« Genfood vertraulich, nicht geheim: Eine Reportage die nicht gesendet werden darf | Hauptseite | Wird jetzt Russland zum "Schurkenstaat"? »

Brasiliens paramilitärische Slum-Milizen - ein neuer Machtfaktor

Angolanische Ex-Savimbi-Söldner unterstützen organisiertes Verbrechen
--von Klaus Hart, Sao Paulo--
In Lateinamerikas größter bürgerlicher Demokratie eskaliert die Gewalt vor allem in den Großstädten, werden die Menschenrechte der besonders betroffenen Slumbevölkerung dadurch immer mehr eingeschränkt. Die Entsendung einer speziellen Eingreiftruppe der Zentralregierung in die nach Sao Paulo zweitwichtigste Wirtschaftsmetropole Rio de Janeiro zeigt bisher keinerlei nennenswerte Resultat. Verbrecherorganisationen verüben weiterhin Terroranschläge. Gewaltforscher kritisieren daher, daß es Brasilien an kompetenter Führung mangele.

Der Staat garantiere seinen Bürgern immer weniger Sicherheit und Gerechtigkeit, unterstütze neuerdings jedoch sogar die Bildung paramilitärischer Milizen. Im Parallelstaat der Slums bilden sie einen neuen Machtfaktor.
Das organisierte Verbrechen Brasiliens begeht immer mehr spektakuläre Gewalttaten von hohem Symbolwert. Auf der vielbefahrenen Stadtautobahn von Rio de Janeiro stoppte ein schwerbewaffnetes Kommando sogar erstmals den Konvoi der Präsidentin des Obersten Gerichts, Ministerin Ellen Gracie, raubte sie und ihren Stellvertreter, Minister Gilmar Mendes aus und brauste mit deren Limousine davon. Trotz der in Rio stationierten Eingreiftruppe Brasilias sperren Banditenkommandos weiterhin Straßentunnel an beiden Seiten ab, plündern die wie in einer Falle festsitzenden Autofahrer aus. Um Macht zu demonstrieren, werden Busse in Brand gesteckt, Blutbäder verübt. Von den rund achthundert Rio-Slums sind inzwischen etwa einhundert in der Hand paramilitärischer Milizen. Sie haben die vorher dort herrschenden Banditenkommandos vertrieben und erpressen nun von den Bewohnern Schutzgelder. Für Paulo Mesquita, Wissenschaftler des renommierten Gewalt-Forschungszentrums an der Bundesuniversität von Sao Paulo, zeigen sich neue Gefahren für die Demokratie. “In Rio, doch auch in Sao Paulo wird die Lage offenkundig immer gravierender. Wir haben es mit dem Gesetz der Wildnis, mit Zuständen wie im Wilden Westen zu tun. In Rio ist die Situation am dramatischsten, weil von den Autoritäten, und selbst von der Polizei jetzt die Bildung paramilitärischer Milizen unterstützt wird, die ja illegal agieren und der Bevölkerung nur theoretisch mehr Sicherheit bieten. Der Staat zeigt sich stark geschwächt und inkompetent, wodurch es künftig immer weniger Gerechtigkeit und Sicherheit, aber mehr Instabilität und Gewalt geben wird. Die Slumbewohner bleiben stets einer Parallelmacht unterworfen – entweder dem organisierten Verbrechen, das mit dem Staat verästelt ist, oder den Milizen, die mit dem organisierten Verbrechen liiert sind. Die Menschen in den Slums sind der Gewalt ausgesetzt, haben damit sehr wenig Raum für die Selbstorganisation, für politische Aktivitäten. Weder die politischen noch die wirtschaftlichen Eliten investieren noch in die Vergrößerung der Spielräume für Demokratie, für die Konsolidierung einer demokratischen Ordnung, einer Gesellschaft mit mehr Gleichheit. Die Menschen spüren, daß die Probleme gravierender werden.“
