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Favelas, Terror, Menschenrechte, Lula

--von Klaus Hart, Rio de Janeiro--
"In Deutschlands parlamentarischer Demokratie wäre Staatschef Lula wegen der vielen Korruptionsaffären schon längst amtsenthoben, gestürzt worden", sagt Professor Marcos Figueiredo von Rios Institut für Universitäre Studien/IUPERJ im Exklusivinterview. Aber Lula verkündete doch der Nation in einer Fernsehrede, von all den illegalen Praktiken seiner Companheiros nichts gewußt zu haben? "Natürlich wußte er davon", bekräftigt Sozialwissenschaftler Figueiredo in seinem Institut, das direkt vor der Hang-Favela Dona Marta im Stadtteil Botafogo liegt. Für ihn weiß die Lula-Regierung natürlich auch bestens Bescheid, wie es um die Menschenrechte der Slumbewohner steht, die von neofeudalen Banditenmilizen des organisierten Verbrechens beherrscht und terrorisiert werden. "Diese Favelas funktionieren wie ein Parallelstaat, mit einer militärischen Struktur - die Situation dort ist dramatisch."

Seit den 80er Jahren, bestätigt er, überließen die Autoritäten, der Staat die Favelas den Verbrechersyndikaten – im Tausch gegen politische Unterstützung. Denn die Favelados sind ein wichtiges Wählerreservoir, das nunmehr von den Banditenmilizen kontrolliert werde. Die ordnen an, für wen votiert werden muß. „Das ist weiterhin so – ein Großteil der Stimmabgabe erfolgt auf direkten Befehl der Gangsterbosse. Sie haben die politische und die physische Kontrolle über die Favelas. Selbst ein Gouverneur, Präfekt oder sonstiger Politiker kann dort nicht einfach hineingehen oder hineinfahren“, nötig sei stets eine Erlaubnis durch die Verbrechersyndikate. Figueiredo erinnert an den Besuch von Kulturminister Gilberto Gil und Arbeitsminister Ricardo Berzoini im Favela-Konglomerat „Complexo da Marè“ von Rio, unweit des internationalen Flughafens. Gil und Berzoini fuhren in der schwarzen Regierungslimousine in den Slum ein - ohne jeglichen Polizeischutz oder zumindest die üblichen Bodyguards. Wie die Medien herausfanden, hatten beide die ausdrückliche Erlaubnis der Banditenbosse. „Die Minister haben vorher mit denen verhandelt, claro, und das ist sehr schlecht, pessimo“, urteilt der Sozialwissenschaftler Figueiredo. Sein Kollege Paulo Sergio Pinheiro von der Bundesuniversität in Sao Paulo betont:“All dies ist ein Skandal – geschähe derartiges in Berlin, Paris oder London, würde das im Parlament debattiert, würde die Regierung stürzen.“
Figueiredo kennt die Erlaubnis-Prozedur von den Befragungsteams seines Instituts. Wollen diese mit Favelados sprechen, müssen sie zuerst die Bewohnerassoziation kontaktieren, die fast ausnahmslos von den Banditenkommandos dominiert wird. „Die Assoziation fragt dann bei den Gangsterbossen an – und die erlauben dann einen Besuch – oder auch nicht. Wirklich unglaublich, daß es Territorien in der Stadt gibt, wo die Autoritäten keinen freien Zugang haben, nicht einfach reingehen können!“ Eine Lösung des Problems, etwa durch den Einsatz des Militärs, sei extrem schwierig. Figueiredo macht eine erstaunliche Rechnung auf: Inzwischen sei ein Punkt erreicht, wo man auf jeweils zwei bis zehn Favelados einen gut ausgebildeten Soldaten brauche, um den Gangstern die Macht zu nehmen. „In Favelas mit zweihunderttausend Bewohnern müßte man also jeweils bis zu hunderttausend Soldaten stationieren, um die Lage zu kontrollieren.“ Die Berichte über den Terror der neofeudalen Banditenkommandos, die Greueltaten seien leider wahr. Selbst auf dem Morro da Providencia, nur wenige hundert Meter vom Rio-Sitz der Bundes-und Zivilpolizei, der Präfektur sowie vom Hauptbahnhof entfernt, haben die Verbrechersyndikate ebenfalls eine Hochburg. Zeitungen brachten im September Fotos der dortigen Banditenmilizen mit ihren NATO-Sturmgewehren, den handlichen israelischen Uzi-Mpis sowie Handgranaten. Auf einer Titelseite war auch das Foto mit den Überresten einer zunächst gefolterten und danach verbrannten Frau zu sehen. Die Täter – jene auf dem Morro do Castro von Niteroi herrschende Banditenmiliz. Ein Aufschrei der Öffentlichkeit, gar Proteste von in-und ausländischen Menschenrechtsorganisationen bleiben wie immer aus. Derartiges gehört längst zur Normalität, wird hingenommen.
