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Lasst den toten Bär – Stürzt den Adler!

Mit einem Offenen Brief haben sich kürzlich 200 Unterzeichner an den Berliner Regierenden Bürgermeister gewandt und eine erneute Stellungnahme gegen die Auftritte ehemaliger Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit gefordert. Die zumeist aus ehemaligen bürgerlichen Oppositionsgruppen der DDR kommenden Protestierer und ihre Familienangehörigen wenden sich gegen das offensive Auftreten der in „Insiderkomitees“ organisierte Tschekisten bei Diskussionsveranstaltungen zur Gestaltung des Sperrgebiets um den ehemaligen Staatssicherheitkomplex in Berlin-Hohenschönhausen. Von den ehemaligen Stasi-Mitarbeitern wurde die bestehende Gedenkstätte als Gruselkabinett bezeichnet und gegen die mediale einseitige Verdammung der Staatssicherheit polemisiert. Vor allem die Übernahme von Begrifflichkeiten der DDR-Opposition seitens ehemaliger Staatssicherheits-Mitarbeiter, wie „Freiheit ist immer auch die Freiheit der Andersdenkenden“ oder der Argumentation, dass sie jetzt die Opfer seien, wurde von den Mitarbeitern und Sympathisanten der Gedenkstätte als Affront empfunden. Die Frage ist, treffend in der Berliner Zeitung formuliert, wie gehen wir mit den „Tätern“ um. „Sie wohnen in ihren alten Wohnungen, sie kaufen in den gleichen Läden, sie gehen zu denselben Veranstaltungen. Sie sind Teil dieser Stadt.“
Absurd mutet es indes an, wenn die Unterzeichner, welche im Januar 1988 nach einer Verhaftungswelle gegen Oppositionelle wegen versuchter Teilnahme an der Luxemburg-Liebknecht Demonstration, damals zu Recht in Form von Mahnwachen aktiv wurden, jetzt den für die Repressionen Mitverantwortlichen das Recht auf freie Meinungsäußerung streitig machen wollen. Dabei spielt es gar keine Rolle, wie sich die ehemaligen Staatssicherheit-Mitarbeiter in eine Diskussionen einbringen, selbst wenn die Art und Weise als Provokation aufgefasst werden kann. Verwunderlich auch, dass einzelne Unterzeichner, die in den letzten Jahren Kontakte zu Stasi-Majoren unterhielten, als begehrte Referenten bei deren Insiderkomitees auftraten, nun pikiert reagieren.

Aber vor allem, warum meldeten sich die unterzeichnenden DDR-Oppositionellen nicht zu Wort, als vor Wochen die Verstrickung des bundesdeutschen Geheimdienstes in illegale Gefangenentransporte der USA bekannt wurde. Warum gab es kein Aufschrei, als jetzt der neuste aktuelle Rekord bei der deutschen Telefonüberwachung veröffentlicht wurde. Warum wurde nicht protestiert, gerade im 25. Jahr des Todestages von Matthias Domaschk, wenn neue Zahlen von mehreren Dutzenden Toten im bundesdeutschen Polizeigewahrsam der letzten Jahre berichten.
Statt den toten Bär zum zehnten Mal häuten zu wollen, sollte an die Forderungen der Besetzer der Stasizentrale 1989/90 erinnert werden. So die Abschaffung aller Geheimdienste und die Akteneinsicht aller Bundesbürger über alle gesammelten Daten aller Spitzeldienste. Aber diese Forderungen sind wohl genau wie das Ziel der DDR-Opposition im Herbst 1989 – eine demokratische, sozialistische Gesellschaft – im Nebel der deutschen Gegenwart unter Vorsitz einer Sekretärin der Gruppe „Demokratischer Aufbruch“ verschwunden. Deshalb wundert es nicht, dass sich unter den Unterzeichnern des Offenen Briefes auch Vertreter der rechtskonservativen Szene befinden.