Laut Gewaltforscher Mesquita wird die Lage immer komplexer und unübersichtlicher. So nennt der zu einer Rechtspartei gehörende Bürgermeister Rios, Cesar Maia, die paramilitärischen Gruppen das kleinere Übel – während selbst Teile der Polizeispitze diese Milizen für genauso verbrecherisch halten wie die Kommandos der Gangstersyndikate. Die Milizen rekrutieren sich größtenteils aus Militärpolizisten - doch Militärpolizisten sind es auch, die gemäß neuesten Ermittlungen just die Banditenkommandos mit Maschinengewehren, Munition und Rauschgift versorgen. Hochbewaffnet können die Kommandos daher immer wieder von den Milizen beherrschte Slums zurückerobern. Ex-Savimbi-Söldner aus Angola, die einst die Zentralregierung in Luanda bekämpften, trainieren jetzt in Rio de Janeiro die Banditenkommandos, attackieren mit ihnen gemeinsam sowohl Polizei und Milizen als auch rivalisierende Gangstersyndikate.
Gewaltforscher Mesquita: “Zu den Hoffnungen der Redemokratisierung gehörten mehr Freiheit, mehr Gleichheit, mehr Rechtsstaat gerade für die Slumbewohner. Doch sie leben heute in Angst – und an den Slumperipherien der Großstädte werden die Menschenrechte ebenso verletzt wie weit im Hinterland. Die täglichen Nachrichten darüber zu lesen, ist eine Tortur. Die Lage im Gesundheitswesen ist ebenso grauenhaft. Menschen sterben in der Warteschlange, adäquate Behandlung fehlt – minimalste Bürgerrechte sind nicht garantiert. Im Sicherheitsbereich beläßt es die Regierung bei symbolischen Aktionen, die ohne Resultate bleiben, wie jetzt die Stationierung der Eingreiftruppe in Rio. Die Regierenden sehen die Regierten als Hemmnis, Hindernis, Störfaktor. Brasilia ist nicht daran interessiert, Probleme und Daten offenzulegen und zu diskutieren, es fehlt Transparenz. Das betrifft sogar die ausgebliebene Aufarbeitung der Diktaturvergangenheit. Selbst dafür fehlt Courage. Wir sehen in Brasilien gravierende Führungsprobleme. Zwar hat Brasilien die internationalen Menschenrechtsabkommen unterzeichnet – doch gegen eine Umsetzung gibt es viel Widerstand. Die Universalität der Menschenrechte ist in Brasilien noch nicht gewährleistet. Jene, die demokratische Verbesserungen wollen, werden marginalisiert. Bei den Menschenrechten, beim Aufbau der Demokratie gibt es Rückschritte. Derzeit schafft man günstige Bedingungen für noch mehr Gewalt.“
Kurz vor dem Karneval 2007 wurde der Vizedirektor der berühmten Sambaschule "Salgeiro" Rio de Janeiros nach einer Probe mit 15 Mpi-Schüssen von Unbekannten getötet. 2004 war ein anderes Direktionsmitglied ermordet worden. Vor fünf Monaten traf es den Präsidenten von "Estacio de Sà", einer anderen großen Sambaschule. In der von einem Ex-Folteroffizier der Diktatur geführten Liga der besten Sambaschulen Rio de Janeiros sind Morde dieser Art relativ häufig.
Beim Vergleich mit zivilisierten Nationen fällt im Alltag Brasiliens die allgemeine Rechtlosigkeit, die Unwirksamkeit bestehender Gesetze, auf - das Recht des Stärkeren, Brutaleren, Unverschämteren, Rücksichtsloseren gilt in allen Bereichen der Gesellschaft. Alte Menschen, Kranke, Schwächere, all jene, die sich an die Regeln der Zivilisation halten, sind entsprechend im Nachteil, erleben beinahe jede Art von Diskriminierung, bis hin zur Zerstörung der Existenz.
In der stets als Karnevals- und Tourismushochburg gerühmten nordostbrasilianischen Küstenstadt Recife ist gemäß einer neuen Studie Gewalt die erste, wichtigste Todesursache bei Mädchen und Frauen zwischen zehn und 49 Jahren, noch vor verschiedensten Krankheiten. Die Opfer kommen durch Schußwaffen, Messer sowie Schläge ums Leben. Frauenrechtsorganisationen von Recife sowie des Teilstaates Pernambuco prangern seit Jahrzehnten die zunehmende sadistische Macho-Gewalt an, die indessen von den zuständigen Autoritäten als soziokulturell verwurzelt hingenommen wird.
In Deutschland widmet sich u.a. die deutsch-türkische Anwältin Seyran Ates dieser Problematik. Von der FU Berlin erhielt sie jetzt den Margherita-von Brentano-Preis.

Klaus | 13.02.07 12:38 | Permalink