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Brasiliens letzte Waldläufer und der Kindermord bei Indianerstämmen

--von Klaus Hart, Rio de Janeiro--
Mal empfangen sie ihn mit einem Hagel von Pfeilen, mal flüchten sie überstürzt - Sydney Possuelo stößt bei jenen, die er vor Ausrottung schützen will, anfangs stets auf Mißtrauen und Feindseligkeit. Seit über vierzig Jahren streift Possuelo als "Sertanista", Waldläufer, nur zu oft monatelang ganz allein durch Amazonien, sucht Kontakt zu den letzten, völlig isoliert lebenden Indiostämmen. Derzeit sind es noch etwa zwei Dutzend, die ebenfalls allen Grund haben, den Weißen nicht zu trauen, von schlimmsten Untaten erfuhren, Massaker überlebten.

„Früher war es völlig normal, daß bei Expeditionen der staatlichen Indianerbehörde FUNAI in Stammesgebiete stets vierzig, fünfzig Indios getötet wurden – das konnte ich nicht akzeptieren!“ Die staatliche Erdölgesellschaft Petrobras steckte ganze Indiodörfer in Brand. 1987, kurz nach der Militärdiktatur, gründet Possuelo eine eigene FUNAI-Abteilung für isolierte Stämme, will mit allen Mitteln das brachiale Eindringen von bewaffneten Goldgräbern, Großgrundbesitzern und Bergbaufirmen in den Lebensraum der Ureinwohner verhindern. Denn stets wurden auch Seuchen eingeschleppt, tödliche Krankheiten verbreitet, gegen die Indianer keine Abwehrkräfte besitzen, deshalb zu hunderten, gar tausenden starben. Possuelo erzielte zumindest Teilerfolge, wird Brasiliens auch international bekanntester Indianerexperte. Sogar die britische Königin ehrt ihn letztes Jahr in London für seine Verdienste. Kaum zu glauben – das Tropenland hat nur noch vier Sertanistas. „Viele waren wir nie – in Brasilien hat immer nur eine kleine Minderheit die Menschenrechte verteidigt.“
Der bärtige Possuelo, Vater von sechs Kindern, überlebte Abstürze von Kleinflugzeugen im Urwald, versank mit dem Kanu immer wieder in reißenden Strömen, verlor gar Zähne, als ihn Indiogegner attackierten, sich mit ihm prügelten. Kaum jemand verwirklichte wohl den Traum von Abenteuer und Urwaldromantik so intensiv wie er „Man muß im Leben auch ein bißchen verrückt sein, Grenzen überschreiten, nicht nur immer brav im Gatter bleiben.“ Als Possuelo am Rio Jutai auf ein isoliertes Indiodorf stößt, rennen wiederum die rund fünfzig Bewohner vor ihm und seinen wenigen Begleitern, akkulturierten Indios, davon, verstecken sich im Urwald. In den Tontöpfen auf dem Feuer brutzeln noch sieben verschiedene Sorten von Affenfleisch, zurückgelassen werden auch das Pfeilgift Curare und vier Meter lange Blasrohre, mit denen wilde Tiere lautlos und präzise erlegt werden. Ein mulmiges Gefühl in der kleinen Expedition – jeden Moment könnten vergiftete Pfeile schwirren. Doch alles geht glimpflich ab. Possuelos Waldläufer-Kollege Meirelles Junior indessen wurde erst unlängst von einem „Indio isolado“ mit einem Pfeil am Kopf getroffen, mußte per Hubschrauber in eine Klinik geflogen werden. In den letzten Jahren kamen auf ähnliche Weise immerhin über hundert FUNAI-Mitarbeiter ums Leben. „Alles Konsequenz des Drucks, unter dem die Indios leiden“, analysiert Meirelles Junior. Waren die fern der sogenannten Zivilisation lebenden Stämme früher tatsächlich glücklicher? Possuelo bejaht dies. „Je mehr sich Brasiliens Indianer unserer materialistisch-technologischen, doch spirituell so armen, modernen Welt kulturell annähern, umso unglücklicher werden sie.“ Große Ethnien mit einer reichen Feierkultur seien dramatisch dezimiert worden. „Deshalb treffen wir heute bestenfalls noch auf isolierte Gruppen von vierzig, siebzig oder maximal einigen hundert Angehörigen – manchmal hat sogar nur noch ein einziger Indio überlebt.“ Der Waldläufer nennt es skandalös, direkt unanständig, solche Stämme ohne Schriftsprache und Geldverkehr sozusagen gewaltsam in das Universum der Weißen hineinzustoßen. Annäherung und Integration seien unaufhaltsam, sollte aber so lange wie möglich aufgeschoben werden. „Andererseits könnten die Indios eines Tages von sich aus ihre Isolation aufbrechen.“ Wütend macht ihn die Zerstörung Amazoniens durch das Agrobusiness, die hochtechnisierte Landwirtschaft. „Der massenhafte Soja-Anbau ist eine regelrechte Pest, vernichtet immer mehr Urwald, bedroht die Existenz der Indianer!“ Brasiliens Soja wird größtenteils in die USA und nach Europa exportiert, dient dort als billiges Viehfutter.
