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Neue Menschenrechtsstudie in Brasilien

Rückschritt unter Staatschef Lula
Außergerichtliche Exekutionen von Kindern und Jugendlichen
Wirtschaftsentwicklung auf Kosten der Menschenrechte
--von Klaus Hart, Sao Paulo--
Manchem wird es aufgefallen sein: Bei der Berichterstattung deutscher Medien über den Besuch von Bundespräsident Köhler in Brasilien, über dessen Treffen mit Lula fehlte das Thema Menschenrechte fast völlig. Dabei lag den deutschen Medien sehr ausführliches Material neuester Studien zur gravierenden Lage vor. Viele Drittweltbewegte in Deutschland, die Lula als einen Progressiven definieren, bejubelten auch dessen zum Amtsantritt von 2003 abgegebenes Versprechen, sich energisch für die Menschenrechte der 185 Millionen Brasilianer einzusetzen.

Obwohl schon damals sehr ernste Zweifel angebracht waren. Jetzt betont eine neue, von Experten der Bundesuniversität von Sao Paulo erarbeitete Studie, daß es unter Lula just bei den Menschenrechten deutliche Rückschritte gegeben hat.
Bei der Vorstellung der brisanten Studie in der Bundesuniversität von Sao Paulo saßen besonders hochkarätige Experten auf dem Podium. Unter ihnen Paulo Vanucci, der für Menschenrechtsfragen zuständige Minister in der Lula-Regierung, sowie Paulo Sergio Pinheiro, Senior der brasilianischen Menschenrechtsbewegung, und seit einigen Jahren Mitglied der UNO-Menschenrechtskomission in Genf sowie der entsprechenden Komission der Organisation Amerikanischer Staaten. Die mehrere Kilo schwere Studie konstatiert, daß in jedem der 26 Teilstaaten Brasiliens die Bürgerrechte gravierend verletzt werden. Pinheiro im Exklusivinterview: “Es gab einen Rückschritt bei den Menschenrechten – entgegen allen Hoffnungen, die wir beim Übergang zur Demokratie hatten. In Brasilien werden heute viel mehr Kinder und Jugendliche außergerichtlich exekutiert als 1980.“
Mit anderen Worten: Unter dem von interessierter Seite als progressiv, gar als links eingestuften Lula gibt es also mehr Exekutionen als 1980, unter der Diktatur der Foltergeneräle.
Pinheiro weiter:“Was in den brasilianischen Ghettos, Slums geschieht, interessiert die Autoritäten einfach nicht. Evident, daß die Kinder und Jugendlichen dort ein sehr hohes Lebensrisiko erleiden. Da muß man einfach Solidarität zeigen! In Brasilien bleiben die meisten Morde unaufgeklärt, nur zwei Prozent der Mörder kommen vor Gericht. Mittels Korruption der Politiker, der Regierenden – und oft auch mit Hilfe der Politiker - konnte sich das organisierte Verbrechen über Jahrzehnte in den Elendsvierteln von Rio de Janeiro, Sao Paulo und anderen Millionenstädten festsetzen - beherrscht, terrorisiert mit hochgerüsteten Banden die dortige Bevölkerung, macht den Menschen das Leben zur Hölle. Evident, daß diese keine Basis-Menschenrechte haben.“
UNO-Experte Pinheiro kritisierte bereits 2005 öffentlich, daß zwei Minister der Lula-Regierung, also Kulturminister Gilberto Gil und der heutige Chef von Lulas Arbeiterpartei, Ricardo Berzoini, vom organisierten Verbrechen die Erlaubnis zum Besuch eines Rio-Slums eingeholt hatten, wie die Zeitungen berichteten. Pinheiro sagte damals, daß der brasilianische Staat große Teile seines Territoriums nicht mehr kontrolliere. Beide Minister hätten sich zudem im Slum von 15 Männern unterstützen lassen, die just von den Gangstern ausgesucht worden seien:“All dies ist ein Skandal – geschähe derartiges in Berlin, Paris oder London, würde das im Parlament diskutiert, würde die Regierung stürzen.“
Jetzt, am Rande der Pressekonferenz zur Vorstellung der Studie, betont Pinheiro: “Der Staat ist in den Elendsvierteln nicht präsent, man überläßt die Bewohner dem eigenen Schicksal – und dem organisierten Verbrechen. Die Gangstersyndikate artikulieren sich weiterhin mit Politikern, Regierenden – die jedermann bekannten, wirklichen Bandenchefs werden nicht behelligt.“
Der Sozialwissenschaftler und Professor Paulo Mesquita von der Bundesuniversität Sao Paulo zählt ebenfalls zu den Autoren der Studie:
“Es gab einen Rückschritt bei den Menschenrechten, weil eine Serie wichtiger Programme durch die Regierung abgeschwächt oder sogar gestoppt wurde, man Mittel kürzte, politische Unterstützung versagte, Organisationsstrukturen reduzierte. Und das waren immerhin Programme gegen die Gewalt, für die Garantie von Menschenrechten für bestimmte soziale Gruppen. Internationale Abkommen wurden ebenso mißachtet wie die Verfassung.“
Bei der Präsentation der Studie ließ aufhorchen, daß neben der Lula-Regierung auch die Privatwirtschaft als mitschuldig, mitverantwortlich für gravierende Menschenrechtsverletzungen genannt wurde. Paulo Mesquita: “Die Regierung fördert Wirtschaftsentwicklung häufig um jeden Preis, auf Kosten der Menschenrechte, läßt den Schutz ganzer Bevölkerungsgruppen, darunter der Indianer, außer Acht. Diese Menschen werden als Entwicklungshindernis gesehen. So wird beispielsweise in Amazonien Urwald vernichtet, wird dort die großtechnische Landwirtschaft, das Agrobusiness ausgeweitet, werden Staudämme gebaut, gibt es deshalb scharfe soziale Konflikte, nimmt in diesen Regionen die Mordrate stark zu. Das ist ein sehr ernstes Problem! Der Schutz der Menschen und der Umwelt muß garantiert sein.“

Klaus | 22.03.07 23:05 | Permalink