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documenta XII: Im Vorraum des Museumsshops

von Jürgen Schneider

Einer der Ausstellungsorte der derzeit in Kassel stattfindenden documenta XII ist das Schloss Wilhelmshöhe. In dem klassizistischen Bau von 1789 befinden sich die Antikensammlung und eine Gemäldegalerie Alter Meister der Staatlichen Museen Kassel, in der u. a. Werke von Dürer, Tizian, Poussin, Snyders und Rembrandt zu sehen sind. Das Schloss gehört erstmals zum documenta-Parcours. Vor dem herrschaftlichen Bau, auf der Blickachse Richtung Stadt, hat der thailändische Künstler Sakarin Krue-On in räumlicher Fortsetzung der Kaskaden des schwergewichtig aufragenden Herkulesdenkmals ein terrassiertes Reisfeld angelegt. Der Nassreisanbau ruft sichtlich nach Flutung, die Erde ist rissig, doch die Frage bleibt: Wer ist wem Kulisse, das Schloss mit seinen Artefakten der transferierten Natur oder diese dem Bauwerk?

Ins Schloss haben die Ausstellungsmacher Roger M. Buergel und Ruth Noack zwischen die dortigen Sammlungsexponate einige documenta-Werke gehängt, die in der Formlosigkeit der Großausstellung als solcher auf die Migration der Form verweisen sollen sowie auf eine Zeitachse, die tief in die Vergangenheit führt. Da hängen dann etwa unter einem Museumsbild, das eine Szene mit Schwarzen in Abessinien zeigt, zwei Gemälde des in Chicago lebenden Künstlers Kerry James Marshall, auf deren Bildfläche ebenfalls Schwarze zu sehen sind. Die Dinge, so Buergel, sollen miteinander zu sprechen beginnen, ästhetische Querverbindungen sollen ins Auge fallen, das Publikum soll in das kompositorische Tun der Ausstellung als Medium einbezogen werden.
Einer solch banalen Illustrierung eines »Formenschicksals« (Buergel/Noack) ausgesetzt, verlässt der Betrachter rasch die Schlossräume, den Kippenberger-Spruch »TSCHAU MEGA ART BABY!« auf den Lippen (vgl. Martin Kippenberger, Wie es wirklich war. Am Beispiel Lyrik und Prosa. Hrsg. v. Diedrich Diederichsen (2007), S. 340).
Wer nicht den Fahrstuhl nimmt, sondern im Treppenhaus bis in die unterste Etage hinab steigt, gelangt in einen kleinen Vorraum des Museumshops, in dem der Blick auf drei Kunstwerke einer Installation fällt, die nicht mit dem letzten Element der Inszenierung, der für Ausstellungen üblichen Tafel versehen sind, die den Künstler, den Titel, die Materialien, Größe und Entstehungsjahr nennt und dem wahrnehmenden Subjekt auferlegt, worauf es seine Wahrnehmungsabsicht zu richten hat. Hier also, in der subalternen Infrastruktur des Ausstellungsgebäudes, in einer Art Verbindungsweg, der eine nützlichkeitsgerichtete Wahrnehmungshaltung auferlegt (vgl. Rémy Zaugg, Die List der Unschuld (2004), S. 153) fehlt die Inszenierung eines bestimmten semantischen Bereiches durch einen wie auch immer gearteten Titel (vgl. a. a. O., S. 298).
»Endlich eine Stimmigkeit innerhalb eines Raumes, endlich eine Transzendenz der Formen«, kommentierte eine sich auf dem offiziellen documenta-Rundgang wähnende Besucherin, bevor sie von einer Museumsbediensteten barsch aus dem kompositorischen Tun der Show verscheucht wurde: »Was haben Sie denn hier zu suchen?«
Zunächst sieht der Betrachter, der sich nicht vertreiben lässt, zwei von Gebrauch gezeichnete Euro-Paletten, auf denen ein Holzbrett ruht.

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Auf der Oberfläche dieses Holzbrettes hat sich eine in seiner Farbintensität variierende schwarze Spur oder Form eines Objektes abgelagert, das seiner Identifizierung harrt. Schräg gegenüber lehnt ein schwarzer Müllsack, der sowohl unten als auch oben verschnürt ist.

