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Brasiliens Präsidentschaftswahlkampf: Menschenrechtsverletzungen und Umweltprobleme sind Tabuthemen

--von Klaus Hart, Sao Paulo--
Offenbar aus außenpolitischen Erwägungen werden wie bei früheren Präsidentschaftswahlen auch diesmal wieder die besonders heiklen Menschenrechts-und Umweltprobleme aus dem Wahlkampf herausgehalten. So vermeiden Staatschef Lula ebenso wie sein Herausforderer Geraldo Alckmin in der täglichen Propaganda sowie bei TV-Debatten jeden Hinweis auf die in Brasilien weiterhin grassierende Folter sowie entsprechende Schuldzuweisungen. Befreiungstheologen wie Frei Betto, aber auch Rabbiner Henry Sobel, oberster Repräsentant der jüdischen Gemeinden des Tropenlandes, prangern kontinuierlich an, daß Torturen weiterhin alltäglich sind. Beispielsweise in den Gefängnissen: Gerade hat die Interamerikanische Menschenrechtskomission der Organisation Amerikanischer Staaten(OAS) Brasilien wegen der unmenschlichen Zustände in einer Haftanstalt von Niterao bei Rio de Janeiro verurteilt. Dort wurde während einer Visite von Menschenrechtsexperten festgestellt, daß in einen für höchstens 120 Menschen ausgelegten Polizeikerker fast 400 Männer gepfercht worden waren. Damit seien internationale Normen für den Schutz der Häftlingsrechte verletzt worden. In den Zellen gebe es keinerlei Licht, die Häftlinge erhielten kein Trinkwasser, keine akzeptable Nahrung. Mindestbedingungen von Hygiene und Sauberkeit existierten ebensowenig.
Im Wahlkampf werden zudem die fortdauernde Sklavenarbeit sowie die Liquidierung von Menschenrechtsaktivisten, massive Morddrohungen gegen Bürgerrechtler derzeit von den Kontrahenten keineswegs zur Sprache gebracht.
Der Parallelstaat der Großstadtslums, in denen mit NATO-Waffen ausgerüstete Banditenmilizen Millionen von Bewohnern neofeudal beherrschen und damit gesellschaftliches Protestpotential in Schach halten, spielt im Wahlkampf ebenfalls keine Rolle. Theoretisch handelte es sich dabei um ein besonders heißes Eisen der brasilianischen Innenpolitik, da die Autoritäten zulassen, daß Basis-Menschenrechte der untersten Schichten gravierend verletzt werden. Welche Greueltaten die Slum-Warlords beinahe tagtäglich verüben, ist hinlänglich bekannt: Mißliebige werden zur Abschreckung gefoltert, zerstückelt und sogar lebendig verbrannt. Würden Lula und Alckmin detailliert über all diese Fragen debattieren, wäre das Interesse des Auslandes vorhersehbar enorm. Gleiches träfe auf den Menschenhandel zu, darunter von Frauen zum Zwecke der Zwangsprostitution in Europa. Die rasch voranschreitende Umweltvernichtung in Brasilien wird von Lula und Alckmin ebenfalls ausgeklammert. Von Ausnahmen abgesehen, halten sich die brasilianischen Medien im Wahlzirkus an die Tabu-Regeln und prangern mutmaßliche Abstimmungen zwischen den Kandidaten nicht an. Dem Vernehmen nach haben Gouverneurs-und Präsidentschaftskandidaten in früheren Wahlkämpfen sogar vorher geklärt, mit welchen Begriffen, Kraftausdrücken man sich gegenseitig beschimpft.

Klaus | 19.10.06 03:20 | Permalink