--deutsche G 3 in Vidigal—
Auch im Hangslum Vidigal ist die Lage weiter sehr gespannt.
In der dortigen Kirche zelebriert der spanische Ordensbruder Julio Caballero einen Gemeindegottesdienst – doch über das bedrückendste Problem der Gläubigen, den Banditenterror, verliert er nie ein einziges Wort. Fehlt ihm Courage? Die mehreren hundert Katholiken kennen den Grund sehr genau. Würde ihr so beliebter „Frei Julio“ Klartext reden, wäre er vielleicht schon ermordet, die Kirche von den Gangstermilizen geschlossen, die Sozialarbeit jäh gestoppt worden. Das will der Seelsorger nicht riskieren – und niemand verlangt es von ihm. Umsicht und Fingerspitzengefühl, gelegentlich etwas Kaltblütigkeit und ein sechster Sinn in risikoreichen Situationen sind gefragt. Immer wieder dringen Banditenmilizen, die sogar deutsche G-3-Sturmgewehre der Marke Heckler & Koch tragen, zur Einschüchterung überfallartig in die Kirche ein. Denn fast täglich toben Gefechte in den engen Gassen des Hangslums, explodieren Granaten. Die Gangsterbosse verhängen ihr Normendiktat, darunter Ausgangssperren und das „Gesetz des Schweigens“ über alle Vorgänge in Vidigal. Wegen der Schießereien muß immer wieder der Verkehr auf der vielbefahrenen Avenida Niemeyer unterbrochen werden, die die beiden noblen Strandviertel Leblon und Sao Conrado miteinander verbindet. In Sao Conrado wohnen Kulturminister Gilberto Gil , Caetano Veloso und andere prominente Show-Größen. Ausgerechnet neben den schönsten Stränden der Zuckerhutmetropole kämpft Brasiliens führendes Verbrechersyndikat „Comando Vermelho“ um die Herrschaft über Vidigal und hat es fast geschafft. Das rivalisierende „Terceiro Comando“ zieht sich zurück – die Schicken und Reichen der Upperclass-Viertel werden nur noch vom berüchtigten „Comando Vermelho“ mit harten Drogen beliefert. Ein superprofitables Geschäft für wenige – der pure Horror für die über 37000 Bewohner Vidigals. “Ständig werden hier Unbeteiligte von Schüssen getroffen, denn die Gangster nehmen auf uns keine Rücksicht“, berichten Bewohner. „Die feuern los nach allen Seiten – und wer von uns gerade auf der Straße ist, den erwischt es eben. Wir haben hier Barbarei – abgeschlagene Köpfe werden wie Trophäen ausgestellt. Sogar den Präsidenten unserer Bewohnerassoziation haben sie bei einem Attentat zusammengeschossen.“
Gemeint ist Luiz Carlos da Silva, 38, Vater von fünf Kindern. Anfang des Jahres sagt er im Interview: “Unsere Regierung, alle Autoritäten haben uns aufgegeben, im Stich gelassen, obwohl wir gerade jetzt wegen der Gewalt dringend Hilfe brauchen. Wir sind die Ausgeschlossenen der Gesellschaft, leben am Rande, sind die spottbillige Arbeitskraft für die Bessergestellten. Einmal warfen die Banditen eine Granate in eine Hütte – alle tot. An einer anderen Stelle wurden vier, fünf Katen wurden durch Handgranaten dem Erdboden gleichgemacht. Wegen dieser ausweglosen Lage hatten wir Papst Johannes Paul den Zweiten um Hilfe gebeten, der uns mitten in den härtesten Zeiten der Militärdiktatur hier ganz spontan besuchte.