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Denkwürdiger Villa-Lobos-Klavierwettbewerb in Sao Paulo

Sieger aus China, Frankreich und Estland
Erstklassige Pianisten - doch Medienboykott und wenig Publikum
Öffentlicher Streit um angebliche Betrügereien bei der Kandidatenauswahl
--von Klaus Hart, Sao Paulo--
Lateinamerikas größter Komponist ist der Brasilianer Heitor Villa-Lobos aus Rio de Janeiro, der von 1887 bis 1959 lebte. Vor allem seine Freundschaft mit dem polnischen Pianisten Arthur Rubinstein war ihm Anregung, eine Vielzahl von Klavierstücken, Klavierkonzerten zu schaffen. Denen ergeht es indessen wie den meisten anderen fabelhaften Kompositionen - über eintausend. Der große Villa-Lobos ist zwar auch in Europa recht bekannt - mancher hörte womöglich die "Bachianas brasileiras" - doch seine Werke werden kaum gespielt. Und selbst in Brasilien existieren von nicht wenigen Stücken bis heute keinerlei Tonaufnahmen. Um all dem abzuhelfen, veranstaltete der Komponist und Dirigent John Neschling im August in der brasilianischen Megametropole Sao Paulo mit seinem Sinfonieorchester den ersten "Concurso Internacional de Piano Villa-Lobos". Der in Rio geborene Weltbürger Neschling, ein Großneffe Arnold Schönbergs, hatte das drittklassige Orchester 1997 übernommen - heute ist es das beste Lateinamerikas, zählt zu den besten der Welt, bereitet sich auf die zweite Deutschlandtournee vor. Überschattet wurde der Klavierwettbewerb von Sao Paulo indessen bereits im Vorfeld von einem erstaunlich hochgespielten Streit um eine angeblich unsaubere Kandidatenauswahl - von Brasiliens Kommerzmedien wurde das einwöchige hochklassige Musikereignis daraufhin bedenklicherweise boykottiert, blieb der Saal nur zu oft beinahe leer. Nicht nur Sao Paulos Konzertpublikum, sondern auch die komplett fehlenden Musikstudenten der Universitäten und Konservatorien stellten sich ein peinliches, blamables Armutszeugnis aus.

Sogar die New York Times hatte von einem Skandal gesprochen – John Neschling und die gesamte Jury wiesen indessen Korruptionsvorwürfe in einer Erklärung als haltlos zurück. Jurypräsident des Villa-Lobos-Wettbewerbs war kein geringerer als Brasiliens international bekanntester Pianist Nelson Freire – schwerlich denkbar, daß dieser seine Reputation aufs Spiel gesetzt und Betrügereien gedeckt hätte.
--Preisträger Chun Wang aus Peking—
Bei dem einwöchigen hochklassigen Concurso versetzte der 16-jährige Chun Wang aus Peking Jury und Publikum immer wieder in Erstaunen und Verzückung.
Letztes Jahr kam er in Weimar beim Franz-Liszt-Wettbewerb für junge Pianisten auf den dritten, beim Ausscheid von Sankt Petersburg sogar auf den ersten Platz – und auch in Sao Paulo spielte er sich jetzt souverän an die Spitze.
Nelson Freire nannte ihn geradezu überschwenglich ein phantastisches, außergewöhnliches Talent, von der ersten bis zur letzten Note auf höchstmöglichem Niveau, trotz seines Alters bereits ein kompletter Musiker.
Der zweite Preis ging an die zwanzigjährige Jie Chen, ebenfalls aus China, die das Publikum wohl wegen des Charismas am liebsten auf dem ersten Platz gesehen hätte. Dritter wurde der 28-jährige Franzose Romain David, vierte die aus dem russischen Kaliningrad stammende und heute in Estland lebende Irina Zahharenkova, 30. Als bester brasilianischer Kandidat wurde der 24-jährige Aleyson Scopel geehrt, der einen Teil seines Klavierstudiums an der Hanns-Eisler-Hochschule für Musik in Ostberlin absolviert hatte.