-- Kindstötung bei Indios—
Vor allem in Europas Medien wurde es Mode, aus scheinheiliger „politischer Korrektheit“ völkerkundliche Fakten aus der Dritten Welt gezielt zu unterdrücken. Sydney Possuelo hat indessen keinerlei Probleme damit, außergewöhnliche Stammestraditionen, darunter die Kindstötung, zu erläutern. So halten Indiomütter verschiedener Stämme weiterhin an dem Brauch fest, mit Mißbildungen wie Blindheit oder Bewegungsschäden zur Welt gekommene Babys sofort zu töten. Nach indianischer Logik wären diese Kinder unter den harten Bedingungen der Wildnis nicht überlebensfähig. In einer Entbindungsstation der Amazonasstadt Manaus hatten Hebammen, ohne Kenntnis des Brauchs, einer Yanomami-Mutter die Defekte an den Geschlechtsorganen ihres gerade geborenen Sohnes erklärt und sie daraufhin alleine gelassen. Die Frau tötete das Kind auf der Stelle. Sie kann dafür nicht zur Rechenschaft gezogen werden, da laut Gesetz nicht akkulturierte Indios als strafunmündig angesehen werden. Gemäß einem Experten der staatlichen Indianerschutzbehörde FUNAI dulden die über zehntausend Yanomami-Indios keine Kinder mit Geburtsfehlern:“Wenn ein Baby mit einem physischen Problem zur Welt kommt, das später verhindert, alle Lebensfunktionen zu übernehmen, wird es sofort eliminiert.“
Das Indianerkulturzentrum in Sao Paulo erläutert, daß bei den noch traditionell lebenden Stämmen zudem bei Zwillingsgeburten stets eines der beiden Babys getötet wird. Die Mütter sähen es als unmöglich an, sich im komplizierten Urwaldalltag um zwei Kinder gleichzeitig zu kümmern und daneben auch noch die Wildnis zu durchstreifen, alle nötigen Arbeiten zu tun. Jedes erwachsene Individuum müsse dazu fähig sein, ohne fremde Hilfe zu überleben.
Indianergruppen, die im Einflußbereich kirchlicher Missionsstationen leben, haben den Angaben zufolge den Brauch der Kindstötung abgelegt, ließen sich davon überzeugen, daß es sich dabei um eine Sünde handele. Auch ist bekannt, daß Nonnen jene Kinder aufziehen, die andernfalls getötet worden wären.
Im Alto Xingu gehört bei den Stämmen der Iaualapitis,Camaiuras, Cuicuras und Meinacos noch diese Art der Kindstötung zum Alltag, betonen Anthropologen. Die Mütter, heißt es, verscharren Kinder mit Behinderungen, aber auch solche, die Resultat von Ehebruch, Inzest oder sexueller Gewalt sind, sofort nach der Geburt. Zudem gibt es Stämme, die beide Zwillinge töten. Nach indianischem Glauben sei eines der Kinder gut, das andere böse. Da man nicht wisse, welches das gute sei, opfere man eben beide.
