« Ostberlin sagt Danke! | Hauptseite | Südamerikas geostrategisches Süßwasserreservoir "Acuifero Guarani" »

Brasilien - Buchriese und Lesezwerg

Die Bienal Internacional do Livro in Sao Paulo - drittgrößte Buchmesse der Welt
--von Klaus Hart, Sao Paulo--
Zu den berühmten Karnevalsparaden strömten nur einige hunderttausend in Lateinamerikas größtes Ausstellungszentrum Anhembi von Sao Paulo - jetzt, zur Buchmesse, kommen weit mehr, etwa eine Million. Denn in der drittgrößten Stadt der Welt konzentriert sich die kritische Masse an Lesern und Autoren. Hier gibt es die größten und besten Buchkaufhäuser, die meisten Autorenlesungen und literarischen Debatten - Rio de Janeiro ist dagegen Provinz.

Messedirektor Marino Lobello im Interview: „Die Buchbiennale von Sao Paulo gilt heute als die drittgrößte Messe dieser Art in der Welt. Zuerst kommt Frankfurt, dann die Book Expo in den USA – und dann eben Sao Paulo, gemessen an der Zahl der Buchtitel, der Ausstellungsgröße, der Besucherzahl. Und es ist natürlich die größte Buchmesse Lateinamerikas.“

Zahlreiche europäische Länder, die USA und Kanada stellen in Sao Paulo aus, doch Verlage der Nachbarländer sind kaum vertreten. Lobello konstatiert, daß der Kulturaustausch in Lateinamerika noch sehr schwach ist, sich nur langsam bessert: “Der Einfluß europäischer Autoren ist in Brasilien viel stärker als der von südamerikanischen Schriftstellern, sozusagen gleich von nebenan. Wir kennen die Literatur Großbritanniens oder Deutschlands viel besser als die von Argentinien und Uruguay.“ Schwerpunkt der Biennal do Livro von Sao Paulo ist auch die Leserwerbung. Hier wird nicht nur verhandelt, sondern auch gleich massenhaft verkauft. Die 185 Millionen Brasilianer lesen pro Kopf und Jahr statistisch nur anderthalb Bücher, während der weltweite Durchschnitt bei zehn Büchern liegt.

„Nur 26 Millionen Brasilianer lesen regelmäßig – doch jährlich gerade einmal vier Bücher im Schnitt. Das ist eigentlich schon sehr gut, denn wir sind ein junges Land, ohne Lektüretradition. Dieses Publikum wollen wir dazu bringen, statt der vier eben fünf, sechs oder sieben Bücher zu lesen. Bücher haben mit Bürgerrechten zu tun, bedeuten Lebensqualität. Die Regierung fördert zwar das Buch, müßte aber viel mehr tun. Denn in Brasilien haben wir das chronische Problem des Analphabetismus zwar gelöst, doch leider funktionelle Analphabeten herangebildet. Also Leute, die ihren Namen schreiben und lesen können, die aber unfähig sind, ein Buch zu lesen und auch zu verstehen.“

Seit Jahrzehnten betont auch Brasiliens Kirche, daß das Volk von den Eliten bewußt dumm gehalten wird, um es besser manipulieren zu können.

„Lektüre verbessert, intensiviert die Hirnaktivität – wer liest, bringt sich in intensiveren Kontakt mit seiner Lebensrealität“, sagt Messedirektor Marino Lobello.

--Joao Ubaldo Ribeiro—

Brasiliens Weltbestsellerautor Paulo Coelho hat sich für die Buchmesse in Sao Paulo nicht angekündigt, bleibt in seiner Villa in Südfrankreich. Doch der nach Coelho in Europa meistverlegte Joao Ubaldo Ribeiro ist natürlich vor Ort.

