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Weißrussland: Jeans und Cola machen keine Revolution

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- von Emmanuelle Piriot und Kamil Majchrzak aus Minsk -

Jeans und Cola machen keine Revolution, deshalb wählen viele WeißrussInnen bei den Präsidentschaftswahlen lieber den status quo der kleinen Stabilisierung als sich der Diktatur des Kapitals zu unterwerfen.

„Sie schreien laut sie seien gegen Lukaschenko, aber was schlagen diese Oppositionellen vor? Freiheit und Demokratie? Und was wollen die Menschen damit machen, wenn Sie kein Geld zum Reisen haben? Mit Lukaschenko haben sie nicht viel aber wenigstens haben sie etwas zu Essen“ – beklagt mit Ironie Natalia*, eine junge Studentin der Wirtschaftswissenschaften aus Minsk, die ein halbes Jahr auch an der Europa-Universität Viadrina studiert hat. Auch Natalia ist gegen Lukaschenko erwartet aber keine Veränderungen nach den Präsidentschafts-Wahlen. Es ist absehbar, dass Lukaschenko auch beim dritten Urnengang im Amt bestätigt wird, welches er seit 1994 unter Kontrolle hat. Die drei anderen Kandidaten schaffen es – auch ohne Wahlmanipulationen - nicht die WählerInnen zu einer Stimmabgabe gegen den Ex-Kolchos-Direktor zu überzeugen.

Für westliche Demokratien gilt Weißrussland als „letzte Diktatur“ in Europa. Diese Folie legitimiert das neoliberale Programm bürgerlicher Demokratien, erklärt jedoch nicht warum die Opposition in Weißrussland kein signifikantes Vertrauen in der Bevölkerung genießt. Lukaschenko hat gewiss alle unabhängigen Zeitungen geschlossen und die Aktivitäten von NGOs, die nicht für Lukaschenko standen, bzw. eine internationale Ausrichtung aufwiesen, nahezu ausgeschaltet. Damit sollte das Land abgeschottet und ausländischen Einflüssen entzogen werden.

Staatliche Fernsehprogramme dienen dazu den Nationalismus aufzuwerten und eine Festungsmentalität zu etablieren: außerhalb Belarus keine Erlösung. Fähnchenschwenkende „Mütterchen“ aus der Froschperspektive, die ihre Augen exaltiert auf eine Bühne richten auf der blonde Sänger die Vorzüge Weißrusslands in folkloristischer Tracht besingen, spricht jedoch nicht einmal eingeschlafene Omas an. Die meisten WeißrussInnen verzichten ohnehin auf staatliches Fernsehen zugunsten russischer TV-Sender, die sie mit Werbung und brasilianischen Soap Operas desgleichen in eine Märchenwelt entführen.

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Tapferes Schneiderlein Lukaschenka: Seit 10 Jahren schneidert Weißrussland deutsche Polizeiuniformen, der menschenrechtlichen Heuchlerei Europas sind beim "Geschäft" mit dem Diktator keine Grenzen gesetzt

Westliche Medien bemühen sich die schwache gesellschaftliche Opposition mit mangelnder Meinungsfreiheit zu erklären. Damit wird das enorme Misstrauen gegenüber - aus dem Westen importierten Worthülsen - verschweigen. Lukaschenko hat vier Gegenkandidaten. Der grossteil der Opposition verständigte sich im Oktober 2005 auf einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidat Alexander Milinkievich. Dieser vereint sehr unterschiedliche Gruppen von Grünen bis Rechts. Die Koalition wird nur durch die Ablehnung von Lukaschenko zusammengehalten. Ein politisches Programm gibt es nicht. Milinkievich tritt wie ein westlicher Staatsmann auf und mimt seinen Wahlkampf nach der Vorlage seines ukrainischen Kollegen Wiktor Juschchenko. Doch die Revolution in Orange ist schon ein Jahr alt und hat den UkrainerInnen einen bitteren Beigeschmack hinterlassen.

Paradoxerweise gelangen immer mehr UkrainerInnen zu dem Schluss, die soziale Lage in Weißrussland wäre durch dortige niedrige Mieten und Lebenshaltungskosten vergleichsweise günstiger. Nicht zu unterschätzen ist auch die Tatsache, dass dort die Privatisierung wichtiger wirtschaftlicher Sektoren immer wieder hinauszögert wird. Vieles spricht für die zynische Erkenntnis, dass die Wahlchancen von Milinkievich erst dann steigen würden, wenn es den WeißrussInnen wirtschaftlich schlechter gehen würde.

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Lukaschenko begründete einen weißrussischen Sonderfall für den post-sowjetischen Raum. „Weißrussland ist die beckettsche Welt par excellence, man müsse sich nicht fragen was man morgen tun soll, man tut was man gestern getan hat“ - meint Theaterregisseur Bruno Boussagol. Er entdeckte Weißrussland bei seinen Inszenierungen von Texten der weißrussischen Autorin Svetlana Alexejevic in Minsk.