Sydney Possuelo ist der Meinung, daß solcher „Infanticidio“ keineswegs als Straftat angesehen werden dürfe:“Es handelt sich hier um seit vielen Generationen überlieferte Traditionen.“ Possuelo erinnert an die Niederschriften des Brasilienreisenden Pero Vaz de Caminha, der die Schönheit der indianischen Körper herausstellte. „Die Europäer, mit einer ganzen Serie von Krankheiten befallen, trafen auf dunkelhäutige Indianer, mit schöner, glatter Haut. Physische Defekte waren mit der Zeit durch den Infantizid eliminiert worden, wie durch eine Auswahl der besten Gene. Derartiges schockiert unsere Gesellschaft – aber wir provozieren doch viel heiklere Dinge, die nicht den geringsten Nutzen bringen. In einer indianischen Gemeinde ist jeder einzelne verantwortlich für alles, was er ißt und benutzt. Ein Behinderter kann nicht richtig jagen. Im Falle der Zwillinge tötet man manchmal das Erstgeborene. Man muß einfach sehen, daß sich eine Indiomutter vom Morgen bis in die Nacht um ihr Kind kümmert. Sie wird erst dann ein weiteres Kind bekommen, wenn das andere nicht mehr gestillt werden muß. In jedem Kontext handelt man auf bestimmte Weise, aber ich denke, wenn die Tradition bestimmt, daß ein Baby nicht lebenbleiben soll, würde ich das respektieren, selbst wenn es wehtut. Andernfalls würde ich die Indianerrechte verletzen. Ich weiß von Leuten, die eingegriffen haben, aber ich würde das nicht tun.“

Interessante völkerkundliche Studie zum Thema "Infantizid bei brasilianischen Indianern"

Georg W. Oesterdiekhoff
Ökologie, Ernährungswirtschaft, Sozialstruktur und kriegerisches Verhaltenim Regenwald.
Spannungen im ökologisch-demografischen Gleichgewichtssystem am Beispiel
südamerikanischer Dorfgesellschaften.
Karlsruhe 2000
Zusammenfassung:Das Gleichgewicht der Ernährungswirtschaft der Amazonas-Indios hängt von einemkomplexen Zusammenspiel von geografischer, landschaftlicher und biologischerUmwelt einerseits und sozialen und demografischen Strukturen andererseits ab.Ausreichender Wildbestand und niedrige Bevölkerungsdichte sind dieVoraussetzungen dieses Gleichgewichts. Ein Ungleichgewicht durchBevölkerungswachstum und Reduktion des Wildbestandes verändert dieSozialstruktur, das Geschlechterverhältnis, die Mentalität, die Erziehungsstile undverursacht Infantizid, Gewalt und Krieg – als verzweifelte Versuche, die Basis derNahrungsversorgung zu erhalten. Der Krieg soll die Besiedlungsdichte niedrig haltenund der Infantizid dient der Eindämmung des Bevölkerungswachstums. Auf diesemWege kann die Proteinversorgung durch Schonung des Wildbestandes sichergestelltwerden.Ecology, economy, social system and war in Amazonia.The balance of the economy of the Yanomamo Indians depends on a complex system ofgeografical, biological, social and demographic phenomenons. Sufficient wild animalsand low population density are the preconditions of the balance of this complex system.Population growth and diminishing of wild animals endanger this balance and changesocial structure, gender relations, mentality, and child rearing. Infanticide and war arethe responses and consequences of endangered balance of the system. Low populationdensity is the result of war and low population growth is the result of infanticide ofneonates and young girls. War and infanticide are trials to restore the balance.EinleitungIm Folgenden soll am Beispiel von Siedlungen südamerikanischer Dschungelbewohner,der Yanomamö, die Möglichkeit der Entwicklung einer systemischen Analyse und derKonstruktion eines Gleichgewichtsmodells geprüft werden, die den interdependentenZusammenhang von Ökologie, Ökonomie, Sozialstruktur und Krieg in exemplarischer,aber verallgemeinerbarer Weise aufzeigt.Folgende Hypothese wird hier formuliert und steht zur Prüfung an: Das Gleichgewichtder Ernährungswirtschaft der Indios hängt von einem komplexen Zusammenspiel von
