Kein Ereignis hat der IRA mehr neue Kämpfer und Unterstützer zugeführt als die Militäroperation der Fallschirmjäger in Derry.

Am 31. Januar 1972 hatte die britische Regierung einen Untersuchungsausschuss ins Leben gerufen, für den allein der Lordoberrichter Widgery verantwortlich zeichnen sollte. Die Vorgaben diktierte Englands Premier Heath dem Ex-Offizier während eines vertraulichen Treffens, dessen Protokoll erst 1995 auftauchte: »Es gilt festzuhalten, dass wir in Nordirland nicht nur einen militärischen, sondern auch einen Propagandakrieg führen.« Und so ignorierte Widgery denn auch die gerichtsmedizinischen Ergebnisse sowie weitere Beweismittel, die der Propaganda, aus den Reihen der Demonstranten sei das Feuer eröffnet worden, zuwider liefen. Auch mehr als 500 Zeugenaussagen aus Derry wurden – bis auf fünfzehn – von Widgery auf Empfehlung juristischer Berater einfach nicht zur Kenntnis genommen, Aussagen von Soldaten so modifiziert, dass sie die Armeeversion der Ereignisse stützten. Widgery führte in seinem Bericht aus, es bestünde der starke Verdacht, dass einige der Getöteten Schüsse abgefeuert oder mit Bomben hantiert hätten. Dieser Verdacht konnte durch nichts erhärtet werden. Den Armeevorgaben befolgend, erklärte Widgery weiter: »Es hätte am 30. Januar keine Toten in Londonderry gegeben, wenn nicht diejenigen, die den illegalen Marsch organisierten, damit eine höchst gefährliche Situation geschaffen hätten, in der ein Zusammenstoss zwischen den Demonstranten und den Sicherheitskräften nahezu unvermeidlich war.« Der Bischof von Derry, Edward Daly, erklärte später:»Widgery hat die Unschuldigen für schuldig, und die Schuldigen für unschuldig erklärt.«

1992 starteten die Angehörigen der Opfer des Blutsonntages die Bloody Sunday Justice Campaign mit den Forderungen: a) den Untersuchungsbericht Widgerys für null und nichtig zu erklären b) die Unschuld der Erschossenen offiziell zu bestätigen und c) die Verantwortlichen anzuklagen.

Am 29. Januar 1998 kündigte der damalige englische Premier Tony Blair eine neue Untersuchung der Bloody Sunday-Ereignisse unter der Leitung von Lord Mark Saville an, weil er glaube, dass es in jedermanns Interesse sei, dass die Wahrheit ermittelt und erzählt wird. Dies sei der Weg zu einer notwendigen Versöhnung als Voraussetzung einer sicheren Zukunft für Nordirland. Die Saville-Untersuchung »stellt eine politische Intervention dar, die helfen soll, den problematischen Friedensprozess zu stabilisieren. Es ist ein strategisches Konstrukt, über das in einer Übergangsperiode, die vom gewaltsamen Konflikt weg führt, die Vergangenheit in der Gegenwart etabliert werden soll«.

Die Kommission unter Saville tagte in der Guildhall von Derry von 1998 bis Anfang 2005. An 367 von insgesamt 435 Sitzungstagen wurden die mündlichen Aussagen von 922 Zeugen gehört. Weitere 1563 Zeugenaussagen erfolgten auf schriftlichem Weg. Der Kommission lagen zudem 121 Ton- sowie 110 Videobänder vor. Keiner der angehörten Soldaten gestand die Verantwortung für die Toten und Verletzten ein. Robert Ford hatte an einer Absperrung in Derry das Vorgehen der Soldaten beobachtet. Vor der Saville-Kommission sagte der einstige Kommandeur und heutige »Sir«, er habe »nichts« gesehen. Unmittelbar nach den Schüssen vom 30. Januar 1972 hatte er in einem BBC-Interview die Zurückhaltung und das verantwortungsvolle Verhalten der Fallschirmjäger angesichts der mörderischen Angriffe auf sie betont. Die Soldaten hätten lediglich drei Schüsse abgefeuer. Sein Kollege Derek Wilford, einst Kommandeur der Fallschirmjäger, erklärte, er habe einst nur »1 %« der Aktivitäten seiner Soldaten verfolgen können. Beweismittel, wie die von den Fallschirmjägern verwendeten Gewehre, verschwanden unter »entschieden verdächtigen Umständen«, die von den zehn am 30. Januar 1972 eingesetzten Armeefotografen geschossenen Fotos wurden vernichtet.

Auf einer Tafel im Free Derry Museum steht zur Saville-Untersuchung, die Unschuld der Opfer, die Schuld der Soldaten sei eindeutig erwiesen worden. Doch in dem Satz »Wir warten ab, in welchem Maße der Saville-Bericht der Wahrheit Rechnung tragen wird« klingt eine berechtigte Skepsis an. Der lang erwartete Saville-Bericht und somit die »definitive« Version der Ereignisse des Blutsonntags von Derry soll im Mai, spätestens aber im Juni vorliegen. Welche Wahrheit wird Saville erzählen? Ein Zurück zu Widgerys Verdikt kann es für ihn nicht geben. Das verbietet allein schon die ihm gleichsam auferlegte Mitverantwortung am Fortgang des Friedensprozesses. Doch inwieweit werden die Opfer rehabilitiert werden? Wird Saville Schuldige in der britischen Armee benennen? In der damaligen britischen Regierung gar? Und wenn ja, wird dies Folgen nach sich ziehen? Warten auf Saville.


1 Tom Herron & John Lynch, After Bloody Sunday. Representation, Ethics, Justice. – Cork: Cork University Press, 2007, S. 13. Herron und Lynch untersuchen, wie und mittels welcher Mechanismen das ikonische Ereignis Bloody Sunday fotografisch, filmisch, literarisch, künstlerisch sowie auf rechtlicher Ebene aufgearbeitet und präsentiert wurde und wie es jeweils um die behauptete »Authentizität« oder »Wahrheit« bestellt ist.

2 a.a.O., S. 14

3 vgl. a.a.O., S. 16/17

4 Hakim Bey, T.A.Z. Temporäre Autonome Zone. Übersetzt von Jürgen Schneider. – Berlin/Amsterdam: Edition ID-Archiv, 1994; vgl. Herron/Lynch, S. 18 ff.

5 Herron/Lynch, S. 49

6 a. a. O., S. 116

7 a. a. O., S. 115


A.S.H. | 29.01.08 17:25 | Permalink