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Rebellion in Brasiliens Urwaldkerker

Gefangenenseelsorge kritisiert Lulas Menschenrechtspolitik:´Folter und Morde, Verrohen statt Resozialisieren
--von Klaus Hart, Sao Paulo--
Auch bei den Menschenrechten hatte der rechtssozialdemokratische Ex-Gewerkschaftsführer Lula den Brasilianern deutliche Verbesserungen versprochen. Am Ende des dritten Amtsjahres, kurz vorm neuen Präsidentschaftswahlkampf, sieht die Bilanz indessen düster aus. Nach Darstellung der Sozialbewegungen des Tropenlandes ist Lateinamerikas größte bürgerliche Demokratie weiterhin ein Folterstaat. Selbst Brasiliens Oberrabbiner Henry Sobel beklagt, daß Elektroschocks und andere laut Gesetz streng verbotene Foltermethoden aus der Diktaturzeit weiterhin routinemäßig angewendet würden. Üblich sei, Häftlinge allen möglichen Torturen auszusetzen. Die jüngste Serie von Gefangenenrevolten liefert dafür neue, perverse Beispiele, zeigt die komplexe, widersprüchliche Lage: Der Amazonas-Kerker Urso Branco in der Urwaldstadt Porto Velho zählt zu den entsetzlichsten Gefängnissen ganz Lateinamerikas und macht in Brasilien alle paar Monate wegen Folter, Mord, Aufständen und Massenfluchten Schlagzeilen. Seit dem Wochenende haben die rund tausend Insassen über zweihundert Geiseln, meist Frauen und Kinder in ihrer Gewalt.

Bereits sechzehn Männer sollen von Mithäftlingen umgebracht worden sein. Erst Mitte Dezember hatten katholische Gefangenenseelsorger erneut den Interamerikanischen Gerichtshof und die Vereinten Nationen über die chaotischen Zustände in Urso Branco informiert. Häftlinge starben wegen fehlender medizinischer Betreuung. Aidskranke erhielten bereits seit 90 Tagen nicht die ihnen zustehenden Medikamente. In Zellen für höchstens acht Personen wurden bis zu 25 Häftlinge gepfercht. Laut Bischof Pedro Luiz Strighini, Präsident der nationalen Gefangenenseelsorge, werden die Insassen zudem vom organisierten Verbrechen terrorisiert – wer sich nicht unterordnet, wird ermordet. Durch die neueste Rebellion sollen nicht nur bessere Haftbedingungen erzwungen werden – gleichzeitig wird von der Anstaltsleitung gefordert, die Verlegung des besonders sadistischen Gangsterbosses Birrinha rückgängig zu machen. Denn der gilt als Herrscher des Kerkers im Regenwald. “Der Staat hat seit langem die Kontrolle über Urso Branco verloren“, sagt Bischof Strighini, „die Anstaltsdirektion läßt die Dinge einfach laufen – in so vielen anderen Gefängnissen Brasiliens ist es genauso. Gefangene werden von den Wärtern gefoltert - denn Folter existiert ja überall im Land.“ Grausamkeiten würden somit von inkompetenten Beamten, doch auch von Kriminellengruppen begangen. „Unter solchen Bedingungen verrohen die Häftlinge – von Resozialisierung kann keine Rede sein. Und das gilt allgemein für Brasiliens Gefängnissystem.“ Nötige, versprochene und durchaus vorhandene Mittel würden nicht freigegeben.
--Folter im Irak und in Brasilien—
Der Bischof erinnert daran, daß 2002 bei einer Revolte in Urso Branco 27 Häftlinge von Mitinsassen getötet wurden, beim Aufstand von 2004 waren es 15. Die meisten davon wurden geköpft und zerstückelt. Hinzu kommen über zwanzig andere Morde. Seit Sonntag sollen nach Häftlingsangaben bereits sechzehn Männer umgebracht worden sein. “Wichtig ist, daß die internationalen Menschenrechtsorganisationen jetzt handeln und die Zustände anprangern“, sagt Bischof Strighini. „Hier geht es um das Recht auf Leben. Die internationale Gemeinschaft muß jetzt ebenso eingreifen wie bei den Menschenrechtsverletzungen im Irak. Was dort und in Brasilien geschieht, betrifft die ganze Menschheit. Deutlich werde, daß Brasiliens Demokratie am Anfang stehe, elementare Bürgerrechte noch nicht verwirklicht worden seien. Das betreffe auch Armut und Elend, die extrem ungerechte Einkommensverteilung. Die Zustände in Urso Branco und vielen anderen Gefängnissen zeigten zugleich den Verlust menschlicher, familiärer und religiöser Werte in der brasilianischen Gesellschaft. „Ein großer Teil der Bevölkerung, darunter Christen, ist überzeugt, daß Gefangene mißhandelt werden müssen – wir haben noch keine pazifistische Mentalität in Brasilien.“ Nach wie vor werden Personen wegen Bagetelldelikten, etwa Warenhausdiebstählen, zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt. Selbst eine 79-jährige Landarbeiterin mit Krebs im Endstadium hatte man wegen angeblichen Drogenhandels eingesperrt. Nachdem Bischof Strighini und Sao Paulos Kardinal Claudio Hummes die Frau vor Weihnachten demonstrativ besucht hatten, wurde sie überraschend freigelassen. Skandalös ist zudem, daß Häftlinge, die ihre Strafe längst verbüßt haben, dennoch weiter hinter Gittern bleiben. Denn die träge, langsame Justiz stellt einfach nicht die Entlassungspapiere aus. Das geschieht sogar im relativ hochentwickelten Teilstaat Sao Paulo. “13000 Gefangene, immerhin ein Zehntel aller Häftlinge Sao Paulos, müßten längst auf freiem Fuß sein. Betroffen sind stets arme Häftlinge, denn Bessergestellte haben natürlich ihre Anwälte, die für die unverzügliche Freilassung sorgen. Korrupte Politiker kommen so gut wie nie ins Gefängnis, und wenn, dann nur für kurze Zeit.“ In Bezug auf die Menschenrechte habe Brasilien auch 2005 international einen schlechten Ruf. „Unter der Regierung von Staatschef Lula sind die erwarteten Fortschritte ausgeblieben. Überall ist Desillusionierung zu beobachten, weil sich Lula und dessen Arbeiterpartei(PT) vom Volk entfernt haben. Heute ist die PT an der Seite jener, die immer an der Macht waren – an der Seite der übelsten Figuren und übelsten Parteien.“


Klaus | 28.12.05 19:17 | Permalink