Wortlaut des Offenen Briefes:
Sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister, in den vergangenen Wochen waren die öffentlichen Auftritte ehemaliger Stasi-Mitarbeiter, sei es bei der Vorstellung eines Ausstellungsprojekts zum Sperrgebiet in Hohenschönhausen, sei es bei Buchvorstellungen, in denen sie ihre Sicht der DDR-Vergangenheit ausgebreitet haben, wiederholt Thema der öffentlichen Berichterstattung.
Leider hat es seitens des Berliner Senats und seiner Mitglieder kaum eine öffentlich wahrnehmbare Distanzierung bzw. eindeutige Stellungnahme zu diesen Vorgängen gegeben, obwohl zumindest ein Senator, der auch noch für die Ausgestaltung der Erinnerungspolitik im Land Berlin verantwortlich ist, bei einer der Veranstaltungen
anwesend war. Auch sein Fehlverhalten bei einer der Veranstaltungen blieb ohne Konsequenzen.
Wir ehemaligen DDR-Oppositionellen, die in der DDR verfolgt wurden, zum Teil inhaftiert waren, die miterlebt haben, wie viele Existenzen durch die Machenschaften der Stasi zerstört oder beschädigt worden sind, halten die durch den Senat und seine Mitglieder offenbarte Zurückhaltung angesichts dieser Aktivitäten für einen politisch-moralischen Skandal.
Wir fordern Sie dringend auf, einer weiteren Verharmlosung der SED-Diktatur entgegenzutreten. Wir schätzen die Gewährung der Rede- und Meinungsfreiheit in der demokratischen Bundesrepublik als hohes Gut. Jedoch sollte denjenigen, die dieses Gut zur Propagierung ihrer menschenverachtenden Ansichten und zur Verhöhnung ihrer einstigen Opfer missbrauchen, auch durch Sie und Ihre Senatskollegen zumindest durch eindeutige Stellungnahmen entgegengetreten werden.

natter | 02.05.06 00:36 | Permalink

Kommentare

Bravo! Endlich mal ein paar klare, wenn auch immer noch sehr vorsichtige Worte zu dem, was da seit Jahren in der Szene der ehemaligen Oppositionellen aus der DDR vorgeht. Die rutscht nämlich zunehmend ab, nach rechts außen. Mittlerweile stehen die Meisten der Damen und Herren weiter rechts, als ihre Alimentoren aus der "Gauck-Behörde", der "Eppelmann-", "Adenauer-" oder "Seidel-Stiftung" und sind reaktionärer als es dieser Stasi-Klüngel je war.
Schade, hatte doch der größte Teil der DDR-Opposition mal als linkes, emanzipatorisches Projekt begonnen…

Verfasst von: Robert Havemann | 02.05.06 09:37

Schöner Beitrag. Die guten Kontakte von einzelnen Unterzeichnern gibt es übrigens nicht nur zu Stasi-Majoren, sie führen bis in die höchste Ebene der Generalität.
Hier findet man die aktuelle Liste der Unterzeichner.

http://www.havemann-gesellschaft.de/info219.htm

Verfasst von: a.s.h. | 02.05.06 10:11

Mensch, dass ist ja wirklich traurig. Auf der Liste finden sich tatsächlich Leute wie Siegmar Faust (Autor der rechtsextremen "Jungen Freiheit", verhalf einer ehemaligen SS/KZ-Aufseherin zu 64000 DM Entschädigung als "Opfer des Stalinismus") neben Leuten wieder, denen ich schon etwas mehr Durchblick zugetraut hätte.
Hat sich das die Stasi ausgedacht? ;)

Verfasst von: Palomino | 02.05.06 11:37

Was wollt ihr, in Berlin beginnt doch jetzt der Wahlkampf und Frau Bohley und ihre Freunde sind doch seit Jahren ein zuverlässiger Partner der CDU.

Wie heisst es doch so schön "wessen Brot ich ess, dessen Lied ich sing"

Verfasst von: Rudi | 02.05.06 12:03

Euch roten Socken täte eine Woche STASI-Knast sehr gut.

Verfasst von: Störtebeker | 02.05.06 14:34

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