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Toleranzgrenze überschritten - Wer sind die wahren Franzosen?

Der Pariser Soziologe Mathieu Rigouste im Gespräch mit Emmanuelle Piriot und Kamil Majchrzak über eine Integrationsdebatte in Frankreich, die für Nachschub an Feindbildern und Vorurteilen sorgt

Spricht man heute in Frankreich über Ausländer, ist immer von Integration die Rede. Wann ist dieser Begriff eigentlich entstanden?

MATHIEU RIGOUSTE: In der Kolonialzeit. Damals meinte Integration ein juristisches System, das den Kolonisierten ein Statut geben sollte. Dann wurde der Begriff bis Ende der siebziger Jahre nicht mehr verwendet, bis man realisierte, die Immigranten werden dauerhaft im Land bleiben und ihre Kinder damit Franzosen sein. Seither wird wieder von Integration gesprochen, als gelte es von Neuem, eine Grenze zwischen den Franzosen zu ziehen.

Warum geschieht das?

Weil schon immer ökonomische Krisen die Neigung heraufbeschworen haben, Immigranten mit Arbeitslosen gleichzusetzen. Außerdem warf 1979 die Revolution im Iran die Frage auf, ob die französischen Muslime treu zur Regierung in Paris stehen oder eher einer fremden islamischen Macht folgen. Seinerzeit versuchte Frankreich, die Republik neu zu definieren: Wer sind die wahren Franzosen? Wer ist loyal? Wer bedroht die Integrität des Staates? Die Französische Republik zog es vor, sich vorzugsweise im Verhältnis zu ihren mutmaßlichen Feinden zu definieren. Dabei wurde – gemessen an der Kolonialzeit – die Vorstellung von Integration komplett umgekehrt, und daran hat sich bis heute nichts geändert: Man will die Anderen nicht mehr aufnehmen und ihnen Rechte geben – man verlangt, dass sie sich einer souveränen Ordnung unterwerfen: der Republik.

Gibt es objektive Kriterien für dieses Verständnis von Integration?

Nein. Integration ist ein komplett subjektiver Begriff. Wir können als Sozialwissenschaftler untersuchen, wie ein Migrant kämpft und wie er beherrscht wird. Wenn wir uns aber mit der Integration beschäftigen, dann müssen wir die dominanten Diskurse über Integration beleuchten. Denn sie bestimmen, mit wem man verhandeln und kooperieren kann – und wen man betreuen oder überwachen, einschließen oder ausstoßen wird.

Steht das noch im Einklang mit den republikanischen Werten Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit?

Während der Kolonialzeit war juristisch festgeschrieben, dass bestimmte Personen nicht über alle Rechte verfügten. Im post-kolonialen Frankreich hingegen gilt: Wer im Land geboren wurde, ist Franzose und genießt theoretisch alle Rechte. Tatsächlich aber werden bestimmte Menschen erneut mit einem Bann belegt, indem man zwischen wahren und falschen Franzosen unterscheidet. Der Bann ist symbolisch und kulturell – vollzogen wird er institutionell. Das heißt, die Polizei greift im wohlhabenden 16. Arrondissement von Paris nicht in der gleichen Weise ein wie im 18. – in den Quartiers am Gare du Nord und Gare de l’Est. Wenn Sie in diesen Gegenden aufwachsen, haben Sie nicht die gleichen Rechte, wie jemand, der im reichen Vorort Neuilly groß wird.

Folgen die Debatten über den Fremden den Krisen des Kapitalismus?

Bei jeder Krise des Kapitals heißt es, alle Fremden seien potenzielle Arbeitslose oder Arbeitsdiebe. Ich habe das für die siebziger und achtziger Jahre untersucht, da war dieser Zusammenhang sehr offensichtlich: Sobald die Wachstumsraten sanken, tauchte dieser Diskurs wieder auf. Sogar vor der Ölkrise. Das Nationale Institut für demographische Studien etwa verbreitete den absurden Begriff »Toleranzgrenze«. Sie sei überschritten, da die echten Franzosen einen Geburtenrückgang verzeichneten und die Franzosen aus den ehemaligen Kolonien einen Geburtenüberschuss.

Mit anderen Worten, es werden Feinde gesucht…

… und das gilt für die Politik wie für Wirtschaft. Um die permanente Reproduktion der geltenden Ordnung zu rechtfertigen, muss eine imaginäre Bedrohung geschaffen werden. Die Menschen sollen Kontrolle, Repression und Abhängigkeit regelrecht wünschen. Und es ist der Andere – der von anderswo kommt oder politisch abweicht –, der als Verantwortlicher für die Krise auserkoren wird.

Hat sich seit dem Aufstand in den Banlieues Ende 2005 etwas verändert?

Nach der Revolte wurde in Medien und Politik ein ganzes imaginäres Universum beschworen, um die soziale Bewegung in den Vierteln zu entpolitisieren. Damit mutierten alle, die Widerstand leisteten zum unbewussten Feind – quasi zum Barbaren. Ich darf das sagen, ich bin in einer Cité, in einer Vorstadt, aufgewachsen, wo ich noch immer lebe. Der Großteil der Jugendlichen dort ist ultra-politisiert.

In der öffentlichen Darstellung sieht das anders aus.

Ja, man begreift die Viertel und die Gewalt als einen Virus, verwendet einen medizinischen Wortschatz und sagt: Wenn man die Krankheit nicht behandelt, wird sie den gesamten Körper der Nation befallen. Also schickt man Mediziner in die Viertel, rigorose Wissenschaftler. Ihre Technik ist sauber und streng. Die soziale Misere wird ausgespart. Das lässt Platz für die Behauptung, wir hätten zu viele Menschen von außerhalb aufgenommen. Obendrein würden sie nicht arbeiten wollen und sich nur darauf verstehen Karren abzufackeln. Es handelt sich um eine Strategie, den Feind zu entpolitisieren. Wenn der Andere nicht politisch ist, darf er seine Rechte nicht einfordern. Er findet keinen Platz im republikanischen Spiel, und man behandelt ihn wie eine Bedrohung der Nation.

Das Gespräch führten Emmanuelle Piriot und Kamil Majchrzak. Gleichzeitig erschienen in Freitag # 16 vom 20.04.07

Mathieu Rigouste ist Wissenschaftler am Institut Maghreb Europe der Universität Paris 8.

Michal Stachura | 20.04.07 10:42 | Permalink