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"Sertoes pornograficos" in der Berliner Volksbühne

"Zé Celso:"Ich mag Ärsche - unsere Kultur ist orgiastisch"
--von Klaus Hart, Rio de Janeiro--
Sao Paulos Regisseur Zè Celso brachte im September mit seinem Teatro Oficina fünf Abende lang den "Krieg im Sertao" in die Berliner Volksbühne, erntete teils begeisterte Zustimmung, teils heftige Ablehnung. Auch in Brasilien reagierte die Kritik ausführlich, sah ein "Defilee von Stereotypen". Berlins Boulevardblätter sprachen von einer "24-Stunden-Porno-Orgie", von Porno-Theater - und wir zahlen dafür Steuern", andere Zeitungen sahen "hemmungslose Animation, große Chöre, Sex und Sambarhythmen".

Dieter Schütt vom „Neuen Deutschland“ reflektierte:“Nach diesen Abenden kam mir nämlich die landläufige, diffus anmutende Umarmung aller Andersartigkeit regelrecht heuchlerisch vor. Ich fühlte mich geprellt von einer Erfahrung: Das Kennenlernen fremder Kultur ist ein Abenteuer, ist ein Schub ins Offene, ja; aber dies schließt ein Eingeständnis ein – es gibt nämlich in der Begegnung der Kulturen auch Grenzen, hinter denen es höchstens und bestens um Respekt geht. Der Mensch ist in seiner emotionalen Fähigkeit nur bis zu einem bestimmten Grad kosmopolitisch, er ist nicht unbegrenzt im Aufnehmen des Fremden; und immer schon kamen mir Leute merkwürdig fremdgesteuert vor, die ihr Schöpfungsschicksal, so blaß und ungelenk westeuropäisch zu sein, stets als ein genetisches Ungenügen vor sich hertragen. Und die dann – beim eifrigen Mühen, im Multi-Kult rettend aufzugehen und internationalistisch bis in die Körperfasern zu werden – nur noch blasser, ungelenker wirken.“ Deutschlands Kritiker meinten, da seien 24 Stunden Brasilien zu sehen, da könne man viel über Brasilien lernen – Brasiliens Kritiker stritten just dies ab. „Sertoes pornograficos“, schrieb „O Globo“ in Rio – und die Qualitätszeitung „O Estado de Sao Paulo“ titelte „Defilee der Stereotype“. Ein genereller Vorwurf: Zè Celso aus Sao Paulo arbeite mit groben Vereinfachungen und verteidige dies sogar offen. Er verstärke eine falsche, verzerrte Vision von Brasilien - das sei kontraproduktiv und sogar gefährlich. Denn in Brasilien möchte man ein mit solchen Stücken gefördertes Landesimage überhaupt nicht - es sei problematisch, wenn Brasilien im Ausland so gesehen werde.
Aus Zè Celsos Sicht, so „O Estado do Sao Paulo“, sei Brasilien in der Tat durch Karneval, Fußball und Sinnlichkeit geformt. Und dies im Ausland zu zeigen, bedeute keineswegs, die Kultur Brasiliens zu stigmatisieren. „Fußball ist doch das Allergrößte“, wird Ze Celso zitiert. „Ich mag Ärsche, unsere Kultur ist orgiastisch.“ Der Kritiker beschreibt dann, wie Zè Celso massiv all jene Elemente einsetzte, die Ausländer gewöhnlich mit Brasilien assoziieren – also Musik, Nacktheit, Spontaneität und konstante Fröhlichkeit selbst in Zeiten der Tragödien.
Das deutsche Publikum paßte danach zur Kategorie: Ich habe zwar nichts verstanden, aber gefallen hats mir trotzdem.
Zè Celso, so war in Sao Paulo ferner zu erfahren, verbreite seine ganz persönliche Lesart Brasiliens, erwecke indessen den – völlig falschen - Eindruck, als hätten beinahe alle Brasilianer just diese Sicht über die eigene Kultur, Geschichte, Mentalität. Deutsche Theaterbesucher mit einem Minimum an kultureller Bildung wüßten natürlich, daß Brasilien anders sei. Viele dürften jedoch Zè Celsos verzerrte Interpretation für bare Münze nehmen.
Der Theatermacher karnevalisiert Brasilien – obwohl gerade sein Sao Paulo zum Karneval überraschend tot wirkt, kaum Faschingsklima zu entdecken ist. Und selbst in Rio de Janeiro und anderen Großstädten beteiligt sich gemäß brasilianischen Studien nur eine Minderheit aktiv am Karneval, der indessen im Fernsehen übertrieben sexuell und erotisch dargestellt wird.
Fußball gilt als brasilianischer Nationalsport par excellence – doch gerade mal ein Viertel der männlichen Brasilianer tritt gemäß Umfragen gelegentlich gegen einen Ball.
Und die immer wieder herausgestellte Alegria? Sehr vielen Brasilianern ist angesichts von Hunger und tiefer Misere, von der immerhin über fünfzig Millionen Menschen betroffen sind, nicht eben nach spontaner Fröhlichkeit zumute. Brasilianer wirken in Alltag angesichts von hoher Arbeitslosigkeit und Gewalt eher zunehmend gestreßt.
Theaterkritiker Sao Paulos weisen auf ein neues Stück der in Berlin lebenden deutschen Dramaturgin Dea Loher, das in Sao Paulo entstand und „A Vida na Praça Roosevelt“ heißt. Darin kämen sämtliche von Zè Celso verfochtenen Brasilienstereotype überhaupt nicht vor. Das mit Schauspielern des Hamburger Thalia-Theaters besetzte Stück wurde von den brasilianischen Medien just wegen seines Realismus sehr gelobt.
Zè Celso, heißt es ferner, schare kein normales Publikum um sich, sondern eine Art „Sekte“ von Anhängern. Die mögen ihn abgöttisch, während ihn andere geradezu hassen. Daß er das brasilianische Theater bereichert habe, wichtige Beiträge leistete, stehe indessen außer Frage. Vielem Neuen habe er den Weg geebnet.
Zu den Standardargumenten des Meisters zählt, wer dessen Arbeiten nicht mag, habe Probleme mit sinnlicher Lust. Für viele keineswegs puritanische Brasilianer ist dieser Standpunkt schlicht Unsinn.
Brasilienklischees, so scheint es, waren in Deutschland selten so lebendig wie jetzt.

Klaus | 27.09.05 03:47 | Permalink