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geografischer, landschaftlicher und biologischer Umwelt einerseits und sozialen unddemografischen Strukturen andererseits ab. Ausreichender Wildbestand und niedrigeBevölkerungsdichte sind die Voraussetzungen dieses Gleichgewichts. EinUngleichgewicht durch Bevölkerungswachstum und Reduktion des Wildbestandesverändert die Sozialstruktur, das Geschlechterverhältnis, die Mentalität, dieErziehungsstile und verursacht Infantizid, Gewalt und Krieg – als verzweifelteVersuche, die Basis der Nahrungsversorgung zu erhalten.Diese Hypothese generiert ein komplexes Kausalmodell mitRückkoppelungsmechanismen, die die ökologisch-soziale Welt der Indios als einGleichgewichtssystem beschreibt, das aber aufgrund von exogenen (Bananenimport)und endogenen (Fertilität drückt auf Proteinversorgung) Faktoren zumUngleichgewicht neigt. Der „bananeninduzierte“ Bevölkerungsdruck auf denWildbestand führt zu einer gefährlichen Unterversorgung an tierischen Proteinen. DieIndios versuchen mit Mitteln der Gewalt, die Bevölkerungsdichte zu senken, indem siekriegerisch Siedlungen vernichten und Menschen vertreiben. Ferner betreiben sieInfantizid, sie töten eine Vielzahl ihrer Töchter, um das eigene Bevölkerungswachstumin Grenzen zu halten. Diese Kombination von Maßnahmen zur Eindämmung vonBevölkerungswachstum (Infantizid) und Bevölkerungsdichte (kriegerische Vertreibung)verhindert die Reduktion des Wildbestandes und gibt ihm Regenerationsmöglichkeiten.Das ökologische Ungleichgewicht und diese Gewaltmaßnahmen verändern dieSozialstruktur, das Geschlechterverhältnis, die Sozialisation und die Mentalität derIndios auf dramatische Weise.Diese Theorie, im wesentlichen von Marvin Harris, Jane und Eric Ross entwickelt, wirdvon Napoleon Chagnon, dem bedeutendsten und erfahrensten Ethnografen derYanomamö, bezweifelt und angegriffen. Chagnon sieht weder ein Problem desProteinmangels noch kann er in den Kriegen der Indios ökologische Ursachen erkennen.Chagnon zufolge führen die Indios vor allem Kriege, um Frauen zu erbeuten, nichtjedoch aus ökologischen Ursachen.Die Diskussion der beiden Positionen ist im wesentlichen im Sande verlaufen und dieProblembearbeitung ist liegen geblieben. In dieser Arbeit soll der Streit der beidenPositionen einer Lösung zugeführt werden, indem ihre Argumentationsgrundlagengeprüft werden und die mangelhaften Teilstücke und Befunde genauer beleuchtetwerden.Bei aller gebotenen wissenschaftlichen Vorsicht wird hier behauptet, daß die Theorievon Marvin Harris und anderen sich im wesentlichen als richtig erweisen wird. Umseine Theorie jedoch zu verifizieren, müssen noch einige Schwachstellen sowohl in derArgumentation als auch in der Bearbeitung der Datenlage ausgeräumt werden.Bei dieser Diskussion sollte bedacht werden, daß die Analyse des Ökosystems und derKriege der Indios keineswegs nur eine begrenzte exotische Regenwalddimension haben.Vielmehr lassen sich die Erkenntnisse mit mehr oder weniger großen Abweichungenauch auf andere vorstaatliche Dorf- und Bandengesellschaften anwenden. Man hat eshier mit universalen Prozessen zu tun, die Faktoren aufzeigen, unter denenGesellschaften sich zu staatlichen und militärischen Gesellschaften entwickeln könnten,würden einige Bedingungen hinzutreten, die im Regenwald wohl noch nicht gegeben
