« Lula wegen Korruptionsskandalen in der Bredouille | Hauptseite | Brasiliens letzte Waldläufer und der Kindermord bei Indianerstämmen »

Mozart, Rock und Indiokultur

Brasiliens Ureinwohner unter scharfem Anpassungsdruck
--von Klaus Hart, Rio de Janeiro--
Nackte Amazonasindianer mit Federschmuck, Pfeil und Bogen - so stellen sich die meisten Europäer weiterhin ganz sozialromantisch die Ureinwohner des Tropenlandes vor. Im Jahre 1500, als das heutige Brasilien entdeckt wurde, stimmte das tatsächlich, gab es über fünf Millionen Indios. Sie wurden brutal auf etwa 600000 dezimiert, stehen derzeit in permanentem Überlebens-und Anpassungskampf, weil ihnen die "Zivilisation" der Weißen nur ganz wenige Rückzugsgebiete ließ.

Bestenfalls einige tausend Indios leben teilweise noch isoliert, im Einklang mit Stammestraditionen und der Natur – der große Rest ist deutlich akkulturiert. Besucher aus Deutschland oder Österreich beobachten oft schockiert, daß in Indiodörfern den ganzen Tag der Fernseher läuft, ausgerechnet die schlechtesten Kommerzprogramme bevorzugt werden, manche Bewohner übermäßig Zuckerrohrschnaps trinken. Archaische Rituale werden teils mit Akkordeon und Gitarre begleitet. Ein Großteil mag brasilianischen Rock und Pop, Samba, Forrò und Sertaneja weit mehr als eigene Rhythmen. Der „edle Wilde“ als vorbildlicher Hüter des Urwalds? „Nicht wenige Stämme haben das vergessen“, konstatiert Saulo Feitosa, Koordinator des katholischen Indianermissionsrates CIMI. “Viele Indioführer wurden von den Weißen korrumpiert.“ Ureinwohner vernichten nun ebenfalls Urwald, Häuptlinge werden durch illegalen Handel mit Edelhölzern, Diamanten und Rauschgift zu Millionären. Indios verkaufen vom Aussterben bedrohte Tiere an Touristen, jagen mit Schrotflinten, lernten von weißen Invasoren sogar das Fischen mit Dynamit. „Deshalb gibts jetzt in unserem Fluß überhaupt keine Fische mehr“, beklagt Häuptling Miquiles vom Stamme der Tuxaua. Und selbst das: Immer mehr Indios schämen sich der eigenen Nacktheit, viele Indianerinnen bedecken sich beim Baden mit mehr Textilien als Frauen in Mitteleuropa. Doch eine Minderheit stemmt sich gegen den Trend, will die Indiokultur, die Stammestraditionen, die letzten rund 180 Indio-Sprachen – von einst über tausend - vor dem Verschwinden bewahren. Der Gaviao-Dialekt Amazoniens wird nur noch von 360 Personen beherrscht, kein Einzelfall.
Immer mehr Indianer begreifen, daß ihre Musik einen wachsenden Marktwert hat, Überliefertes nur zu retten ist, wenn man sich modernste Multimedia-Techniken aneignet, die musikalische Vielfalt auf CDs, in Videos festhält. „Traditionelles wird vielerorts sogar wiedererlernt, aber neu interpretiert“, sagt Brasiliens führende Musikethnologin Marlui Miranda in Sao Paulo, die den Stämmen dabei wichtige Hilfestellung gibt. Als Sängerin trat sie kürzlich erneut in Deutschland auf, erhielt für eine CD sogar den Preis der Deutschen Phono-Akademie. Auch Marlui Miranda ist mit zu verdanken, daß es in Brasilien nie zuvor so viele indianische Kulturproduzenten gab, so viele Ethno-CDs herauskommen. „Kaum ein größerer Stamm, der seine Musik nicht dokumentiert, auch im Interesse des eigenen Überlebens“. Immer mehr indianische Intellektuelle, Schriftsteller und Regisseure machen von sich reden. An der Katholischen Universität von Sao Paulo studieren erstmals achtzehn Guarani und Pankururu in Fachrichtungen wie Sprachen, Pädagogik oder Medien – Indios erhalten Stipendien, um ihre eigene Kultur zu erforschen und zu verbreiten. Stammes-Websites wie www.indiosonline.org.br waren noch unlängst völlig undenkbar. Indianische Musiker und Komponisten wollen indessen Kontakt mit der kulturellen Welt der Weißen, schreiben Populärmusik meist in portugiesischer, nicht der Stammessprache. Sauide von den Xavantes sagt es ganz offen:“Ich will ein Popstar werden!“ Eine CD hat er noch nicht herausgebracht, aber seine Konzerte haben enormen Erfolg. Dirigent Itamar Pereira dos Santos vom Konservatorium der Amazonas-Großstadt Manaus unterrichtet Indianer jede Woche, fährt dafür stundenlang mit dem Boot zu Urwalddörfern. „Chopin und Mozart hören die Indios mit Genuß.“ Die Kleine Nachtmusik, gespielt von einem Orchester und Amazonasindianern mit ihren traditionellen Instrumenten, darunter Schildkrötenschalen, wurde sogar auf CD gepreßt – weltweit einmalig. „Ponte entre Povos“, Brücke zwischen Völkern, nannte Marlui Miranda dieses Projekt, holte alle Musiker zu umjubelten Konzerten in die über 5000 Kilometer entfernte Wirtschaftsmetropole Sao Paulo. Neben Fabriken und Hochhäusern überlebt dort direkt an der Stadtautobahn ein winziges Dorf der Guarani-Indianer.

Klaus | 08.08.05 22:11 | Permalink