Bei der letzten Prüfung des Wettbewerbs dirigierte John Neschling das 1952 von Villa-Lobos komponierte Klavierkonzert Nummer vier, von dem bisher jegliche Tonaufnahme fehlt, und lachte zwischendurch vom Pult aus dem schwarzhaarigen Chun Wang immer wieder aufmunternd zu. „Dieser Junge hat eine unglaubliche Musikalität, Technik, Reife und Natürlichkeit - ich hoffe, daß er auch phantastisch bleibt. Denn da er nur 16 Jahre alt ist, kann das kann rasch kaputtgehen – aber ich glaube nicht.“
--Chinas starker Pianistennachwuchs—
Daß gleich zwei Bewerber aus China in Sao Paulo an der Spitze liegen, kommt für Neschling nicht überraschend:“Es gibt dort in China eine Schule mit zwanzigtausend Pianisten – es muß unter diesen zwanzigtausend einfach zehn geben, die phantastisch und außerordentlich sind.“
Chun Wang ergänzt:"Das Klavier ist derzeit das populärste Instrument in China. Wollen die Eltern, daß ihr Kind ein Instrument erlernt, empfehlen sie natürlich das Piano." Laut Jurymitglied Gilberto Tinetti studieren derzeit etwa fünf Millionen junge Chinesen Klavier. Wieviel mögen es in Deutschland sein, warum hat dieses Instrument dort so stark an Popularität eingebüßt?
Maestro Neschling sieht das Ziel des Wettbewerbs erreicht: Über hundert hochtalentierte junge Pianisten aus aller Welt studierten teilweise zum ersten Mal intensiv Villa-Lobos – und werden ihn hoffentlich bei ihren künftigen Konzerten immer wieder spielen. „Die Kandidaten sagten mir, dessen Werk habe sie bei der Vorbereitung begeistert, fasziniert.“
Chun Wang, Jie Chen oder Irina Zahharenkova machen bereits Tourneen auch in Europa, erzielen gute Gagen, spielen vor vollen Häusern. Sao Paulos Orchestersaal mit über 1500 Plätzen, eine umgebaute Bahnhofshalle mit ausgezeichneter Akustik, war indessen selbst zum Preisträgerkonzert nur sehr mäßig gefüllt. Wo blieben die Heere von Musikstudenten, die anderswo in der Welt auf der Suche nach Orientierung und Erfahrung wegen solcher Pianisten Schlange stehen – ist der schwache Publikumszuspruch nicht ein Armutszeugnis für die Zwanzig-Millionen-Stadt Sao Paulo? „Ja, ich glaube schon“, sagt Neschling vorsichtig. Die künstlerische Leiterin des Sinfonieorchesters, Rosana Martins:“Wir haben den Piano-Studenten Sao Paulos sogar Gratis-Einladungen angeboten - doch die kamen einfach nicht, es ist nicht zu fassen!“
--Dekadenz, gravierender Kulturverlust--
Wer sich für klassische, komplexe, interessante Musik interessiert, die entsprechende Szene in Mitteleuropa kennt, mußte sich hier als Concurso-Beobachter zwangsläufig an den Kopf greifen, sah Auswirkungen niedrigen Bildungsniveaus. Dabei hatte Brasilien, wie Neschling sagt, schon einmal eine große Tradition von Klavierwettbewerben, mit dem Höhepunkt in den fünfziger und sechziger Jahren. Dekadenz, Kulturverlust, die in voller Absicht stark abgesenkte Qualität des öffentlichen Bildungswesens machen heute unmöglich, was damals Normalität war: Wie Nelson Freire erinnert, kamen die berühmtesten Pianisten der Welt für große Tourneen nach Brasilien. Rubinstein gab einmal siebzehn(!) Konzerte, Brailowsky spielte sämtliche Werke Chopins - und Gulda trat allein im Opernhaus von Rio de Janeiro, heute grausig schlecht administriert, 1954 gleich dreizehnmal(!) auf. "Das waren andere Zeiten", bemerkt Freire.