UbaldoRibeiro.jpg
Ribeiro

Der aus Bahia stammende, seit langem in Rio de Janeiro lebende Ribeiro gehört zu den führenden Kolumnisten großer Qualitätszeitungen. Humorig, ironisch und erfrischend politisch unkorrekt analysiert er alle Mißstände und Widersprüchlichkeiten des Tropenlandes, geißelt die „Kultur der Unehrlichkeit“, nimmt die Mentalität seiner Landsleute, deren Autoritätshörigkeit und Passivität, aufs Korn. Den Staatschef Luis Inacio Lula da Silva nennt Ribeiro einen „Mörder von Träumen und Hoffnungen“, dessen desaströse, von Korruptionsskandalen und Machtmißbrauch gezeichnete Regierungspolitik hatte er als einer der ganz wenigen brasilianischen Intellektuellen laut vorausgesagt.
„Wir sind ein Volk mit dem Temperament von Schafen, von Hammeln, wir sind an Autorität gewöhnt“, analysiert Ribeiro im Interview. „Hier reklamiert doch niemand. Ich habe unsere Staatschefs immer respektiert, aber der normale Brasilianer hält sich für einen Angestellten der Regierung. Das ist die nationale Mentalität. Doch zu was sind wir Brasilianer denn erzogen worden? Ein friedliches Volk sind wir überhaupt nicht. In Canudos haben sie die Leute meiner Nordostheimat massakriert. Das gehört alles zur berühmten brasilianischen Rätselhaftigkeit. Wir sind ein Volk, das absurde Mythen über seine Herkunft, seine Ursprünge kultiviert. Die Brasilianer wiederkäuen viel Geschwätz, Gerede über sich selbst, sagen gerne: „Wir Brasilianer“. Die Deutschen, die Brasilianer seien so und so. Das folgt aus dem niedrigen Bildungsgrad. Das Bildungswesen in Brasilien kam zu einem fürchterlichen Punkt. Da ist der Fakt, daß es Kindern und Jugendlichen mit kompletter Schulausbildung nicht gelingt, einen geschriebenen Text zu verstehen. Die Wahrheit ist, daß sich unser Bildungswesen stark verschlechterte. Und Staatschef Lula stimuliert das auch noch, wenn er andauernd sagt, ich habe gekämpft, ich brauche nicht zu studieren – alles riesige Dummheiten von ihm. Ich habe noch in einer öffentlichen Schule besten Niveaus gelernt – heute ist die wahrscheinlich reiner Schrott. Geh in die Bundesuniversität von Rio de Janeiro – furchtbar ist es dort! Wir bilden Generationen von Analphabeten heran!“

Doch die Kinder der kleinen Mittel-und Oberschicht gehen heute in gutausgestattete Privatschulen.
„In Brasilien, lautet ein Argument, würden wenig Bücher verkauft, werde wenig gelesen, weil Bücher so teuer seien. Das stimmt, die sind teuer, wie in Deutschland ja auch. Doch in Brasilien werden manche CDs gleich millionenfach verkauft. Wenn es einen Markt für eine Million CDs gibt, haben wir also eine Million Leute, die auch das Geld für ein Buch hätten. Doch wenn hier mal von einem Buch 5000 Stück verkauft werden, läßt der Verleger aus Dankbarkeit in der Kirche eine Messe zelebrieren. Ich bin eine Ausnahme, meine Bücher verkaufen sich gut in aller Welt.

Die jetzige politische Lage Brasiliens macht mich überhaupt nicht perplex. Alle meine Freunde, meine Familie und selbst meine Frau suchten mich von Lulas Fähigkeiten zu überzeugen. Ich habe dem sehr widerstanden. Doch dann beging ich die Sünde, mir einreden zu lassen, daß ich gegenüber Lula voller Vorurteile sei, ihn geradezu vorverurteile, was dessen Kompetenz, dessen Eignung für das Präsidentenamt betrifft. Ich hatte immer betont, dieser Mann ist für das Amt nicht präpariert. Und was jetzt passiert ist, habe ich alles vorausgesagt, es ist wirklich kurios. Lula ist sicherlich ein besonderer Mensch, aber er weiß nicht zu regieren. Er ist kein Präsident, er weiß nicht zu administrieren, er hat kein Projekt, keine Visionen für Brasilien. Er machte sich vom ersten Amtstage an lächerlich. Sein Anti-Hunger-Programm ist reine Veralberung. Lula meint, eine der besten Regierungen in der Geschichte Brasiliens zu stellen, doch er ist ein Dummkopf! Er wurde zum Narren am Hofe. Vor Lulas Wahl dachte ich mir nachts im Bett, es ist doch nicht möglich, daß ich als einziger Recht habe, gegen alle Welt, die das Gegenteil denkt. Aber heute ist es doch sinnlos, noch auszurufen, na, habe ichs euch nicht vorhergesagt? Einige sind nun beschämt, andere enttäuscht, andere triste. In Wahrheit hat sich doch Lulas Arbeiterpartei schon vor langer Zeit entpuppt als das, was sie wirklich ist. Jetzt spielt Lula ein für Brasilien sehr gefährliches Spiel. Vieles läuft derzeit sehr merkwürdig – doch man wird nichts entdecken, es gibt einfach Tabus. (Ribeiro singt einen Gassenhauer:) Wenn man schreit, greift den Dieb, bleibt hier keiner mehr übrig, mein Bruder. Denn alle haben ja Schuld. Wir sind ein korruptes Land, das ist die Wahrheit.“

