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Kaspar Hauser stirbt

Nach kurzer Krankheit ist der Filmemacher und Autor Gino Hahnemann im Alter von 60 Jahren letzte Woche in Berlin an Krebs gestorben.
Gino war eine wichtige Person der DDR Literatur- und Schwulensubszene.
Anfänglich arbeitete er einige Jahre unter Hermann Henselmann als Architekt, bevor er sich dem Film und der Literatur zuwandte. Gino produzierte zwischen 1982 und 1987 über 22 Super-8 Filme und nach der Wende mehrere Hi-8 Filme. Er veröffentlichte regelmäßig in den Zeitschriften und Editionen des so genannten literarischen Undergrounds in Berlin Prenzlauer-Berg. Ab 1990 erschienen im Druckhaus Galrev und bei Gerhard Wolfs Janus Press seine Bücher Die Täuschung verträgt die Realität nicht, Exogene Zerinnerung, Sizilien schweigt und Allegorie gegen die vorschnelle Mehrheit.
Eine treffende Beschreibung Gino Hahnemanns gelang Claus Löser in dem Buch Gegenbilder – Filmische Subversion in der DDR: „Seine Bedeutung war eine mehrfache. Mit großem Organisationstalent gelang es ihm, viele Statisten und Künstler-Freunde zu mobilisieren. Instinktiv sicher erschloss er exotische Schauplätze und Requisiten, die der Attraktivität seiner Projekte zuträglich waren. Vielleicht noch wichtiger als seine Filme selbst waren die integrativen und motivierenden Energien, die von seiner Person ausgingen. Er schlug Brücken zwischen Künstler- und Schwulenszene, begab sich sogar in die Niederungen der Amateurfilmwettbewerbe, um hier verwandte Seelen auf seine Seite zu ziehen. …

Sein Selbstverständnis als schwuler Filmemacher und filmender Schwuler wurde von ihm nie kokett ausgestellt, wurde vielmehr als der ihm entsprechende Normalzustand vorausgesetzt. Nicht die larmoyante Klage über Einschränkungen war seine Sache, vielmehr die lustvolle Nutzung vorhandener Möglichkeiten. … Mit Vorliebe wandte Gino sich historisch personifizierten Sujets zu: Martin Luther, Kaspar Hauser, Claude Debussy, Franz Kafka, Goethe, Friedrich der große und Karl-Schmidt-Rotluff fielen seiner Demontage anheim ... Diese Monumente der Zeitgeschichte kommentierte er mit szenischen Entwürfen, die oft in ironischem Widerspruch zur DDR-Wirklichkeit standen. Dazu sagte er: Die Filme waren einfach das Ergebnis einer Suche nach dem, was ich im Osten nie gefunden habe. Ich habe mich in der DDR nicht räumlich eingeengt gefühlt, wohl aber vom Kulturraum her. Auch in Bezug auf Film. Ich habe mir schließlich gesagt, dann mache ich mir eben mein eigenes Kino.“
Die schrittweise Abkehr vom Film ging ab Mitte der 1980er bei Gino Hahnemann über in intensiver werdende literarische Aktivitäten. Zum Abschied ein Text von Gino aus einer 1985 erschienenen Kleinstedition.

zwei männer verlassen die
stadt
zurück bleiben ein verwahrloster
haushalt ihre frauen die man nicht
kennt toiletten sprachlosen liebes
vollzuges aufklärungsschriften die
die minderheit erst zur minderheit
machen und ihre verfasser
blanke rassisten
bleiben zurück in gegenläufigen
wintern und sommern des nordens
eine telefonzelle aus portland
zement steht am rande der start
bahn

natter | 24.04.06 14:00 | Permalink