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"Wie in Bagdad"

Welle von Attentaten und Häftlingsrevolten in Brasilien. Bisher weit über hundert Tote

--von Klaus Hart, Sao Paulo--

Während der Wiener EU-Lateinamerika-Gipfel Brasiliens gravierende Menschenrechtssituation absichtlich ausklammerte, detonierten zur selben Zeit in der lateinamerikanischen Wirtschaftsmetropole Sao Paulo Granaten, ratterten MPIs, begann die größte Serie von Attentaten und Häftlingsrevolten in der Geschichte des Tropenlandes. "Wie in Bagdad" titelten die Zeitungen ein weiteres Mal, da in Brasilien jährlich mehr Menschen getötet werden als im Irakkrieg. Seit letztem Freitag preschen immer wieder junge Männer der Banditenkommandos mit Motorrädern an Polizeiwachen und Banken heran, eröffnen das Feuer, werfen Bomben. Weil über neunzig Busse in Brand gesteckt wurden, Verkehrsunternehmen den Betrieb einstellten, kamen am Montag über 2,5 Millionen Menschen nicht zur Arbeit.

Viele „Paulistanos“ verbarrikadieren sich zuhause, gehen nicht mehr auf die Straße. Denn Brasiliens führendes Verbrechersyndikat „Primeiro Comando da Capital“/PCC (Erstes Kommando der Hauptstadt) kennt die Privatadressen der Polizisten, Zivilermittler, Gefängniswärter und ihrer Angehörigen, jagt sie auch in deren Freizeit. Sao Paulo, drittgrößte Stadt der Welt, mit etwa tausend deutschen Unternehmen, ist Lateinamerikas reichste Stadt – unter der Politiker-und Geldelite in ihren Penthouse-und Villenvierteln geht jetzt die Angst um. Denn das PCC will im Präsidentschaftswahljahr Macht demonstrieren, auch die Wirtschaft treffen, räumen selbst Polizeichefs ein. An den Wohlhabendenghettos wurden deshalb Straßensperren errichtet, kontrollieren hochgerüstete Spezialeinheiten der Militärpolizei fast jeden herannahenden Wagen. Nicht nur in Sao Paulo ist die Armee in Alarmbereitschaft, denn in über achtzig total überfüllten Großgefängnissen der wichtigsten Teilstaaten rebellieren die Häftlinge, haben mehrere hundert Geiseln in ihrer Gewalt. Am Montag schlossen in Sao Paulo zahlreiche Geschäfte und Kaufhäuser, Schulen und Fakultäten, schickten viele Unternehmen ihre Arbeiter und Angestellten aus Sicherheitsgründen frühzeitig nach Hause. Die gewöhnlich von hunderttausenden Menschen bevölkerte City war am Nachmittag größtenteils wie ausgestorben.

Bereits seit Monaten sorgen in Brasilien Gefangenenaufstände mit vielen Toten für Schlagzeilen. Auslöser der größten Häftlingsaufstände in Brasiliens Geschichte war indessen, daß Sao Paulos Sicherheitsbehörden letzte Woche 765 inhaftierte Führer der Gangstersyndikate in abgelegene Hochsicherheitsgefängnisse verlegten. Zur Vergeltung startete der PCC daraufhin die „Megarebellion“ und die Anschlagsserie. Allein im Teilstaate Sao Paulo sind über 140000 Menschen inhaftiert.
Für kaum einen Brasilianer kommt die neuerliche Welle der Gewalt überraschend: Als Folge extremer Sozialkontraste, Massenarbeitslosigkeit, fortdauernder Sklavenhaltermentalität und tiefverwurzelter Korruption beklagt auch die Kirche seit Jahren den sogenannten „unerklärten Bürgerkrieg“ im Lande. Viele Slums und andere rasch wachsende Unterschichtsviertel der Großstädte werden seit Jahren vom organisierten Verbrechen neofeudal wie ein Parallelstaat beherrscht. Zur Einschüchterung der Bewohner werden immer wieder Menschen gefoltert, zerstückelt oder lebendig verbrannt.

