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Im Tal der selbstgerechten Linksbürgerlichen / Islam und Menschenrechte - eine Hausaufgabe

Anscheinend bestehen – auch in der Linken – sehr viele Missverständnisse über den Islam und Menschenrechtsinterpretationen in islamisch geprägten Gesellschaften, die in der Lage sind durch ihre Undifferenziertheit den latenten Rassismus sowie Ausländerfeindlichkeit in Deutschland zu verstärken. Aus diesem Grunde hier ein längerer Text - als persönlicher Beitrag - gegen die sich selbst aufgeilende Islamophobie und Ausgrenzung von MigrantInnen aus islamisch geprägten Gesellschaften.

von Kamil Majchrzak

Der erste Golfkrieg von 1991 hat im Bewusstsein großer Teile der arabisch geprägten Welt die Frustration über Misserfolge einerseits und utopische Hoffnungen und Heilserwartungen andererseits bestätigt und verstärkt in Gang gesetzt. Die Schnelligkeit und Totalität der Niederlage der größten Armee der Region, die als fünfstärkste der Welt galt, hat großen Teilen der arabisch geprägten Welt den wissenschaftlich-technologischen Rückstand bzw. ihre Unterlegenheit symbolhaft vor Augen geführt. Europa täte gut daran, Quellen und Ausmaß der Demütigung, Frustration zu verstehen um Hintergründe einer Auseinandersetzung um die Durchsetzung der Menschenrechte in islamisch geprägten Gesellschaften zu verstehen.

Die folgenden Betrachtungen versuchen, den gesellschaftlichen und kulturellen Kontext der Wahrnehmung von Entwicklung und Menschenrechten in der islamisch geprägten Welt (das heißt nicht nur den arabischenstämmigen Gesellschaften sondern auch der Persischen sowie in weiten Teilen der GUS, Zentral- und Ostasien) in ihren wesentlichen Komponenten aufzuzeigen.

Sozialpsychologische Grundströmungen und die Quellen des islamischen Fundamentalismus

Vor allem die Region des Nahen und Mittleren Ostens als auch des Kaukasus und der Maghreb-Staaten bietet ein verwirrendes Spektrum von militärischer Gewalt, ökonomischer Stagnation und sozialpolitischen Dauerkrisen, wiederholt akzentuiert durch "Brotrevolten" wie in Kairo, Tunis, Algier oder Rabat, und all dies weitgehend unabhängig davon, ob es sich stärker um als "rechts" oder "links" etikettierte Regime, um Erdöl- oder Nicht-Erdölländer handelt. Vielerorts münden frustrierte Hoffnungen in eine Suche nach religiös-fundamentalistischen Heilsgewissheiten ein.

Die Virulenz sozio-politischer Prozesse resultiert partiell aus einer Identitätskrise. Mit Ayatollah Khomeini ausgedrückt:

"Wir haben unsere Identität verloren und sie durch eine westliche ersetzt.“

Ähnlich äußerte sich Kamel Abu Jaber, einer der führenden Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Jordaniens:

"Für die arabische Gesellschaft und das arabische Individuum war die westliche Überlegenheit schockierend. (...) Wir mögen den Eindruck erwecken, als ob wir in einem Zustand moralischer Schizophrenie leben, und für viele Individuen ist das in der Tat der Fall. (...) Um heute Jordanier, Araber zu sein, muss man nicht nur in einer Welt, sondern in zweien leben, und manchmal in mehr als zwei Welten zur gleichen Zeit. (...) Soll man sich auf ererbte Werte, Sitten und Instrumente stützen oder Anteil haben an den Innovationen, die aus der industrialisierten Welt kommen?“

Der ägyptische Diplomat Tahseen Basheer schildert die gleiche Spannung:

"Die neue Idee heißt: Suche nach Authentizität, nach dem, was es heißt, Ägypter oder Araber zu sein.(...) Die Suche nach Authentizität, die Fähigkeit, mit sich selbst und mit seiner Umgebung im Einklang zu sein, ist das große brennende Verlangen, das die Menschen bewegt. Angesichts dieser Suche nach Authentizität haben sich alle Ideologien von den 20er bis zu den 60er Jahren als inadäquat erwiesen.(...)