Weißrussland stellt einen anachronistischen weißen Fleck auf Europas Landkarte dar. Scheinbar - jenseits globaler Probleme – konzentriert sich das Leben der Menschen auf die Bewältigung des Alltags. Wer nicht „auffällt“ wird durch das System in Ruhe gelassen. Wen Lukaschenko bislang nicht durch diese „Vergünstigung“ entpolitisiert hat, wird durch Angst vor einer eventuellen grundlosen, kurzen Inhaftierung eingeschüchtert. „Die Mittelklasse bleibt auch passiv und engagiert sich nicht in der Opposition, weil sie Angst hat bei einem politischen Wechsel wirtschaftlich etwas verlieren zu müssen“ sagt Dmitry ein junger Journalist und Zeichner aus Minsk. Trotz der vielen Verbote arbeiten viele MitgliederInnen von NGOs und JournalistInnen auch in der Illegalität weiter. Sie genießen sogar das Wegfallen vieler bürokratischer Hürden – meint ironisch die Journalistin Weronika. Eine moderne Linke soziale Bewegung existiert eigentlich nicht oder ist erst im entstehen Begriffen.

In der Praxis bedeutet dies, dass fehlendes politisches Engagement mit in Ruhe gelassen werden honoriert wird. Man muss auch nicht explizit pro-Lukaschenko sein, es genügt sich öffentlich nicht gegen ihn auszusprechen. Lukaschenko sichert sich so das Vertrauen der Weißrussen, die lieber den status quo als die mit der Opposition einhergehenden Veränderungen wählen.

Dagegen wären insbesondere wirtschafts-liberal eingestellte und gut ausgebildete oppositionelle Eliten Nutznießer eines Machtwechsels, der mit einer pro-westlichen Kursänderung verbunden ist. Die „Demokratie bedeutet in diesem Sinne nur einen neoliberalen Slogan, der partikulare kapitalistische Interessen des Westen verschleiert“ – kommentiert in diesem Zusammenhang der linke polnische Publizist Piotr Ciszewski das enorme Engagement Polens für die Orangene Revolution in der Ukraine und Weißrussland. Der ehemalige polnische Verteidigungsminister Komorowski sprach auch wohl deshalb in einer Sitzung des Auswärtigen Ausschusses des polnischen Parlamentes davon: „Nicht eine Revolution, sondern eine Demokratie exportieren zu müssen“.

Der Oppositionsführer Milinkievich traf sich im Februar mit dem Präsidenten der Europäischen Kommission Manuel Barroso und der Kanzlerin Angela Merkel von denen er die Zusicherung der Unterstützung für demokratische Veränderungen in Weißrussland erhalten hat. Zuvor wurde Milinkevich von den Außenministern Frankreichs und Polens hofiert. Trotz der finanziellen Unterstützung durch ausländische NGOs müssen die Oppositionellen damit rechnen, dass Lukaschenkos bisheriges Wirtschaftsprogramm weiterhin eine beachtliche Unterstützung genießt.
Die Opposition müsste für die Zukunft eine andere Kreativität entwickeln um Wirkung in einem Land wie Weißrussland zu entwickeln sagt Dmitry. Die Unterstützung neoliberaler Wunderheiler aus dem Ausland reicht nicht aus. Das heißt, dass die durch weißrussische Eliten aus dem Westen importierte Strategie einer „Demokratie zum Mitnehmen“ nicht ihren Absatz finden kann.

Die Existenz des anachronistischen Weißrusslands ist ein offener affront des als alternativlos herrschenden Neoliberalismus des Westens und seines selektiven Menschenrechtsverständnisses. So wird ein an der Einreise nach Weißrussland gehinderter polnischer Journalist der Gazeta Wyborcza als Meinungsfreiheitskämpfer gefeiert. Das gleiche Einreiseverbot für weißrussische GlobalisierungskritikerInnen zu dem Wirtschaftgipfel der EU in Warschau dagegen als Schutzmaßnahme dargestellt. Deswegen stößt an diesem Wahlsonntag auch Grigori – ein junger Student der Kulturwissenschaften der Europa-Universität Viadrina lieber auf den statu quo an.

*Weißrussische Namen geändert

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Michal Stachura | 19.03.06 11:00 | Permalink

Kommentare

Das hier mit zweierlei Maß gemessen wird ist ja wohl seit langem klar. Nach dem Prinzip "schwarz ist weiss und weiss ist schwarz".
Aber mal eine andere Story: die usa schicken in den Irak auch "Illegale" Einwanderer aus Mexico als "US" Soldaten (die dort auch sterben). Wär eine Recherche wert.

Verfasst von: Thomas | 19.03.06 15:25

Zum Thema US-Army und Migration gibts hier etwas: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/21/21321/1.html

Verfasst von: Jose | 19.03.06 18:20

gratuliere. einen sehr ausgewogenen artikel habt ihr da direkt aus weißrussland bekommen. die berichterstattung im ostblog unterscheidet sich wiedereinmal wohltuend von dieser hetze in den bürgerlichen medien.

Verfasst von: palomino | 19.03.06 21:55

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