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„ ... da ist irgendwo ein Damm gebrochen“

Das ist ein Zitat des Münchener Polizeipsychologen Georg Sieber zur Eskalationsstrategie der Polizei auf der Anti-G8-Demonstration in Rostock am 02.06.2007. Weiter:
„Man hat äußerste Gefährdung vorgegeben oder tatsächlich empfunden, man hat zu Sicherheitsmaßnahmen gegriffen, die weit in die Rechte von Menschen eingriffen. Das nenne ich bereits eine Eskalation, das war höchste Eskalationsstufe eigentlich überhaupt. Und was mich gewundert hat: Die Demonstranten waren zu Beginn - wir hatten zwei Beobachter vor Ort, die gaben per Telefon durch, "das ist eine Stimmung hier wie bei der Loveparade" ... Und richtig los ging es ja eigentlich erst, als ein Polizeiwagen beschädigt wurde. Und da ist doch sehr vieles passiert, was man unter Polizeibeamten als unverhältnismäßige Reaktion bezeichnen würde ... Tatsache ist, daß die Polizei in diesem Falle, also überhaupt Sicherheitskräfte, im geschlossenen Einsatz, fast ausschließlich im geschlossenen Einsatz vorgingen, was nun ungefähr seit den 70er Jahren einfach als einsatztechnische Dummheit bezeichnet wird ... man darf dann eben nicht Landesherrenattitüden annehmen und unbedingt Herr der Lage sein wollen. Eine Demonstration gehört den Demonstranten, das muß man nun mal wirklich so sagen ... Dann kommen natürlich noch ein paar andere Grundsätze dazu, zum Beispiel, daß eine Demonstration eine Veranstaltung von Demonstranten ist, die natürlich sauer reagieren oder sich bedroht fühlen, wenn man ihnen die Straße wegnimmt oder wenn man ihnen den Platz verkleinert.

Es ist eigentlich in Rostock alles lehrbuchgerecht so gemacht worden, wie es nicht sein soll.

Und die Beamten lernen das natürlich auch auf der Polizeiakademie, daß man es so nicht macht. Also deswegen war dieser Einsatz von vornherein eigentlich daneben ...
Jetzt zum Beispiel sieht man ja auch, die Dienstherren der Polizei bekommen auf allen Sendern die Gelegenheit, ihre Polizeibeamten jetzt kräftig zu loben für diesen Einsatz und sogar ihnen zu danken dafür. Das wirkt natürlich für jemanden, der sich auskennt, wirkt das natürlich richtig komisch, daß ich erst einen unsinnigen Einsatz zulasse und dann nachher die Beamten dafür belobige ...

das [die Eskalation] ist ja womöglich sogar auch politisch so gewollt.

Also das ist kein Vorwurf, das ist einfach eine Feststellung. Nur was immer ein bißchen nach Doppelmoral riecht, daß man jetzt sagt, oh, die Demonstranten haben es eskalieren lassen - und das ist natürlich gar nicht richtig. Das ist ganz objektiv so, dass es bis jetzt keine Großveranstaltung gab, die derartig im Vorfeld schon vorgeheizt und vorgesichert wurde.“

Das mit dem Polizeiwagen
erinnerte mich an eine Demonstration Anfang der 90er, die in Berlin-Friedrichshain endete. Der Demozug lief in eine leicht ansteigende Seitenstraße der Frankfurter Allee und ich konnte quasi von unten einen ca. 120 Meter entfernt abgestellten Polizeiwagen ausmachen. Sonst gab es da keine Autos. Mir war klar, was das zu bedeuten hatte, so konnte ich einigen älteren Demo-Teilnehmerinnen sagen, daß die Demonstration gleich enden wird und sie sich in Sicherheit bringen sollten. Es lief ab, wie von der Polizei bzw. den politischen Auftraggebern geplant. Dazu bedarf es nur noch der Idioten, die ohne Bewußtsein, Teil einer Inszenierung zu sein, wie Pawlow´sche (Reflex)Hunde sich auf das Auto stürzen. Was dann folgt ist klar, die Wasserwerfer und Räumpanzer biegen um die Ecke, denn sie sind ja auch schon vorher da, alles geht seinen Lauf. Damit es tatsächlich genau so verläuft, gibt es noch einige zusätzliche Sicherheitsschrauben, z.B. den Einsatz von Agents provocateurs in autonomem Outfit, oder die Polizei heizt die Aggression innerhalb der Demonstrantinnen noch während des vorhergehenden Marsches durch einige unbegründete Prügelorgien an, so daß es später eines relativ geringen Anlasses bedarf, sich zu entladen. Die Polizisten selbst können in den Tagen davor ebenfalls aggressiv aufgeladen werden, daß ist durch Leute, die davon was verstehen, relativ einfach zu machen, das beginnt bei der kasernierten Unterbringung in zu engen Räumen und endet nicht bei angstmachenden Informationen in Lagebesprechungen.

Das mit dem Lob
stimmte ja schon einen Tag später nicht mehr, denn da kamen in den Medien auch schon die Kritiker zu Wort, die „den Harten machen wollen“, z.B. CDU-Bundestagsabgeordneter Ole Schröder und der innenpolitische Sprecher der CSU im Bundestag, Stephan Mayer, die tatsächlich den Einsatz der GSG 9 fordern, die mystifizierte Elite-Truppe soll es richten, oder der Vorsitzende des Bundestagsinnenausschusses Sebastian Edathy von der SPD, der befürwortet jetzt sogar den Einsatz von Gummigeschossen.
Vor allem machen diese Forderungen die Unkenntnis und Dummheit und/oder die Absicht, die innenpolitischen Zustände zu noch mehr Repression zu verschieben, deutlich.
Erinnert sei hier, daß in gemeinsamen Vergleichswettkämpfen zwischen GSG 9 und verschiedenen Länder-SEK, die SpezialEinsatzKräfte im Ausbildungsstand schon in den 90er Jahren gleichgezogen hatten. Und die sind längst Bestandteil der Polizeieinheiten, die größere Demonstrationen aufzumischen versuchen. Herrn Schröder und Herrn Mayer wären die vermummten Polizisten in Uniform oder die durchtrainierten Polizisten in Zivil längst aufgefallen, wenn sie mal an einer größeren Demonstration oder als deren Beobachter teilgenommen hätten. Das „gezielte Herausgreifen von Gewalttätern“, wie es CSU-Mayer nur der GSG 9 zutraut, trainieren und beherrschen schon die einfachen Polizei-Bereitschafts-Hundertschaften (wenn sie nicht auf organisierte Ab- und Gegenwehr treffen!).
Ja und die Gummigeschosse, auch ein Lieblingsthema der Möchtegerne, sie führten längst zu zahlreichen Toten (vor allem in Nordirland aber auch in der Schweiz) und sind deshalb in fast allen europäischen Ländern verboten.

Das Interview mit Georg Sieber in ungekürzter Fassung:
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kulturinterview/631797/

david | 05.06.07 14:04 | Permalink