Nun haben wir eine neue Sprache. Die Sprache, die sich ausbreitet, ist die Sprache des Islam. (...) Die Araber, und die Muslime im allgemeinen werden viele Jahre brauchen, während derer sie immer wieder debattieren werden, was eine muslimische Gesellschaft im 20. und 21 Jahrhundert ist. Eine Erneuerung nach der anderen wird stattfinden, bis wir eines Tages einen neuen Konsensus darüber erreichen mögen, was ein moderner Islam in der Gegenwart bedeutet."

"Nur wenn die Quellen der Modernität in der eigenen traditionellen Kultur entdeckt werden, erfolgt Modernisierung nicht auf Kosten der Identität.“


Die Modernisierungs-Debatte

Der Islam steht in der monotheistischen jüdisch-christlichen Tradition. Er ist aber mehr als eine Religion im europäischen Sinne; der Koran ist nicht nur Gebets- sondern zugleich Gesetzestext. Er setzt, als Wort Gottes durch den Propheten Mohammed offenbart, das rechte Verhalten von Individuum und Gesellschaft in allen Lebensäußerungen fest.

Der strahlende Aufstieg der arabisch-islamischen Zivilisation wurde als Verwirklichung der idealen menschlichen Gesellschaft nach göttlichen Plan begriffen.

"Gott hatte die Menschen gelehrt, wie sie leben müssten, und jene, die ihm folgten, empfingen sichtbar seinen Segen. Sie demonstrierten damit zugleich die Richtigkeit des Plans. Gott hatte durch den Islam gesprochen und handelte durch ihn. Der strahlende Erfolg des Unternehmens bewies die Gültigkeit der ganzen Konzeption. Die Geschichte bestätigte den Glauben."

So musste der Verfall dieser Kultur in der Neuzeit - die noch im Mittelalter der europäischen weitaus überlegener war - ein Gefühl hervorrufen, dass der Ablauf der Geschichte bzw. der göttliche Plan gestört sei. Kolonialismus, wiederholte Niederlagen im Israel-Konflikt und diverse andere Demütigungen bis zum letzten Angriff der USA und ihrer Verbündeten auf den Irak demonstrierten die eigene Ohnmacht nach Außen. Zugleich vollzog sich unter dem Einfluss westlicher Ideen eine Auflösung der Lebensnormen nach innen. Die traditionellen Gesellschaftsstrukturen wurden erschüttert, die Lebensformen bis hinein in die Familie (Stellung der Frau, Erziehungswesen usw.) in Frage gestellt. Die reichen Erdölstaaten bleiben von ausländischer Technologie abhängig. Für die Nicht-Erdölstaaten kamm die Abhängigkeit von ausländischen Finanztransfers hinzu.

Die geistige Verunsicherung hat eine lange Geschichte. Versuche einer Behauptung gegen den Ansturm als westlich wahrgenommener Ideen auf allen Lebensgebieten überzeugten nicht. Reformer von At-Tahtawi (1801 1873) über Al-Afghani (1838 1879) bis zu Mohammed Abduh (1849 1905) konnten sich nicht durchsetzen. Die Verarbeitung westlicher Konzepte wissenschaftlicher Welterfassung und -gestaltung und ihre Integration in islamische Wertvorstellungen wurde nicht befriedigend geleistet. Eine fundierte inhaltliche Auseinandersetzung mit der Moderne fand mehrheitlich nicht statt. An der Überlieferung festhaltend wurde die Herausforderung, sich mit neuen Konzepten vor dem Hintergrund der eigenen kulturellen Traditionen auseinander zusetzen, nicht angenommen. Entsprechend schmerzhaft sind die Defizite im Hinblick auf die unabweisbaren Anforderungen einer sich wissenschaftlich-technisch rasch transformierenden und international stärker verflechtenden Weltwirtschaft.

