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Schleyers „unverständlicher Tod“ und die deutsche Geschichte

[n-tv] „30 Jahre nach der Ermordung von Arbeitgeber- Präsident Hanns Martin Schleyer durch die RAF hat der Autokonzern Daimler in mehreren überregionalen Zeitungen an sein früheres Vorstandsmitglied erinnert. ‚Sein Tod ist bis heute unverständlich‘, heißt es in der gemeinsamen Todesanzeige von Vorstand, Aufsichtsrat und Belegschaft. ‚Hanns Martin Schleyer hat das Bild unseres Unternehmens, aber auch Deutschlands, sowohl mit seinem Weitblick und seinem Verständnis von Werten, die es zu erhalten galt, als auch mit seinem unternehmerischen Wirken nachhaltig geprägt.‘ “

Der frühere RAF-Aktiviste Rolf Clemens Wagner sagte in der heutigen jungen Welt zu den Gründen von Schleyers folgendes dazu:

„Manche Ergebnisse unserer Überlegungen bleiben auch aus heutiger Sicht richtig. Wie die Entscheidung, Hanns Martin Schleyer zu entführen. Der wurde mit seiner SS-Geschichte als Wehrwirtschaftsführer in besetzten Gebieten und seiner aktuellen Funktion als Aussperrer und Präsident des Unternehmerverbandes ja nicht zufällig ausgesucht. Und gerade an ihm hätten wir unsere Analyse und Politik vermitteln können. Also die historische Kontinuität, für die er stand beispielsweise. Das geschah nicht. Statt dessen wurde aus diesem Politikum einfach zuwenig gemacht. Er war Gefangener, und das war es schon. Es gab überhaupt keine politische Erklärung, sondern lediglich die Forderung nach Austausch von Personen, dann wieder eine Warnung an die Bundesregierung sowie Texte, die Schleyer geschrieben und gesprochen hat. Aber nichts von uns selbst.“

Wegen dieser Äussage prüfe jetzt, laut n-tv, die Berliner Staatsanwaltschaft , ob sie ein Ermittlungsverfahren gegen Wagner einleiten werde.

So arbeitet man im Jahre 2007 deutschen Geschichte auf.

[Dokumentation]

junge Welt 13.10.2007

Das Kleingedruckte. Stammheim, der Staat und die RAF

Wolfgang Hänisch

In diesem Monat jährt sich zum 30. Mal die Nacht von Stammheim. Am Morgen des 18.10.1977 wurden die Gefangenen aus der RAF Andreas Baader und Gudrun Ensslin tot, Jan-Carl Raspe und Irmgard Möller schwer verletzt in ihren Zellen im Hochsicherheitsgefängnis von Stuttgart-Stammheim gefunden. Bis heute ist unklar, was damals genau geschah. Zum besseren Verständnis veröffentlichen wir historische Details, die offiziell keine Rolle spielen sollen. (jW)

Köln, 5. September 1977. Ein 450er Mercedes fährt gegen 17.25 Uhr die Friedrich-Schmidt-Straße entlang. In dem Wagen sitzen der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Hanns Martin Schleyer, und sein Fahrer Heinz Marcisz. In einem zivilen Polizeifahrzeug folgen die Personenschützer Reinhold Brändle, Roland Pieter und Helmut Ulmer. Ein blauer Kinderwagen, der auf der Straße steht, zwingt Marcisz zu einer Vollbremsung. In diesem Moment eröffnen fünf Maskierte das Feuer. Alle außer Schleyer sterben im Kugelhagel. Schleyer wird aus dem Wagen gezogen und in einen VW-Bus geschleppt. Er wird Geisel des RAF-Kommandos Siegfried Hausner.

Prag, 5. Mai 1945, Aufstand gegen die Nazi-Besatzungsmacht. Im Schulgebäude des 4. Bezirks hat sich eine SS-Einheit verschanzt, die zwanzig Geiseln, Beschäftigte der Firma Janeceln, in ihrer Gewalt hat. Die tschechischen Aufständischen verhandeln mit dem SS-Kommandanten über die Freilassung der Geiseln. Dieser verlangt dafür im Gegenzug, daß seine Frau und sein Kind herbeigebracht werden sollen. Um Mitternacht wird die Frau, die ein kleines Kind auf dem Arm trägt, mit einem Auto zum Schulgebäude gebracht und gegen die Geiseln ausgetauscht. Die Aufständischen ziehen sich zurück. Einen Tag später richtet die SS in unmittelbarer Nähe des Schulgebäudes ein Massaker unter der Zivilbevölkerung an: Im Keller des Hauses 253 und im Garten des Hauses 254 werden 41 Menschen erschossen aufgefunden: unbewaffnete ältere Männer, Frauen und Kinder.

Am 8. Mai 1945, dem Tag der deutschen Kapitulation, bringt eine SS-Einheit Geiseln aus der Prager Zivilbevölkerung in ihre Gewalt, setzt sich aus Prag ab und erreicht abends die amerikanischen Linien, wo sie sich gefangennehmen läßt. Der Führer dieser SS-Einheit wird als gedrungener, breitgesichtiger Mann mit dicken Lippen und Mensurnarben auf der Wange beschrieben, dessen Namen auf »Meier oder so ähnlich« endet. Der einzige SS-Führer in Prag, auf den die Beschreibung passen könnte, ist Hanns Martin Schleyer. Er ist zu diesem Zeitpunkt 30 Jahre alt, seine Frau hatte ihm am 1. November 1944 einen Sohn geboren.

Seit 1931 Mitglied der HJ, dann der SS und der NSDAP. Jurastudium in Heidelberg, dort »Amtsleiter« des NS-Reichsstudentenwerks, einer Tarnorganisation des Sicherheitsdienstes (SD); Mitunterzeichner eines Denunziantenberichts an das badische Ministerium für Kultur und Unterricht; 1938 Leiter des NS-Reichsstudentenwerks in Innsbruck, ab 1941 in Prag, dort als SS-Führer und Leiter des Präsidialbüros im Zentralverband der Industrie für Böhmen und Mähren in Prag tätig.

Hanns Martin Schleyer 1975 bei einem Empfang des BDA-Präsidiums zu seinem 60. Geburtstag: »Es kam die Zeit des Dritten Reichs, bei dessen Ausbruch ich 17 Jahre alt war, und ich scheue mich gar nicht zu erklären, daß für uns Jugendliche damals ein Auftrieb sichtbar wurde, dem wir uns zur Verfügung stellten: Ich trat sofort in den freiwilligen Arbeitsdienst ein und freute mich in Wirklichkeit auch darüber, daß der Klassenkampf, der sich in den furchtbarsten Formen auf den Straßen abgespielt hatte, nun ein Ende nehmen konnte.«

Quelle: http://www.jungewelt.de/2007/10-13/010.php

A.S.H. | 18.10.07 12:54 | Permalink