Unter der Regierung von Staatschef Lula, so kritisieren Menschenrechtsexperten, wurden entgegen den Wahlversprechen die Ausgaben für öffentliche Sicherheit stark gekürzt. Auch dadurch konnten die Gangsterkommandos ihre Machtstrukturen ausbauen, stärker in die Politik hineinwirken. Zum „Crime organizado“, so schreibt jetzt Brasiliens auflagenstärkste Qualitätszeitung „Folha de Sao Paulo“, gehören auch „Politiker, Richter, Polizisten“. Vernetzt seien der Drogenhandel, die Geldwäsche, der Schmuggel größten Stils, die kriminelle Finanzierung von Wahlkampagnen und die Abzweigung öffentlicher Gelder.
Brasiliens Generalstaatsanwalt Antonio de Souza hatte erst kürzlich zahlreiche Freunde und Mitarbeiter Staatschef Lulas, die Minister-und Parteiämter bekleideten, als „Mitglieder einer hochentwickelten kriminellen Organisation, einer Bande“ definiert. Gegen vierzig davon erhob der Generalstaatsanwalt beim Obersten Gericht Anzeige wegen aktiver Korruption, Geldwäsche und anderen Delikten.
Auch laut Kirchenangaben hat sich das organisierte Verbrechen landesweit der Haftanstalten bemächtigt, sei stärker als der schwache Staat. Sadistische Grausamkeiten würden von inkompetenten Beamten, aber auch von Kriminellengruppen begangen, die ebenfalls folterten und töteten. „Unter solchen Bedingungen verrohen die Häftlinge, kann von Resozialisierung keine Rede sein.“

Der österreichische Priester Günther Zgubic, Leiter der nationalen Gefangenenseelsorge, kritisierte in Sao Paulo scharf, daß der Wiener Gipfel sich trotz des Appells lateinamerikanischer Menschenrechtler nicht einmal mit der alltäglichen Folter in Brasilien befaßt habe: "Die Folterpraxis ist unglaublich ausgedehnt - doch auf dem Gipfel von Wien wurde diese Problematik ausgeklammert, einfach nicht behandelt - leider. Dabei brauchen wir Solidarität aus Europa nötig."

Sao Paulos Rabbiner Henry Sobel, Führer der jüdischen Gemeinden Brasiliens, erklärte während eines ökumenischen Gottesdienstes in der Kathedrale:"Die Brasilianer sind heute im Grunde Geiseln des organisierten Verbrechens, das gewöhnlich mit der Gewißheit agiert, straffrei zu bleiben."
--Täglich gezielte Morde an Polizisten Brasiliens - in Rio jährlich rund 1500--
Gemäß brasilianischen Medienberichten haben die brasilianischen Autoritäten in Verhandlungen mit dem PCC Sao Paulos erreicht, daß die Attentatswelle und die Häftlingsrevolten nach mehreren Tagen gestoppt werden. Gemäß den gewöhnlich geschönten offiziellen Angaben verübte der PCC über 200 Anschläge, wurden mindestens 170 Menschen getötet.
Rio de Janeiros Chefinspektorin der Zivilpolizei, Marina Maggessi, stellte indessen klar, daß Anschläge auf Polizeibeamte in Brasilien weiterhin zur Alltagsnormalität gehören. Bereits seit 15 Jahren, so Marina Maggessi, würden allein in Rio de Janeiro pro Tag drei bis vier Polizisten gezielt von Banditen ermordet, also rund 1500 im Jahr. Beamte würden von den verschiedensten Verbrecherorganisationen systematisch gejagt. "Jeder Bandit, der auf einen Polizisten trifft, tötet ihn nach Möglichkeit." Den PCC von Sao Paulo bezeichnete sie als "Gefahr für die nationale Souveränität".

Klaus | 15.05.06 20:06 | Permalink