Eine westlich beeinflusste neue Oberschicht hatte zunächst auf Nationalismus und liberale Reformen auf der Grundlage säkularer Konzepte gesetzt und damit partiell eindrucksvolle politische und ökonomische Erfolge erzielt. Aber schon 1928 artikulierte sich in Ägypten, dem am weitesten "verwestlichten" Land des Nahen Ostens, die Angst vor dem Verlust kultureller Identität in der Gründung der Moslem-Bruderschaft. Ihr Führer Hasan Al-Banna beschwor die Rückkehr zum Islam als umfassendem sozialen Regelungssystem. Der Konflikt zwischen aktiver Teilhabe am internationalen Transformationsprozess und dem Beharren auf dem Buchstaben der Koranischen Offenbarung und der überlieferten Lebenspraxis des Propheten ist weit davon entfernt, entschieden zu sein.

Der Islamismus steht der Moderne jedoch nicht eindeutig feindlich gegenüber, sondern eher ambivalent. Er dient sowohl der Legitimation von Herrschaft als auch zur Legitimation von Opposition und wird entsprechend instrumentalisiert. Dabei ist der Islamismus nicht per se mit Fundamentalismus gleichzusetzen, denn er kann auch für das Bemühen stehen aus den Quellen der Religion Hilfe und Leitung für die Bewältigung der Probleme der Gegenwart und die Wahrheit der Botschaft Gottes in der jeweiligen gesellschaftlichen Situation zu vermitteln. In diesem Kontext kann Islamischer Fundamentalismus auch als Versuch gedeutet werden den „politischen, ökonomischen, kulturellen und familiären Erosionsprozess zumindest aufzuhalten und die Reproduktion von bestimmten kulturellen Vorstellungen und Werten zu sichern“.

Heute sind in fast allen Ländern des Vorderen Orients islamisch-fundamentalistische Bewegungen auf dem Vormarsch, gespeist von den unübersehbaren Misserfolgen bei der Lösung der Entwicklungsprobleme. Die eklatante Abhängigkeit von Auslandshilfe wurde nur kurzfristig und in wenigen Ländern durch das Petro-Dollar-Phänomen überdeckt. Doch auch hier nutzte man nicht die Chancen grundlegender Reformen im Bildungs- und Forschungsbereich. Die wissenschaftlich-technische Innovationslücke blieb bestehen. Indessen stehen kreative Wissenschaftler immer noch vor dem Dilemma, im heimischen Milieu frustriert zu werden oder den "brain drain" zu verstärken. So auch Abdus Salam, Nobelpreisträger für Physik (1979): "I had a stark choice: To stay in physics or in Pakistan."

In vielen islamisch geprägten Ländern wächst eine deutlich empfundene Unruhe, dass man im Begriff ist, auch im Vergleich zu konkurrierenden Schwellenländern anderer Weltregionen den Anschluss an die internationalen Innovationsprozesse zu verlieren. Anstatt entschlossene technisch-wissenschaftliche Anschlussstrategien einschließlich grundlegender Reformen des Bildungssystems (u.a. Einführung kreativer Lern- und Forschungsstile, Zulassung von Kritik und Freiheit des Denkens) durchzusetzen, greift innerhalb des breiten, keineswegs einheitlichen Spektrums islamischer Erneuerungsbewegungen eine Tendenz um sich, in eine unreflektierte Heilserwartung ("Der Islam ist die Lösung") abzugleiten, die wiederum selbstkritische und konstruktive Schritte blockiert und die Lösung für die komplexen Probleme der Gegenwart in der möglichst buchstabengetreuen Befolgung der tradierten religiösen Texte sucht.