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sind (insbesondere geografische, räumliche Einkeilung). Dieser Typ Sozialtheorie(Verbindung von Ökologie, Demografie und Soziologie) ist insbesondere in denamerikanischen Sozialwissenschaften verbreitet und erfolgreich, dort auch in derAnalyse der Entwicklung von Hochkulturen und Agrargesellschaften, in der deutschenSoziologie jedoch bisher weithin unbekannt (Oesterdiekhoff 1993, 1999). Dieser TypSozialtheorie hat die Soziologie und Kulturanthropologie in vieler Hinsicht auf neueGrundlagen gestellt und neue Perspektiven aufgezeigt.1. Ökologie und Ökonomie im RegenwaldDie Yanomamö-Indianer (sie werden manchmal auch Yanomamo, Yanomami oder nochanders genannt) gelten als der letzte große Stammesverband der Erde, sie zählen etwa20.000 Menschen, die im Grenzland von Brasilien und Venezuela siedeln. Sie leben imDschungelgebiet am Orinoko in etwa 200 kleinen Dörfern mit 50 bis maximal 300Einwohnern. Bei einer Bevölkerungsdichte von unter 1 Person pro Quadratkilometerhaben sie dennoch nach weithin geteilter Auffassung die Ertragsgrenze erreicht oderschon überschritten, die der Urwald Bananenpflanzern und Wildbeutern erlaubt (Baksh1985; Dufour 1986; Good 1987; Harris 1997; Lizot 1979). Ihre Ernährungswirtschaftbesteht im wesentlichen aus Bananen, Kochbananen und Pfeigenbäumen, die sie vorvielleicht 100 Jahren übernommen und eingeführt haben. Ferner ernähren sie sich vonWild und sofern sie Wild nicht jagen können, von Insekten, Fröschen und Würmern. DieTechniken des Fischfangs beherrschen sie nicht, sie sind Dschungelbewohner, die frühervon den heute weitgehend ausgerotteten und kulturell überlegenen Arawak- undKaribenindianern von den Flüssen ferngehalten wurden.In den letzten 100 Jahren hat sich ihre Bevölkerungszahl mindestens verdoppelt, was imwesentlichen auf die Einführung der Banane zurückzuführen ist. Die Dörfer sind größergeworden. Vor 100 Jahren wurden sie selten von mehr als 50 Personen bewohnt. DieDörfer sind nicht nur größer geworden, sie liegen auch dichter beieinander als früher,sie sind heute etwa 1 – 2 Tagesmärsche auseinander.Nach Auffassung der „Harris-Gruppe“ bzw. der Theoretiker von der„Proteinknappheit“ hat die steigende Bevölkerungsdichte zu einer Überjagung desWildes geführt (Good 1987; Gross 1975; Harris 1984, 1997, 1997 b, 1990; Harris / Ross1987; Sponsel 1986; Lizot 1979). Es sind oft Jagdausflüge von 10 Tagen notwendig, umein einziges größeres Stück Wild erlegen zu können. Oft kommt die Jagdtruppe nachTagen auch unverrichteter Dinge wieder heim. Um diesen Sachverhalt richtigeinschätzen zu können, muß man sich Folgendes vor Augen führen. Im Regenwaldgenerell und zumal im brasilianischen ist Wild alles andere als stark vertreten. Auch infrüheren Zeiten war Wild schwer zu erlegen und die Jagd ein langwieriges undmühsames Geschäft. Wild benötigt riesige Flächen im Regenwald und ist dort vielseltener als in Steppenlandschaften anzutreffen. Auch kleineres Wild ist wenigverbreitet und schwer zu erjagen. Zusätzlich hat das Bevölkerungswachstum derIndianer zu einer Überjagung der Territorien geführt. Je größer die Siedlungengeworden sind, um so ausgedehntere Beutezüge müssen unternommen werden. Große
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Siedlungen verscheuchen die Tiere und die wachsende Nähe zwischen den Siedlungenerschwert die Bestandserhaltung und Reproduktion der Wildarten. Zwar haben dieIndios durchschnittlich 35 Gramm tierische Proteine täglich (Dufour 1986), wasdurchaus ausreichend ist, aber oft haben sie tage- oder wochenlang keineFleischversorgung. Fleisch wird in normalen Zeiten ein- bis zweimal wöchentlichverzehrt. Insbesondere die Frauen und die Alten müssen sich jedoch oft mit Würmernund Insekten versorgen oder sie essen verstorbene Angehörige und getötete Feinde.Kannibalismus gilt in der Kulturanthropologie weithin als Indiz für fehlende Haustiereoder mangelnden Wildbestand (Harris 1988; Greene 1977; Dornstreich / Morren 1974;Cook 1974).Napoleon Chagnon ist in der Frage des Wildbestandes hingegen merkwürdigzwiespältig. Einerseits bestreitet er Wildmangel, Ressourcen- und Proteinmangelgrundsätzlich als Ursache der Kriege – wenn er zu den Theorien der Gegner Stellungnimmt. Andererseits zeigen seine konkreten