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Brasilien vor Präsidentschafts-Stichwahl

"Volkstribun" Lula mobilisiert alle Reserven
Über ein Drittel der neuen Kongreßabgeordneten sind Millionäre - sechs gehören zu Lulas Arbeiterpartei
--von Klaus Hart, Sao Paulo--
Nach dem Urnengang vom 1. Oktober zog Staatschef Luis Inacio Lula da Silva alle Register modernen Polit-Marketings, um eine Schlappe in der Stichwahl am 29. Oktober zu verhindern. Denn gemäß den Wahlanalysen hatte Lula keineswegs die arme Bevölkerungsmehrheit, die Arbeiterschaft geschlossen hinter sich - sogar ein beträchtlicher Prozentsatz der Slumbewohner bevorzugte den Herausforderer Geraldo Alckmin von der Sozialdemokratischen Partei(PSDB). Zudem wurde durch die ebenfalls am 1. Oktober abgehaltenen Pflichtwahlen zum Nationalkongreß das rechtskonservative Lager gestärkt. Zu den auffälligen Ergebnissen zählt, daß künftig mindestens jeder dritte der 513 Kongreßabgeordneten ein Millionär ist.

Nach Angaben von Sozialwissenschaftlern kann deren Zahl durchaus noch höher sein, da manche Politiker möglicherweise aus taktischen Erwägungen ein viel zu geringes Vermögen angegeben haben. Reiche Abgeordnete, so hieß es, gehörten gewöhnlich zur Rechten. Die meisten Millionäre – 38 – sind von der rechtsgerichteten Liberalen Partei(PFL) – die Arbeiterpartei(PT) Lulas kommt auf sechs Millionäre. In Rio de Janeiro erhielt der Kongreß-Kandidat Fernando Gabeira von den Grünen die meisten Stimmen - der Ex-Stadtguerilleiro und Schriftsteller hatte einst Jahre im Westberliner Exil zugebracht. Stimmt er in der Stichwahl für Lula? „Für Lula zu votieren, bedeutete Masochismus – und ich bin nun einmal kein Masochist.“
Nachdem Lula auch den zwielichtigen Chef der Arbeiterpartei, Ricardo Berzoini, aus dem Verkehr ziehen mußte, haben die PT-Sympathisanten beim Straßenwahlkampf teilweise schwere Argumentationsprobleme. Roberto Gomes ist Metallarbeiter im brasilianischen Industrie-Teilstaat Sao Paulo, der ein höheres Bruttosozialprodukt erbringt als ganz Argentinien. Zusammen mit Gleichgesinnten leitet Gomes in der Freizeit Straßendiskussionen, versucht möglichst viele Fabrikarbeiter, aber auch Slumbewohner davon zu überzeugen, daß Lula den Gewerkschaftsidealen treu geblieben ist. Gegenüber dem ausländischen Journalisten spult er zunächst die übliche Parteipropaganda ab. “Der ganze Industriegürtel Sao Paulos wird für Lula stimmen, denn er ist eine Ikone nicht nur der Arbeiter Brasiliens, sondern der ganzen Welt. Lula ist ein Symbol der Arbeiterbewegung Lateinamerikas – wir vertrauen ihm und wollen daher die Lula-Regierung weitere vier Jahre.“
Doch in den Straßendiskussionen hat Gomes einen schweren Stand.
“Die Leute fragen stets, warum sollen wir wieder Lula wählen, wo doch dessen Freunde, Kumpels, Genossen in Partei und Regierung so viel abgezweigt, so viel geklaut und geraubt haben, dermaßen korrupt waren. Ja, es stimmt, einige Führer der Arbeiterpartei haben gravierende Fehler begangen – und das hat der Wahlkampagne sehr geschadet.“
Ausgerechnet in Lateinamerikas Industrielokomotive Sao Paulo, Wiege der Arbeiterpartei, hatte Lulas Gouverneurskandidat Aloisio Mercadantes bei den Wahlen vom ersten Oktober haushoch gegen Jose Serra von der Sozialdemokratischen Partei verloren. Lula selbst bekam dort nur rund 37 Prozent, doch Herausforderer Geraldo Alckmin von den Sozialdemokraten über 54 Prozent. Sogar in den über 2000 Slums der Megacity Sao Paulo lag häufig Alckmin vorn. Dort haust Sonia Ramos mit ihrer Familie, macht Gelegenheitsarbeit. Von Lula hält sie nichts. “Der verspricht viel, aber hält es nicht ein. Die Kandidaten lügen einfach zu viel, leben regelrecht von der Lüge. Ich stimme deshalb für die Sozialdemokraten, die sind am wenigsten korrupt.“ In südlichen Teilstaaten mit vergleichsweise hohem Arbeiteranteil, wie Rio Grande do Sul, Santa Catarina oder Paranà, erhielt Alckmin deutlich über fünfzig Prozent der Stimmen.
Daniel Freitas ist ein junger Arbeiter aus Sao Paulo:
“Man sagt immer, der Präsident muß einer aus dem einfachen Volke sein. Aber was heißt das schon. Denn Lula ist aus einfachen Verhältnissen, stieg bis zum Staatspräsidenten auf, doch tat dann nichts für das Volk. Stattdessen Korruption in der Regierung, Stimmen-und Parteienkauf. Wir brauchen jemanden, der das nötige politische Bewußtsein hat und deshalb das Richtige für die einfachen Brasilianer tut. Ich werde Alckmin wählen, weil ich ihn für das kleinere Übel halte.“
Im ersten Durchgang hatten 46,6 Millionen für Lula votiert, also nur 37 Prozent aller Stimmberechtigten. Würde Lula durchweg in all jenen bitterarmen Teilstaaten eine Mehrheit bekommen, die von seinem Anti-Hunger-Programm besonders begünstigt werden? Entgegen den Vorhersagen der PT-Propaganda lag Herausforderer Alckmin selbst in weit entfernten Urwald-Teilstaaten Amazoniens wie Acre, Roraima, Rondonia und Mato Grosso vorn. Die zahlreichen Regierungsskandale kosteten Lula gerade auch bei den einfachen Leuten, nicht nur bei der Mittelschicht und den Intellektuellen, sehr viele Wählerstimmen. Gemäß den Umfragen für die Stichwahl dürfte Lula indessen am 29. Oktober mit deutlichem Abstand vor Alckmin gewinnen. Die Sozialbewegungen hatten vor dem ersten Durchgang keine Wahlaussage getroffen – danach warnten sie eindringlich vor den Risiken einer Mitte-Rechts-Regierung unter Alckmin.


Klaus | 23.10.06 23:32 | Permalink