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»A wonder wild« – Eine kreative Verneigung vor Lucia Joyce

von Jürgen Schneider

Im Jahr 1934 sagte James Joyce: »Die Leute reden von meinem Einfluss auf meine Tochter, aber was ist mit ihrem Einfluss auf mich?« Die Frage interessierte lange niemanden, war doch die Tochter Lucia des irischen Schriftstellers als »geisteskrank« abgestempelt worden. In Biographien ihres Vaters wird sie, wenn überhaupt, nur am Rande erwähnt, als Verrückte, die dem Genie das Schreiben schwer machte. Richard Ellmann, der Verfasser des bis heute als die Joyce-Biographie geltenden Mammutwerkes James Joyce, hat an der Durchsetzung des Bildes von Lucia als einer »Verrückten« mitgewirkt, obwohl er anhand der ihm vorliegenden Materialien und Aussagen von Zeitzeugen durchaus zu einem anderen Schluss hätte kommen können. Nach Veröffentlichung seiner Biographie wandte er sich an ehemalige Mitglieder des Kreises um Joyce und fragte, ob Lucia einst irgendwelche Symptome für Geistesgestörtheit gezeigt habe. »Die Beweise, die nach und nach zusammenkamen, schienen am Ende zwingend zu sein: Joyces Tochter mag mentale Probleme gehabt haben, doch sie war keine ›Irre‹.« Zu diesem Schluss kommt die Literaturwissenschaftlerin Carol Loeb Shloss in ihrer Biographie Lucia Joyce – Die Biographie der Tochter.