Die Wahrnehmung von Bürger- und Menschenrechten

Die Gesellschaften der wohlhabenden Industriestaaten haben sich spätestens seit der Aufklärung als Vorhut des zivilisatorischen Fortschritts sowie moderner Lebensformen und einer modernen Staatsorganisation als Gewähr liberaler Freiheiten verstanden. Daraus folgte die Vermischung der Begriffe „modern“ und „westlich“ und ein Europa- bzw. Nordamerika-zentriertes Kulturverständnis. So wurde in den Industriestaaten das Bild eines trankskulturellen Gesellschafts-Typus geprägt, unabhängig von kulturspezifischen Aspekten oder Faktoren.
Im Gegensatz dazu war die Perspektive der islamischen Entwicklungsländer in einer Konfrontation mit dem überlegenen „Norden“ zu unterliegen.

Aus der Sicht der Industrienationen sollten alle Probleme der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Unterentwicklung durch die Bildung einer „modernen Gesellschaft“ gelöst werden. Diese sollte aus solchen Grundelementen bestehen wie: Industrialisierung, Säkularisierung, Urbanisierung, der Übernahme als modern erachteter Verhaltens- und Denkweisen sowie der Demokratisierung und Integration in eine Weltzivilisation.
Im „Norden“ tätige Theoretiker der Moderne wie Lerner , Inkels oder Smith gingen davon aus, dass nicht das politische System oder die Institutionen sondern bestimmte persönliche Verhaltensweisen der Menschen, Leitbilder der Massenkultur und persönliche Eigenschaften die entscheidende Voraussetzung für das Maß der Modernität einer Gesellschaft ausmachen.

Hier liegt einer der wesentlichen Wurzeln für die emotionale Einheit und Wahrnehmung - in weiten Teilen der islamisch geprägten Gesellschaften - der Begriffe "Westen" und "Kolonialismus/Imperialismus/Zionismus".
Der Angriff des Westens kommt aus arabischer Sicht im politischen - neben der Säkularisierungsforderung als Vorstoß gegen die islamische Religion - in seiner Unterstützung von Israel zum Ausdruck, das zum Symbol der arabischen Demütigung wurde. Trotz eines vielfach größeren arabischen Bevölkerungs- und Wirtschaftspotentials gelang es nicht, die Etablierung des Staates Israel auf palästinensischem Territorium zu verhindern. Zahlreiche UNO-Resolutionen vom ersten Teilungsplan bis zur Aufforderung, sich aus den besetzten Gebieten zurückzuziehen, wurden von Israel missachtet, und dessen ungeachtet die Sicherheit Israels durch das westliche militärische Potential garantiert, während die irakischen Verstöße gegen UNO-Resolutionen bezüglich Kuwaits oder des angeblichen Besitzes von Massenvernichtungswaffen massiv geahndet wurde. Aus der Sicht der Länder des Vorderen Orients muss diese eklatante Ungleichbehandlung unglaubwürdig wirken. In diesem Zusammenhang werden westliche Forderungen nach Demokratie und der Einhaltung von Menschenrechten lediglich als Einmischung und Neo-Kolonialismus wahrgenommen. Folterberichte wie zuletzt aus dem Irak bestätigen in islamisch geprägten Gesellschaften die kritische Wahrnehmung der westlich geprägten Welt als Scheinheilig und Gottlos.

Sharia

Eine Stellungnahme des Wissenschaftlichen Bereits des BMZ aus dem Jahre 1998 kam zu dem Ergebnis, dass der Islam als Religion und Kultur im Prinzip kein Hindernis für Entwicklung bilde. Bei Armutsbekämpfung, Bildungsarbeit, der Förderung gesellschaftlicher Partizipation oder auch beim Umweltschutz ließe sich ohne weiteres an islamische Normen und Ideale anknüpfen.