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Über seinen Inhalt lässt sich nur spekulieren. Hat der Müllsack einst auf dem Holzbrett seinen Platz gehabt, ihm seine Form eingeschrieben? Ist der daneben hängende Flaschenzug Teil der Installation oder bloßes Werkzeug, mit dem der Müllsack an einen höheren Punkt gehievt werden soll? Wenn ja, wozu? Und was hat es mit dem unbehandelten Holzrahmen auf sich, der ebenfalls an der Wand lehnt. War er mit Leinwand bespannt? Oder wartet er noch auf seine Bespannung: Heute getackert, morgen bemalt? Oder haben wir es mit der Idee eines Objektes zu tun?
Das dritte Werk in diesem Durchgangs- oder Vorraum wirft weitere Fragen auf. Auf dem Boden unterhalb eines kreisförmigen, zur technischen Ausstattung des Hauses gehörenden Apparaturenteils ist eine ebenfalls kreisförmige, in seiner natürlichen Farbe belassene Arbeit platziert, deren filigrane Leichtigkeit durch das Schwarz des Bodens besonders betont wird.

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Es handelt sich um ein Korbgeflecht, das im Haushalt gewöhnlich als Brotkörbchen dient, in Gotteshäusern hingegen bei der Kollekte Verwendung findet. Wollte uns der Künstler darauf verweisen, dass – wie Jean Baudrillard es formulierte (vgl. Die Intelligenz des Bösen (2006), S. 93/94) – »die echte Demokratie im »transästhetischen Anbruch einer Welt lag, in der jedes Objekt ohne Unterschied seine Viertelstunde Ruhm erlebt ...?« Oder wollte er zu verstehen geben, dass er nicht auf dem boomenden Kunstmarkt reüssiert und daher auf Almosen angewiesen ist? Wäre es so, müssten wir uns – mit Buergel/Noack gesprochen – auf der Zeitachse in die Vergangenheit bewegen. Dann kämen wir bei den Gesten von Duchamp an, der sein Porzellan-Urinal (Fontaine, 1917) mit R. Mutt signierte, was sich durchaus als »Armut« lesen lässt. Das R., so Calvin Tomkins, kann aber auch für Richard stehen, was im französischen Argot »Geldsack« bedeutete (vgl. Marcel Duchamp. Eine Biographie (1999), S. 217). Wie beim Duchamp’schen Badezimmerzubehör hat es auch beim Korb des uns nicht genannten Meisters keinerlei Bedeutung, ob der Künstler selbst Hand anlegte oder nicht. Beide haben einen gewöhnlichen Gegenstand des alltäglichen Lebens »ausgewählt« und ihn so platziert, dass seine nützliche Signifikanz verschwand, die Kunst im Zeichen einer Ästhetisierung das Feld der Realität besetzte.
Im Vorwort zum documenta-Katalog schrieben Buergel/Noack: »Uns kam es darauf an, weder Künstlernamen noch irgendwelche vereinheitlichenden Konzepte oder gar geopolitische Identitäten (...) in den Vordergrund zu stellen. (Documenta 12 Katalog. Catalogue (2007), S. 11). Kaum eine Künstlerin, kaum ein Künstler hat die Absichten der Ausstellungsmacher so präzise deutlich werden und solch erhellende Korrespondenzen aufscheinen lassen, wie jene oder jener Ungenannte in der Enge des Vorraums zum Museumsshop des Schlosses Wilhelmshöhe. Kein Wegweiser weist auf dieses gelungene Ensemble hin. Sowohl im documenta-Katalog wie auch im documenta-Bilderbuch versagt die reflexartige Suche nach einer Erklärung. Die Künstlerin/der Künstler blieb schlichtweg ungenannt. Nicht einmal als »anonym« ist diese dreiteilige, in einem besonderen architektonischen Kontext erstellte skulpturale Arbeit ausgewiesen. Warum diese Unterlassung? Herr Buergel und Frau Noack, klären Sie auf: »Rundgang ist alles, Authorität hilft nach.« (Kippenberger, a. a. O., S. 288)

documenta XII, Kassel, bis 23.09.07, www.documenta.de
(Fotos: Jürgen Schneider)

natter | 21.06.07 13:49 | Permalink