“ Silvas damaliger Mitarbeiter Antonio Paiva:“Wir leben in ständiger schrecklicher Anspannung, viele drehen durch. In Gefechtspausen besorgen sich die Leute schnell was zu essen, verbarrikadieren sich rasch wieder in ihren Behausungen – so ist es im Irak doch auch! Weil das einfache Volk in Brasilien keine richtige Schulbildung hat, machen die Politiker was sie wollen, verhalten sich zu uns indifferent.“
Silvas Bewohnerassoziation war eine der wenigen unabhängigen in den über 800 Slums von Rio, unterwarf sich nie den Gangstern – jetzt untersteht sie dem Comando Vermelho. Silva liegt nach wie vor schwerverwundet in einer Klinik.
An der Mauer gegenüber der Kirche steht drohend in großen Lettern: „Das Comando Vermelho bleibt jetzt hier für immer“. Für die Bewohner im obersten Teil von Vidigal ist derzeit wegen der Gefechte keinerlei Seelsorge möglich. In der dort zu Ehren von Johannes Paul dem Zweiten errichteten Kapelle können nicht einmal Gottesdienste abgehalten werden, trauen sich die Leute nur selten ins Freie. Manche Katen haben zwanzig, dreißig und mehr Einschüsse. Dutzende von Familien wurden von den Banditenmilizen aus Vidigal vertrieben.
Das Comando Vermelho dominiert auch den Nachbarslum Rocinha, ist dort ebenfalls mit NATO-Waffen, darunter deutschen G-3-MGs ausgerüstet. „Die Sturmgewehre made in Oberndorf“, so die Reservistenkameradschaft Westhausen, „schießen fast überall in der Welt mit.“ In anderen Quellen heißt es:“Für Heckler & Koch war dieses Gewehr eine wahre Goldgrube, denn in Spitzenzeiten wurde das G 3 in 47 Ländern der Erde als Ordonnanzwaffe eingeführt.“
Keinen Kilometer entfernt von Vidigal lehrt die Dekanin der Katholischen Universität von Rio, Maria Clara Bingemer, eine der angesehensten Theologinnen des Tropenlandes: “Die Menschenrechte der Slumbewohner werden gravierend verletzt – wir leben in einem unerklärten Bürgerkrieg.“
Laut UNO-Angaben kommen in Brasilien täglich mehr Menschen durch Gewalttaten ums Leben als beispielsweise im Irak.
Zwecks Einschüchterung seit jeher auch in Vidigal immer wieder Exekutionen, Folter, drakonische „Strafen“, darunter Verstümmelungen jeder Art.
Der Psychotherapeut Jurandir Freire Costa aus Rio hat eine Erklärung für das Desinteresse der Bessergestellten am Los der Slumbewohner:“Die Mittel-und Oberschicht spricht diesen den Gleichheitsgrundsatz ab, definiert sie quasi als Nicht-Menschen, reagiert daher mit extremer Indifferenz und Akzeptanz auf jede Art von Gewalt gegen diesen Bevölkerungsteil. Daß Slumbewohner kaum ein Minimum an Menschenrechten genießen, ist somit irrelevant.“ In Europa nutzen viele Brasilien als Projektionsfläche für sozialromantische Träume und blenden diesen Teil der Landesrealität nur zu gerne aus. Für andere sind Berichte darüber lediglich platter Sensationalismus.

(zu Hintergründen siehe auch ostblog-Text "Demokratischer" Staat und Banditendiktatur in Brasilien)

Klaus | 22.09.05 22:29 | Permalink