Problematisch seien aber Auslegung, Praxis und auch Missbrauch des islamischen Rechts, der Scharia, in einer Reihe muslimisch geprägter Staaten. Die Scharia ist nirgends kodifiziert und dabei interpretations- und wandlungsfähig. Sie wird von vielen Musliminnen und Muslimen als Ausdruck kultureller Identität, Gerechtigkeit und Ordnung schlechthin verstanden. Es ist eine Frage der Interpretation, ob ihre Befolgung zu Konflikten mit einer freiheitlich-demokratischen Verfassungsordnung führt.
"Fundamentalisten" und "Aufklärer" ringen verstärkt um eine tragfähige Interpretation des Islam. Während der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert dominierte die, fortschrittsorientierte, modernistische Richtung, die versuchte, an den Rationalismus des 9. und 10. Jahrhunderts anzuknüpfen. Die Aufklärer wollen den Kern der religiösen Offenbarung bewahren, diese aber im Sinne tragfähiger Lösungsansätze für konkrete Probleme des ausgehenden 20. Jahrhunderts interpretieren, ohne wie Teilgruppen der Fundamentalisten auf dem Buchstaben zu beharren.
Erstere sehen keinen Sinn darin, an institutionellen sozio-ökonomischen Ausformungen festzuhalten, die in der spezifischen historischen Situation entstanden, in der sich der Propheten Mohammed als Staatsmann befand.
So unterschied auch der sudanesische Reformer Mahmoud Mohammed Taha zwischen der zeitlosen transzendentalen Botschaft von Mekka und ihrer temporären Umsetzung in die politische Praxis von Medina. Letztere könne nicht verbindlich für die heutigen Probleme sein. Dafür wurde er Anfang 1985 in Khartoum wegen Abfalls vom Glauben hingerichtet.

Die Sharia ist nicht unbedingt mit unserem „Rechtssystem“ zu vergleichen: Sie erhebt keinen Anspruch auf eine umfassende und vollständige Regelung des menschlichen Zusammenlebens (z.B. fehlen Bestimmungen zum Handels- oder Verwaltungsrecht). Die Sharia trifft dafür aber Aussagen über das Verhältnis Mensch-Gott. Sie beinhaltet nicht nur Verbote, sondern auch Empfehlungen und Missbilligungen, die moralisch-ethisch nicht aber rechtlich relevant sind. Die Sharia ist auch weit davon entfernt ein bestimmtes Gesellschaftssystem oder eine Herrschaftsform vorzuschreiben.
In den meisten Verfassungen islamisch geprägter Staaten findet sich eine Berufung auf die Sharia als Quelle der Gesetzgebung, wegen ihrer Unbestimmtheit muss sie jedoch erst in positives Recht konkretisiert werden. Bis auf die iranische Ausnahme der „Sharia-Courts“ konkretisieren staatliche Organe die Transformation und überwachen die Einhaltung der Normen.
Auch ein islamisch geprägter Staat wie Saudi-Arabien, der den Koran zur Verfassung erklärt und offiziell keine von Menschen gemachten Gesetze anerkennt macht von Verordnungen gebrauch, die Gesetzesrang besitzen. In Pakistan und Iran, die sich ebenfalls als islamisch geprägte Staaten verstehen ist nie eine Gesetzgebung erreicht worden die ausschließlich die Sharia kennt. Für den Iran ist vielmehr die Erweiterung der Kernelemente des offiziellen Selbstverständnisses bezeichnend. Beruhte es nach der Revolution lediglich auf den Merkmalen „Islam“ und „Republik“ traten mit der Zeit „Nation“ und jüngst auch „religiöse Demokratie“ hinzu.

Im Hinblick darauf ist hervorzuheben, dass die Sharia nicht einheitlich ist, sondern
regional unterschiedlich und als „Rechtsbegriff“ unbestimmt. Ihre Auslegung ist Bestandteil eines politischen Deutungskampfes. So bezeichnete in Ägypten der Verfassungsgerichtshof die Verschleierung der Frau als interpretationsfähiges Konzept und rechnete es nicht zu den Grundsätzen der Scharia. Folter ist im Islam nicht vorgesehen und kann auch mit religiösen Argumenten nicht rechtfertig werden. Drakonische Strafen werden oft zu politischen Abschreckungszwecken benutzt bzw. um eine moralische Erneuerung der Gesellschaft zu symbolisieren, ebenso die sog. Apostasiegesetze gegen Menschen, die konvertieren möchten.