Wäre es nach den Nachlaßverwaltern von Joyce unter Federführung seines Enkels Stephen gegangen, hätte es diese Biographie nicht gegeben. Ihre Entstehungsgeschichte ist gekennzeichnet von Drohungen gegenüber Shloss und ihrem New Yorker Verlag, von der Bespitzelung der Biographin durch »Kollegen« aus der Joyce-Forschergemeinde, von Beeinträchtigung ihrer Bibliotheksrecherche. Auch dafür hatte der in Frankreich lebende Enkel gesorgt. Dessen Drohungen, sie zu verklagen, wenn sie aus Werken oder Materialien zitiere, deren Copyright bei den Nachlaßverwaltern liege, zeigten ihre Wirkung: Biographin und Verlag entschlossen sich, etwa zehn Prozent des Inhaltes zu streichen. Als nach Erscheinen des Buches Kritiker anmerkten, Shloss habe viele Ausführungen nicht belegt, beschloss sie, zusätzliches Material ins Internet zu stellen. Doch Stephen Joyce war, wie nach dessen jahrelanger Obstruktionspolitik gegenüber Joyce-Forschern kaum anders zu erwarten, dagegen. Im Juni 2006 ließ Shloss in den USA ein »Fair Use«-Verfahren anstrengen, um sich die Offenlegung der Materialien und Zitate, auf die sie sich stützt, nicht weiter verbieten zu lassen. Das Verfahren »Shloss gegen The Estate of James Joyce« ging zugunsten der Biographin aus. Stephen Joyce gab im März 2007 nach und unterzeichnete eine Vereinbarung, die es Shloss erlaubt, ihr Supplement-Material ins Netz zu stellen und auch in gedruckter Form zu veröffentlichen. Das Veröffentlichungsrecht ist allerdings auf die USA beschränkt, die Website www.lucia-the-authors-cut.info soll nur Computernutzern mit einer US-amerikanischen IP-Adresse zugänglich sein.
Lucia Joyce kam am 26. Juli 1907 auf der Armenstation des Ospedale Civico der Adriastadt Triest als zweites Kind von Nora Barnacle und James Joyce zur Welt. Ihre Mutter zog den zwei Jahre früher geborenen Sohn Giorgio ihr Leben lang vor. Die beiden Kinder wurden in ihrem Leben von »geisterhaften Geschwistern« begleitet – von den Figuren, die ihr Vater in seinen Werken auftreten ließ. Joyces »Ulysses« und »Finnegans Wake« wurden zu Rivalen der Kinder, und Lucia, die dem panoptischen Blick des stets nach literarisch Verwertbarem suchenden Vater ausgesetzt war, entwickelte eine Obsession, Tochter eines zunehmend berühmten Papas zu sein, dem alle öffentliche Aufmerksamkeit galt. Die häufigen Wohnungswechsel ließen Lucia zu einem kosmopolitischen Kind werden »mit Erfahrungen, die ihr weit mehr abverlangt hatten als Kindern, die in stabileren Verhältnissen und in einem ruhigeren Elternhaus aufwuchsen«. In Paris verschrieb sich Lucia dem modernen Tanz und kam in Berührung mit der surrealistischen Bewegung, »die nicht nur die Bourgeoisie schockierte, sondern auch die westliche Vorstellung von Genie radikal in Frage stellte«. Lucia verehrte Charlie Chaplin, hörte Jazzmusik, die der dernier cri war, und gewann den Mut, selbst Gedichte und später auch einen Roman zu schreiben. Ihre literarischen Zeugnisse wurden aber von »wohlmeinenden« Joyce-Unterstützern und Mitgliedern der Familie Joyce ebenso vernichtet wie ihre Briefe und hunderte von Briefen, die ihr Vater an sie adressierte. Gegenüber der »New York Times« führte Stephen Joyce aus:»Ich wollte nicht, dass gierige kleine Augen und gierige kleine Finger über sie glitten ...«
Lucia war Elevin von Robert Duncan, der »seinen Schülern beibrachte, ihre Körper rauschhaft-dynamisch zur Verehrung des Gottes Dionysos einzusetzen«. Zu Lucias weiteren Tanzlehrern gehörten u. a. die englische Tänzerin Margaret Morris und der aus Schweden nach Paris gekommene Tänzer Jean Borlin. Sie trat mit der Frauentanzgruppe Les six de rythme et couleur auf und wirkte in Jean Renoirs Film La petite marchande d’allumettes mit. Lucia und ihre Mittänzerinnen waren Teil einer auch von sexueller Freizügigkeit gekennzeichneten Gegenkultur und, so Shloss, »nichts anderes als Pariser Hippies«. Die Ballettlehrerin Hélène Vanel berichtete von Lucias »wundervoller Weise«, tanzend »ihre Träume zum Ausdruck zu bringen, mit ihrem ganzen Ich, ihrem Körper und ihrer Seele«. Ihr Vater schrieb an seine Mäzenin Harriet Shaw Weaver: »Lucia tanzt durch alles hindurch.« Eleganter wohl als ihr Vater, der den Beobachtungen seines Künstlerfreundes Frank Budgen nach einst durch das nächtliche Zürich gehüpft war, in einem Zusammenspiel »herumwirbelnder Arme, hochfliegender Beine, grotesker Sprünge und spröde wirkender Grimassen«. »Die Neigung, Tanzfiguren zu erfinden«, so Budgen, »muß sich auf seine Tochter Lucia vererbt haben.« Lucia, so Shloss, wurde zu einem »feu follet, einem Irrlicht, einem wunderschönen Geschöpf, das unsere Begierden repräsentiert und die Unmöglichkeit, sie in der gewöhnlichen Welt zu befriedigen«.
Als Anfang 1929 ihrer Mutter die Gebärmutter entfernt werden musste, sorgte Lucia sich um sie. Zugleich musste sie feststellen, dass ihr Vater ihr keine Beachtung schenkte und sich statt dessen um die Karriere des irischen Tenors John Sullivan kümmerte. Es missfiel ihr auch, dass ihr Bruder ein Verhältnis mit der zehn Jahre älteren Helen Kastor Fleischmann unterhielt. Bis dahin hatten Lucia und Giorgio einander sehr nahe gestanden. Hélène Vanel gegenüber hatte Lucia von »seltsamen Abenteuern« mit ihrem Bruder berichtet, deren Charakter allerdings »in geheimnisvolles Dunkel« gehüllt blieb. Lucias Situation sollte sich in der folgenden Zeit noch verschlimmern, als sie trotz eines Angebots, in Darmstadt Tanz zu unterrichten, hauptsächlich von ihrer Mutter gedrängt wurde, ihre Tanzkarriere aufzugeben. Lucia war untröstlich und weinte einen Monat lang. Nicht ihr Scheitern, sondern ihr Erfolg als Tänzerin hatte »im Familienkreis Unfrieden« aufkeimen lassen. »Für andere, nicht für sie selbst war die ›Position einer Lehrerin an der Margaret-Morris-Schule zu grandios‹.«