Die besten jungen Pianisten der Welt spielen in Sao Paulo – und kaum einer geht hin... „Meine Generation, die Jungen heute sind konservativ, träge, bequem, eng, suchen nicht nach Neuem“, bemerkt der junge Schriftsteller Joao Paulo Cuenca.
--Rachefeldzug gegen John Neschling?—
Beim Abschlußempfang des Villa-Lobos-Klavierwettbewerbs wollten weder Jurypräsident Nelson Freire noch Neschling den öffentlichen Streit um eine angeblich betrügerische Kandidatenauswahl erneut kommentieren. Brasilien hat heute das beste Sinfonieorchester seiner Geschichte, weil der temperamentgeladene, streitbare Neschling nicht bereit war, übliches Mittelmaß und Laissez-Faire, Respektlosigkeit, stumpfe, lähmende Bürokratie und Schlamperei zu akzeptieren, und weil er mit hierzulande selten anzutreffendem Idealismus eine regelrechte lateinamerikanische Klassik-Kulturrevolution in Gang setzte. Er hat dabei Erfolg – und deshalb entsprechend viele Feinde, Neider. Neschlings schon klassischer Ausspruch angesichts der weltweit dominierenden Berieselung mit einfältig-banaler Primitivmusik, mit musikalischem Schrott:"Fünfundneunzig Prozent von dem, was wir täglich hören müssen, ist Scheiße!"
Jetzt sollte Neschling dafür gesorgt haben, daß schlechtere, ihm genehmere Kandidaten den eindeutig besseren vorgezogen wurden. Entsprechende Vorwürfe kamen vor allem von dem israelischen Pianisten Ilan Rechtman, der zunächst als Direktor des Wettbewerbs fungiert hatte. Weil Rechtman indessen in einer E-Mail an Neschling u.a. eingeräumt hatte, bei der Kandidaten-Vorauswahl eigenmächtig die Bewertungsnoten des brasilianischen Juroren Gilberto Tinetti, eines Pianisten und Musikprofessors, verändert zu haben, war er bereits im April von Neschling entlassen worden. Der über gute Kontakte verfügende Rechtman, so bewerten es brasilianische Musikexperten, startete daraufhin einen Rachefeldzug gegen Neschling, mobilisierte die Anti-Neschling-Lobby in Medien und Kulturszene. Selbst die großen Qualitätsblätter Brasiliens waren nicht bereit, die Position von Neschling und Nelson Freire im journalistischen Teil zu erwähnen, so daß, wie der bekannte brasilianische Stefan-Zweig-Biograph Alberto Dines hervorhob, der Leitung des Villa-Lobos-Klavierwettbewerbs nichts weiter übrigblieb, als auf die haarsträubenden Vorwürfe aus der Ilan-Rechtman-Ecke mit teuren Gegendarstellungen zu reagieren. Bezeichnend, daß Sao Paulos Kommerzmedien daraufhin den Pianistenwettbewerb mit einem Boykott überzogen, über die Konzerte der Kandidaten die ganze Woche lang keine einzige Zeile veröffentlichten. Ein Eigentor sondergleichen.
Bei der Preisverleihung erinnerte der Maestro hintersinnig an einen Auspruch des großen Bossa-Nova-Miterfinders Tom Jobim aus Rio de Janeiro, von dem das berühmte „Girl from Ipanema“ stammt: “In Brasilien Erfolg zu haben, ist sehr gefährlich. Denn wer erfolgreich ist, sagte Tom Jobim, muß ständig auf der Hut sein, muß wachsam sein, sich vorsehen. Wegen des Wettbewerbs hatten wir Kämpfe, ja, regelrechte Schlachten zu bestehen. Doch ich meine: Die Hunde bellen, aber die Karawane zieht weiter.“

Klaus | 22.08.06 19:02 | Permalink