Im Vordergrund der Diskussion um eine Säkularisierung steht die Frage nach dem Verhältnis zwischen Politik und Religion. Im Westen wird dabei der intensive islamische Diskurs derer die im Namen des Islam herrschen und derer die in seinem Namen eine Opposition bilden als ein vom Islam und nicht von politischen Interessen bestimmter Diskurs fehlgedeutet. Dabei entstand die Vorstellung eines Gottesstaates bzw. das Konzept „Religion=Staat“ im Gegensatz zu frühmittelalterlichen christlichen Konzepten des Hl. Augustinus (“Vom göttlichen Staat“) erst im XIX. Jahrhundert und ist nur EINE Meinung innerhalb der islamischen Gesellschaften. Diese findet aber nach überwiegender Auffassung keine Entsprechung in der Sharia.

Der Islam kennt keine organisierte Kirche als institutionellen Träger der Religion. Im islamisch geprägten Denken gibt es dabei deutliche Parallelen zu jener „protestantischen Ethik“ deren Bedeutung für den „Geist des Kapitalismus“ Max Weber untersucht hat. Doch vergleichbare Denkmuster und Normen konnten sich in islamisch geprägten Ländern wegen der vorherrschenden hierarchischen Ordnung der Gesellschaftssysteme (Stichwort: Patrimonialismus) nicht entfalten.

DEN Islam gibt es nicht, genauso wenig wie es DAS Christentum gibt. Vielmehr sind nach Zeit und Ort höchst unterschiedliche Ausprägungen des Islam festzustellen. Es gibt daher auch nicht DIE islamische Interpretation des Korans, sondern eine ganze Reihe unterschiedlicher Abhandlungen und einen seit Jahrzehnten geführten innerislamischen Diskurs. Dabei sind einige vertretene Positionen mit der Achtung der Menschenrechten nicht in Einklang zu bringen. Menschenrechtsverletzungen in islamisch geprägten Staaten können durch islamische Anschauungen beeinflusst werden, müssen es aber nicht. So wird die Beschneidung von Frauen sowie Folter in einigen islamisch geprägten Ländern praktiziert ohne dass ihre Begründung auf dem „Islam“ beruht. Das was einige islamische Gelehrte als unumstößliche Glaubenssätze ausgeben ist oft nur eine Mischung aus Tradition und dem Festhalten an alten Herrschaftsstrukturen. Letztlich ist in islamischen wie auch in anderen Staaten die „universelle Herrschaft des Patriarchats“ ungebrochen.

Schlussbetrachtungen

Diskussionen über politischen Islam sind zunehmend von der Tendenz überlagert den Islam an sich mit Osama bin Laden und seine Gefolgsleuten zu identifizieren. Solche Verallgemeinerungen rufen in der Bedrohungsvorstellungen und Ängste hervor die gemäß dem öffentlichen Diskurs an Bedrohlichkeit verlieren würden wenn der Islam sich ähnlich wie der Westen säkularisieren würde. Modernisierung und Säkularisierung haben die muslimisch geprägten Gesellschaften in der Geschichte jedoch zumeist als Fremdbestimmung durch den Westen erfahren. Die Triebfeder des Islamismus liegt dabei nicht im Islam selbst sondern in den konkreten, von oktroyierter Modernisierung und Frustrationen bestimmten Lebenssituationen der Muslime die im Islam nach Erklärungen und Auswegen suchen. Für viele klingt die westliche Forderung nach Säkularisierung wie eine Aufforderung nach Abschaffung der eigenen Religion. Dass der Westen den Anforderungen der Moderne nicht immer gewachsen war hat der Faschismus und Stalinismus bewiesen, der mittels totalitärer Ideologien eine Neu-Orientierung der Gesellschaft durchsetzen wollte. Bis heute besteht die Katholische Kirche des EU-Neulings Polen auf dem Konzept des natürlichen Rechts als Geltungsgrund der polnischen Rechtsordnung.