Nachdem sie in rascher Folge von verschiedenen Männern enttäuscht worden war – darunter Samuel Beckett und der amerikanische Bildhauer Alexander Calder – und auch die Verlobung mit Alex Ponisovsky, dem Schwager von Joyces Freund und homme d’affaires, Paul Léon, für gescheitert erklärt werden musste, erlitt Lucia einen Nervenzusammenbruch und wurde Ende Mai 1929 von ihrem Bruder mit Hilfe eines Täuschungsmanövers in die Klinik von L’Hay-les-Roses eingeliefert. Im Gegensatz zum Vater, drängte Giorgio nun immer wieder darauf, dass Lucia weggeschlossen bleiben möge. Das Geheimnis, warum ihm so sehr daran lag, hat er mit ins Grab genommen. In L’Hay-les-Roses diagnostizierte man bei Lucia eine Form von Schizophrenie. Diesem Klinikaufenthalt sollten weitere Einweisungen in Anstalten und Kliniken folgen, Konsultationen mit immer neuen Ärzten und unterschiedlichen Formen der »Therapie«. Einer ihrer Therapeuten war C. G. Jung, dem Joyce wegen dessen Äußerung, die Sprache von »Ulysses« sei die »eines Geschöpfs mit ernsthafter Einschränkung der zerebralen Aktivität«, sowie wegen seiner Vorbehalte gegenüber »old Sykos who have done our unsmiling bit on ’alices« (Finnegans Wake (FW) 115.21-22) nicht recht über den Weg traute. Jung hat die Krankenakten seiner ehemaligen Patientin vernichtet, so dass sich nicht sagen lässt, was seiner Meinung nach eigentlich Lucias Problem war. Seine Mitarbeiterin Cary Banyes, die Lucia betreute, notierte allerdings: »Augenscheinlich ist man geneigt, sie für verwirrter zu halten, als sie wirklich ist.« In den Kliniken und Anstalten beobachtete man sie nicht mehr wegen ihrer wild-graziösen Tanzbewegungen, sondern um in die innersten Winkel ihrer Psyche vorzudringen. Lucia empfand dies als »Versuch, sich meiner Seele zu bemächtigen.«
Da neben Jungs diagnostischen Aufzeichnungen auch andere medizinische Unterlagen unwiederbringlich verloren gegangen sind, gewann Shloss Rückschlüsse auf die Therapie, der Lucia unterzogen wurde, indem sie untersuchte, wie Patienten den klinischen Lehrbüchern der sie behandelnden Ärzte zufolge behandelt werden sollten. Sie würdigt die Theorien in ihrer eigenen Zeit und auch vor dem Hintergrund der Sexualethik ihrer Generation .
Angesichts der Situation seiner Tochter befiel Joyce eine düstere Schwermut, die ihn bis an sein Lebensende nur noch selten verließ. Er gab sich die Schuld: »Jedes Fünkchen Begabung, das ich habe, ist auf Lucia übergegangen und hat in ihrem Hirn ein Feuer entfacht.« Was immer ihm sein Umfeld raten, wie immer es Lucia beurteilen mochte, Joyce, der sie in seinem Gedicht ›A Flower Given to My Daughter‹ als »A wonder wild« gepriesen hatte und sie abgöttisch liebte, stellte sich grundsätzlich auf ihre Seite. Später traute er, wie Paul Léon an Harriet Shaw Weaver schrieb, »nur noch einem einzigen Menschen, und dieser Mensch ist Lucia«. Auf Lucia, so Léon, sei Joyces »sprühende Begabung« übergegangen. »Daher das Gefühl der Verantwortung, das Mitleid, das Verlangen, den spirituellen Durst zu löschen, den er in ihr hat entbrennen lassen.«
Hatte Brenda Maddox in ihrer Biographie Nora Barnacles diese als Joyces Muse bezeichnet, so sieht Shloss in Lucia dessen »dunkle Muse«. Die Schrift der väterlichen Feder sei mit der Schrift von Lucias Körper zu einem Dialog zweier Künstler geworden. Finnegans Wake kann Shloss zufolge unter anderem als Brief gedeutet werden, den Joyce an seine Tochter adressierte. Das Werk könne sowohl als Enteignung der Erfahrung eines Kindes angesehen werden wie auch als Akt der Wiedergutmachung, als ein Werk, dessen fortschreitende Komposition zu den mentalen Problemen der Tochter beigetragen und zugleich den Wunsch seines Schöpfers bewirkt habe, Lucia, »the hardest crux ever« (FW 623.32-33), zu versichern, dass sie nicht »a way a lone a last« sei, sondern auch »a loved« FW 628.15). Der Einfluss Lucias auf den Entstehungsprozess von »Finnegans Wake« lässt sich wegen der Polyperspektivität dieses opus magnum jedoch nur als ein Schlüssel zu diesem »dreamland« (FW 615.28) verstehen.
Dem Schriftsteller Jacques Mercanton gegenüber hatte Joyce seiner Hoffung Ausdruck gegeben: »Wenn ich endlich diese finstere Nacht hinter mir habe, sage ich manchmal zu mir, dann wird auch sie gesund werden.« Diese Hoffnung sollte sich nicht erfüllen. Joyce hatte Lucia im von den Nazis besetzten Frankreich zurücklassen müssen. Er starb kurz nach der Ankunft in Zürich. Lucias Leben endete am 12. Dezember 1982 im St. Andrew’s Hospital im englischen Northampton. Von ihrer Mutter, gestorben 1951, war Lucia nie wieder besucht worden, und Bruder Giorgio, gestorben 1976, weilte nur ein einziges Mal in England bei ihr, im Jahr 1967. Bestrebungen der New Yorker Buchhändlerin Frances Steloff, Lucia 1959 aus St. Andrew’s herauszuholen und ihr eine Anstellung im Gotham Book Mart zu verschaffen, wurden im Keime erstickt. Es ist nicht bekannt, wer die Befreiung Lucias aus dieser düsteren Institution hintertrieb, wo sie mit Medikamenten ruhig gestellt wurde. Ein Teil von Lucias Nachlass fiel in die Hände von Stephen Joyce, »eben jenes Mannes, der es später für besser befand, dass die genaue Geschichte ihres Lebens nicht ans Tageslicht kommen sollte, da sie ›privat‹ sei und nur die Familie etwas angehe«.

Carol Loeb Shloss, Lucia Joyce – Die Biographie der Tochter. Aus dem Amerikanischen von Michael Müller. – München: Knaus Verlag, 2007, 654 S., geb., € 29,95

Zusammen mit Hans-Christian Oeser schrieb Jürgen Schneider die Biographie James Joyce – Leben, Werk, Wirkung. – Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag, 2007.

natter | 21.06.07 13:11 | Permalink