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Brasiliens Nationalkongreß macht sich durch Parteienwechsel-Rekord lächerlich

Skandalserien um Kauf von Parteien, Abgeordneten und Stimmen
--von Klaus Hart, Sao Paulo--
Das Drittweltland Brasilien, die größte bürgerliche Demokratie Lateinamerikas, unterscheidet sich in vielen Aspekten von europäischen Demokratien. Zu den hervorstechenden Unterschieden zählt der häufige Parteienwechsel im Nationalkongreß sowie in den Parlamenten der Teilstaaten. Keineswegs unüblich, daß Abgeordnete in einer einzigen Legislaturperiode bis zu siebenmal von einer Partei zur anderen springen, weil gewöhnlich handfeste Vorteile winken. Der Kongreß in Brasilia brach dabei in der letzten vier Jahren alle Rekorde. Im neuen Nationalparlament sind sage und schreibe zwanzig Parteien vertreten.

Gemäß dem brasilianischen Parteiengesetz von 1995 verliert jeder Abgeordnete automatisch seinen Parlamentssitz, der jene Partei verläßt, für die er kandidiert hatte. Das Gesetz wird indessen in Brasilien völlig ignoriert. In der zurückliegenden Legislaturperiode des Nationalkongresses wechselten von den 513 Abgeordneten immerhin 195, also rund vierzig Prozent, die Partei, kam es durchschnittlich alle zweieinhalb Tage zu einem Übertritt. Insgesamt waren es 345 Wechsel und damit mehr als je zuvor in der Geschichte des hohen Hauses. Man müßte sich derartiges einfach einmal für den Bundestag oder für die Länderparlamente Deutschlands vorstellen.
Alceste Almeida beispielsweise ging kurz nach Beginn der Legislaturperiode in die an Sitzen stärkste Zentrumspartei PMDB, verließ sie wieder, kehrte zu ihr zurück, verließ sie ein weiteres Mal, kehrte erneut zu ihr zurück, um schließlich endgültig bei einer anderen Partei zu landen. Insgesamt sieben Wechsel, ebenso viele wie sein neuer Fraktionskollege Enio Tatico. Politikwissenschaftler Claudio Couto von der Katholischen Universität in Sao Paulo sieht für solches Verhalten die verschiedensten Motive, darunter den ganz direkten Kauf mittels Geld:
“Ja, auch der existiert. Bereits v o r den Stimmen-und Parteienkaufskandalen der letzten vier Jahre unter Staatschef Lula gab es immer wieder Enthüllungen, daß Parlamentarier zu Preisen von umgerechnet dreißigtausend Dollar die Partei wechselten. Die Untersuchung dieser Fälle führte zu keinerlei Konsequenzen. Viele Parlamentarier schließen sich dem jeweiligen Regierungslager aber nicht durch Kauf an, sondern weil die Regierung Vergünstigungen anbietet. Das können Gelder für die politische Basis des jeweiligen Abgeordneten sein, Gelder für dessen Gemeinde oder sogar für dessen Berufsgruppe. Am attraktivsten sind jedoch hohe Posten im Staatsapparat für Leute aus dessen Klüngel.“
Laut Professor Couto gibt es seit jeher stets eine beträchtliche Zahl von Abgeordneten, die regierungstreu ist und im Falle eines Regierungswechsels dann eben zu den neuen Regierungsparteien übertritt.
“Solche Politiker machen unser Parlament lächerlich. In Brasilien haben die Parteien mit ihren Abgeordneten Beziehungen wie in einer offenen Ehe. Man kann überall hinwechseln, und wenn man danach zurückkehrt, kein Problem. Die Parteien haben nur Interesse an der Macht. Für diese Politiker ist unwichtig, welches Programm die jeweilige Regierung hat. Einzig interessant ist, sich mit der Regierung gut zu stehen, eigene Leute auf Chefposten zu hieven. Dies trägt zur niedrigen Qualität unserer öffentlichen Verwaltung bei, weil solche Posten eben nicht von befähigten, kompetenten Personen besetzt werden. Eine immense Zahl von Posten wird nach politischen Kriterien vergeben.“
Staatschef Lula und seine Arbeiterpartei hatten sich stets als eherne Säulen der Ethik und Moral im als schmutzig und korrupt deklarierten Politikbetrieb bezeichnet, große Verbesserungen angekündigt.
“Das Gegenteil ist geschehen – die Situation hat sich verschlechtert. Die erwartete Professionalisierung des Staatsapparats blieb aus – und die Zahl der sogenannten politischen Vertrauensposten wurde stark erhöht – auch zwecks Anwerbung von Abgeordneten fürs Regierungslager.“
Aber ist ein häufiger Parteienwechsel nicht verheerend für das Image der Abgeordneten bei den Wählern?
“Keineswegs – die Wähler votieren für Personen und interessieren sich kaum dafür, zu welcher Partei der von ihnen favorisierte Politiker gehört. Ihnen ist egal, ob er heute zu dieser und morgen zu jener Partei zählt. Parteienwechsel ist in Brasilien keine Sünde. Zumal viele Parteien sehr ähnliche Programme haben. Ich sehe nicht, daß sich mittelfristig an dieser Parteienwechselei etwas ändern wird, bestenfalls auf lange Frist.“

Klaus | 07.02.07 01:43 | Permalink