Es ist sachwidrig, alle sozialen und menschenrechtlichen Probleme in islamischen Ländern immer auf die Religion zurückzuführen. Die meisten Menschenrechtsverletzungen sind bedingt durch traditionelle Bräuche und sozi-kulturelle Eigenarten des jeweiligen Landes. Probleme der Geschlechterbehandlung beispielsweise sind nicht über neue Interpretationen des Koran zu lösen, da sie tief gesellschaftlich verankert sind.
Man sollte nicht davon ausgehen, dass Muslime grundsätzlich andere Wertvorstellungen haben. Absolut zu vermeiden ist die essentialistische Frage, ob der „Islam“ oder das „islamische Recht“ mit den MR-Konventionen vereinbar sind. Eine solche Fragestellung führt zu Defensivreaktionen und verhindert eine sachgerechte Debatte. Die Vereinbarkeit von Menschenrechten mit dem religiösen Glaubensbekenntnis hängt von der Auslegung des Koran und damit der jeweiligen Einzellehrmeinung ab.

Ebensowenig ist die Suche nach gemeinsamen Werten im interkulturellen Dialog nutzbringend, da sie keinen konkreten Zuwachs an Menschenrechtsschutz zur Folge hat. An die Stelle abstrakter Diskussionen sollte die Auseinandersetzung mit konkreten Problemen treten, mit denen man differenziert umgehen kann. Dafür ist langfristig eine Vernetzung mit Interessengruppen anzustreben, welche einen Themen geleiteten Menschenrechtsdialog ermöglicht. Dabei muss in einem Dialog auf gleicher Augenhöhe jeder Dialogpartner anerkennen, dass die Umsetzung von Menschenrechtsabkommen auch im eigenen Land bestimmte Herausforderungen birgt.

Das Ratifikationsverhalten der islamischen Länder bei MR-Konventionen unterscheidet sich nicht grundsätzlich von dem anderer Länder, lediglich gegen Kinderrechts- und Frauenrechtskonvention haben OIC-Länder [Organisation islamischer Staaten] überproportional viele Vorbehalte eingelegt. Die Vorbehalte islamischer Länder sollten ernst genommen und die innerislamische Diskussion um Vorbehalte unterstützt werden.

Es besteht die Gefahr, dass der Islam im Westen nur in Form des Fundamentalismus als „echter“ Islam wahrgenommen wird. In Wahrheit gibt es sehr differenzierte Spielarten des muslimischen Glaubens, darunter sehr moderne. Es handelt sich nicht nur um Nuancen, sondern um hochpolitische Differenzen, welche von Gruppe zu Gruppe zu beobachten sind. Zwischen Wächterrat und der Nobelpreisträgerin Shirin Ebadi liegen Welten. Es herrscht ein Interpretationskampf um die Auslegung des Islam.

Anstatt belehrend von außen in innerislamische Debatten einzugreifen, sollte man zur Kenntnis nehmen, dass es Pluralismus im Islam gibt, den man fördern kann, z.B. durch die Verleihung des Friedensnobelpreises wie geschehen. Eine vernünftige Menschenrechtspolitik muss sich an den sozio-ökonomischen und politischen Machtverhältnissen der einzelnen Regionen orientieren. Es gilt, die Pluralität der islamischen Lehrmeinungen nutzbar zu machen durch Unterstützung der Diskussion innerhalb des muslimischen Rechtskreises.

