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Selbstmord vor den Augen des Gerichtsvollziehers

Tim S. hat wieder pünktlich Miete bezahlt - trotzdem wollte der Vermieter ihn vor die Tür setzen

FRANKFURT (ODER). Die Fassade des fünfgeschossigen Hauses in der Valentina-Tereschkowa-Straße in Frankfurt (Oder) ziert ein tristes Grau. Es wird nicht mehr viel gemacht an dem Gebäude, das in naher Zukunft abgerissen werden soll. Vor etwa acht Wochen wurden die Mieter des Blocks von dem Abriss in Kenntnis gesetzt, Ausweichwohnungen angeboten. Doch einer erhielt keine Offerte: Tim S. Denn dem 34-Jährigen drohte wegen Mietschulden die Zwangsräumung.

Als der Gerichtsvollzieher am Mittwoch vor seiner Tür stand, stürzte sich der arbeitslose Mann aus dem Fenster seiner im fünften Stock gelegenen Wohnung. Tim S. starb auf den Gehwegplatten. Im Juni vorigen Jahres soll er es versäumt haben, einen neuen Arbeitslosengeld-Antrag zu stellen. Danach konnte er einige Monate seine Miete nicht mehr bezahlen. Sein Selbstmord wirft viele Fragen auf.

Es war kurz nach 8.30 Uhr, als der Gerichtsvollzieher, eine Angestellte des Hauseigentümers, der Wohnungswirtschaft Frankfurt (Oder), und ein Mann vom Schlüsseldienst an der Hauseingangstür bei Tim S. klingelten. Der junge Mann war zu Hause. Er öffnete aber nicht, sondern soll der Gruppe den Schlüssel aus dem Fenster vor die Füße geworfen haben. Als der Gerichtsvollzieher kurz darauf die Wohnungstür öffnete, saß Tim S. auf der Fensterbank und drohte, sich in die Tiefe zu stürzen. Daraufhin verließ der Gerichtsvollzieher die Wohnung und telefonierte im Treppenhaus mit der Polizei. Der Mann vom Schlüsseldienst wechselte bereits das Schloss aus, als er bemerkte, dass Tim S. nicht mehr auf dem Fensterbrett saß. Er hatte in seiner Verzweiflung seine Drohung wahr gemacht.

Unklar ist, warum die Zwei-Raum-Wohnung von Tim S. geräumt werden sollte. Denn seit acht Monaten wurde der Wohnungswirtschaft Frankfurt die Miete pünktlich überwiesen - direkt von der Arbeitsagentur. Darauf hätten sich Tim S. und die Arbeitsagentur im Januar geeinigt, sagte Frankfurts Bürgermeisterin und Sozialdezernentin Katja Wolle gestern der Berliner Zeitung. Zudem wurden dem Vermieter monatlich 80 Euro für die Schuldentilgung überwiesen. Insgesamt stand Tim S. bei dem Wohnungsunternehmen mit nicht einmal mehr 1 000 Euro in der Kreide. "Ich bin schockiert von dem, was passiert ist. Zumal sich der junge Mann selbst sehr bemüht hat, wieder auf die Beine zu kommen", sagte Bürgermeisterin Wolle. Dabei hätten ihn das Sozialamt und die Arbeitsagentur sehr unterstützt. Die Wohnungswirtschaft müsse sich nun die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Zwangsräumung gefallen lassen. Zumal die Stadt einen Aufschub der Räumung beantragt hatte. "Ich habe im Sozialausschuss eine Prüfung des Vorfalls zugesagt. Der Geschäftsführer muss Rede und Antwort stehen", sagte Katja Wolle. Die Stadt ist Gesellschafter bei dem Wohnungsunternehmen.

Das Wohnungsunternehmen wollte sich gestern nicht "zu einem laufenden Verfahren" äußern. Nur so viel: dem jungen Mann seien genug Angebote gemacht worden.

Tim S. wuchs zusammen mit einer Schwester in dem Fünfgeschosser auf. Seine Eltern - der Vater war nach Angaben von Nachbarn einst NVA-Offizier, die Mutter Kindergärtnerin - wohnen in einer Drei-Raum-Wohnung im gleichen Aufgang, auf der gleichen Etage. Sie waren zum Zeitpunkt des Unglücks auf ihrem Grundstück bei Eisenhüttenstadt. Dort informierte sie die Polizei vom Tod ihres Sohnes. Von seinen Schwierigkeiten hatten die Eltern offenbar nichts gewusst. In der letzten Zeit soll Tim S. selten seine Wohnung verlassen haben. "Er war ein ganz ruhiger, in sich gekehrter Mann. Immer freundlich", sagte ein Nachbar.

Tim S. war seit einiger Zeit arbeitslos. Er nahm mal einen Ein-Euro-Job in einem Jugendclub an, dann arbeitete der Heavy-Metal-Fan in einer geförderten Maßnahme als Techniker im "Theater des Lachens" in Frankfurt. Zuletzt lebte er von Hartz IV.

Quelle: Katrin Bischoff: "Selbstmord vor den Augen des Gerichtsvollziehers" in Berliner Zeitung, 18.08.2006

Michal Stachura | 20.08.06 23:13 | Permalink

Kommentare

Ich bin sprachlos ...

Verfasst von: Jens | 31.08.07 16:46

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