--Ignacio Loyola Brandao--

Kaum ein Buchautor kann nur vom Schreiben leben. Ignacio Loyola Brandao aus Sao Paulo beispielsweise hat über 25 Romane und Erzählungen verfaßt, einige davon, als er zwei Jahre auf Einladung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes(DAAD) in Deutschland lebte. In der Megametropole leitet der Dichter eine Mode-und Frauenzeitschrift. “Sehen wir mal von Paulo Coelho ab, der in der ganzen Welt viele Bücher verkauft, haben 99 Prozent der Autoren noch einen anderen Beruf, müssen arbeiten gehen, sind Ärzte, Bankangestellte, Ingenieure oder Journalisten so wie ich. An die dreihunderttausend Leute lesen wöchentlich meine Kolumne in der Qualitätszeitung O Estado de Sao Paulo, doch Leser meiner Bücher werden sie deshalb nicht, eigenartig, merkwürdig. Dabei verkauft sich jedes für brasilianische Verhältnisse gar nicht schlecht, so um die 25000 Stück – aber eigentlich eine lächerliche Auflage.“
Auch Brandao beklagt im Interview den mangelnden Kulturaustausch mit den Nachbarländern: “Wo werden die meisten Autoren Lateinamerikas verlegt? In den USA, Kanada, in Deutschland, Italien. Wenn ich bisher an internationalen Literaturdebatten teilnahm, war das in Berlin, Heidelberg, Frankfurt, München, in Toronto, aber nie hier im Lande, nie in Lateinamerika. Selbst argentinische Autoren kenne ich nur aus meiner Zeit in Berlin, als sie dort im Exil waren!“

--Religiöses verkauft sich besser als Paulo Coelho--

Zu Brasiliens vielen kulturellen Besonderheiten zählt, daß mehr religiöse CDs über die Ladentische gehen als Samba – und katholische Bestsellerautoren schlagen sogar Paulo Coelho. Gemäß den Statistiken sind von zehn Lesern sechs Frauen, von denen 45 Prozent religiöse Bücher bevorzugen, nur 26 Prozent Romane und Biographien. Entsprechend stark sind katholische Verlage auf der Buchmesse Sao Paulos vertreten. Beim brasilianischen Rocco-Verlag schaffte Paulo Coelho mit seinem Roman „Elf Minuten“ von 2004 erst eine Auflage von dreihunderttausend Stück. Eine ganze Reihe katholischer Autoren, darunter der Befreiungstheologe Leonardo Boff, kommen auf ebensolche – und höhere Auflagen. Der Dominikaner Frei Betto brachte jetzt ebenfalls beim Rocco-Verlag sein Buch „Die blaue Fliege“ über seine widerspruchsvolle Zeit als Berater von Staatschef Lula heraus. Rocco rechnet noch für dieses Jahr mit mindestens 150000 verkauften Exemplaren. Der katholische Paulinas-Verlag aus Sao Paulo preist auf seinem Messestand die Hitmacher der angeschlossenen Plattenfirma mit an:„Padre Zezinho und Adriana sind unsere Zugpferde – von deren Musik-CDs verkaufen wir jeweils bis zu drei Millionen“, sagt Paulinas-Sprecherin Flavia Vitorino. Solche Auflagen schaffte bisher keine brasilianische Pop-oder Samba-Größe.

--Editora Vozes und Leonardo Boff—

Leonardo Boff läßt bei der Editora Vozes in Petropolis bei Rio de Janeiro drucken. Von 2004 bis 2005, so der deutschstämmige Verlagssprecher Teobaldo Heidemann, habe im größten katholischen Land der Verkauf religiöser Bücher um immerhin 25 Prozent zugenommen, während der Buchmarkt insgesamt nur um zwei bis drei Prozent zugelegt habe. Die Editora Vozes mauserte sich zum kommerziellen Großverlag, steht schon auf Platz zehn der nationalen Rangliste. „Unsere Zielgruppe ist besonders das intellektuelle, gebildete Publikum“, so Heidemann. Von einem christlichen Selbsthilfe-Buch wurden bereits zehn Millionen umgesetzt, ein soziologisches Werk über Körpersignale kam auf 600000.

Die Editora Vozes gehört den Franziskanern Brasiliens, wird von zwei Ordensbrüdern geleitet. 1901 hatte ein deutscher Franziskaner die erste kleine Druckmaschine in die Berge von Petropolis mitgebracht, den Verlag gegründet. Heute haben die wichtigsten Großstädte Brasiliens gutausgestattete Vozes-Buchhandlungen.

Klaus | 10.03.06 16:42 | Permalink