Die völkerrechtlichen MR-Standards sind auch von islamischen Staaten akzeptiert worden, ihre Stärkung sollte daher nicht im Rahmen eines interkulturellen Dialog konterkariert werden. Die Abgrenzung hier der „Westen“, da der „Islam“ muss aufgebrochen werden, um eine inhaltliche Debatte zu ermöglichen und nicht bei Klischees zu verweilen. Ein Dialog ist nur durch gleichwertige Partner möglich, von denen der andere nicht im vorhinein pauschalisiert und als rückständig betrachtet wird.

Menschenrechte systemimmanent in der jeweiligen islamischen Gesellschaft würdigen
Damit gemeinsame Werte wie die Würde des Menschen Wirkungskraft entfalten können, müssen sie durch Muslime innerhalb der eigenen historischen Tradition verortet werden. Dies bedeutet keinen Ersatz durch „islamische“ Menschenrechte, sondern den autonomen Bezug der Menschenrechte auf den eigenen Reformbedarf des jeweiligen Landes.

Indem man Muslimen selbst Raum lässt, Menschenrechtsschutz auch anhand traditioneller Vorstellungen und Argumentationen zu rechtfertigen, kann die Autorität der religiösen Tradition zu einer effektiven Stärkung des Menschenrechtsschutzes beitragen. Das hat nichts mit Kulturrelativismus zu tun. Vielmehr kann bei der Umsetzung eine höhere Effektivität nur dadurch erreicht werden, dass man an lokale Wertvorstellungen anknüpft.

Menschenrechtliche Werte nicht als westliche Werte verpacken
Menschenrechte sind das Ergebnis eines mühsamen Lernprozesses, der auch im Westen noch nicht abgeschlossen ist. Menschenrechtliche Normen stehen nicht über dem Koran, sondern sind klare Rechtsansprüche, deren theologische Verarbeitung man der islamischen Seite selbst überlassen muss. Bei der Interpretation des Koran sind Belehrungen von außen nicht sinnvoll.
Der säkulare Staat im Westen ist auch nicht bereits im Evangelium verankert, vielmehr brauchte die katholische Kirche fast 2.000 Jahre, um ihn sich entwickeln zu lassen. Die eigene Geschichte der Entwicklung von Demokratie und Rechtsstaat im Gespräch aufzudecken, kann viel sinnvoller sein als Belehrungen.

Glaubwürdigkeit der Menschenrechtspolitik stärken
Zwecks Stärkung der Glaubwürdigkeit der Menschenrechtspolitik sollten Menschenrechtsverletzungen, die nach dem 11. September 2001 unter Berufung auf nationale Sicherheitsinteressen erfolgen, genauso benannt werden, wie im Namen des Islam begangene. Die selektive Durchsetzung von Menschenrechten im Westen hat nach Ansicht großer Teile der islamisch geprägten Welt die Glaubwürdigkeit von Menschenrechtlern schwer beschädigt, Menschenrechte werden als „verwestlicht“ wahr genommen. Diese Position wird von einigen Regierungen benutzt, um eigene Versäumnisse als „weniger schlimm“ darzustellen und sie westlichem Kolonialismus oder der Globalisierung anzulasten.

Ein Testfall für die Ernsthaftigkeit der Menschenrechtspolitik ist der Umgang mit muslimischen Minderheiten in Europa. Eine Integrationspolitik auf der Grundlage von Religionsfreiheit und Gleichberechtigung stärkt die Glaubwürdigkeit bei der Einforderung der Einhaltung von Menschenrechten gegenüber islamisch geprägten Ländern.

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Info:
Der folgende Text entstand vor zwei Jahren als Vortrag und orientierte sich an mehreren Studien unter welchen insbesondere "Dialog mit dem Islam als Konfliktprävention? Zur Menschenrechtspolitik gegenüber islamisch geprägten Staaten." (Deutsches Institut für Menschenrechte, 2003) zu nenen ist. Der gesamte Text ist als pdf über den telegraph mit Fußnoten versehen zu beziehen.

Michal Stachura | 23.02.06 21:06 | Permalink