Beschreibungen deutlich dieSchwierigkeiten der Jagd und die vergeblichen Versuche der Jäger, ausreichend Fleischzu beschaffen (Chagnon 1974: 127, 194 f; Chagnon 1994: 144 ff; Chagnon / Hames 1979).Als Zeitgenossen, die darauf achten, nicht zuviel fettes Fleisch zu sich zu nehmen,könnte man sich fragen, warum die Indios soviel Aufhebens um die Fleischversorgungmachen. Die Geschichte der Ernährungswirtschaft zeigt uns jedoch, daß die Frage derFleischversorgung ein Zentralproblem von vorindustrieller Ökonomie undSozialstruktur gewesen ist (Abel 1981; Montanari 1999). Zwar sind MenschenAllesfresser, aber praktisch alle menschlichen Gruppen wie auch die meisten unsererVerwandten unter den Primaten machen ein Riesenspektakel hinsichtlich derFleischversorgung. Sogar Vegetarier wie die indischen Brahmanen schätzen Milch undButter höher als pflanzliche Nahrung. Fleisch ist eine ergiebigere Quelle für essentielleAminosäuren, die Bausteine der Proteine, als jede pflanzliche Nahrung. Die Proteinewiederum sind wesentlich für alle Aufbau- und Regulierungsfunktionen des Körpers.Fleisch enthält alle Vitamine sowie sämtliche lebenswichtigen Mineralien. BekommenMenschen nichts als mageres Fleisch, so verwendet der Körper das im Fleisch enthalteneProtein für die Energiezufuhr statt für Aufbau- und Regulierungsfunktionen. EineMethode, das fleischliche Protein aufzusparen, besteht darin, das Fleisch zusammen mitkalorienreicher stärkehaltiger Nahrung zu essen, eine Praxis, die überall auf der Weltbefolgt wird, zum Beispiel, wenn man Steak mit Kartoffeln oder Huhn mit Reis ißt(Harris 1988: 12 ff).Die Yanomamö nun kombinieren Kochbananen mit Fleisch. Aus dem genannten Grundweigern sie sich, Fleisch ohne Bananen zu essen. Ihr Problem besteht darin, daß sie öfterals gesundheitlich zuträglich nichts anderes als Bananen zu essen haben. In einer Weltvoll von Leuten, die nichts anderes im Kopf haben, als abzunehmen und ihreCholesterinwerte zu senken, macht Fleisch nicht mehr den Eindruck einerNahrungsquelle, um die es sich zu kämpfen lohnt. Aber die Menschen vor demIndustriezeitalter standen nicht in der Gefahr, zuviel Cholesterine und gesättigte Fetteaufzunehmen, und ihre Arterien waren nicht von Verkalkung bedroht (Abel 1981;Harris 1988; Montanari 1999).Wildtiere sind viel magerer als die heutigen Haus- und Masttiere. Im
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vorkolumbianischen Amerika gab es aber generell kaum Haus- und Masttiere, dieYanomamö hatten außer dem Hund gar keins (Oesterdiekhoff 1999). Wie auch inanderen Teilen der Welt üblich aßen sie daher Frösche, Maden, Würmer, Larven,Insekten und ihre eigenen Artgenossen, letztlich aus Mangel an Alternativen, aber auchmit großem Appetit.So bewirkte die Einführung der Banane zwar eine gewaltige Bevölkerungsvermehrungder Yanomamö, aber eben diese gefährdete den ohnehin spärlichen Wildbestand unddamit eine ausgewogene und gesunde Ernährung der Indios.2. Ökonomie, Demografie und Sozialstruktur in zwei unterschiedlichen HabitatenSchauen wir nun, wie sich der Sachverhalt im einzelnen darstellt. Zunächst einmal istChagnon und anderen ein erheblicher Unterschied zwischen den Hochland- und denFlachlandyanomamö aufgefallen. Die Hochlandindios sind im Kampf unterlegene undverdrängte Horden, die im unwegsamen und unzugänglichen Hochland einschwierigeres Leben haben. Dafür leben sie in wesentlich größerer Sicherheit. IhreGebiete sind dünner besiedelt und ihre Dörfer zählen unter 100 Einwohner. Ferner sindsie wesentlich friedfertiger, töten weniger ihre Neugeborenen und behandeln ihreFrauen deutlich besser. Kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Dörfern sind imHochland seltener (Chagnon 1994: 28, 124, 135, 141; Smole 1976).Im Tiefland sind die Dörfer wesentlich größer und die Siedlungen liegen näherbeieinander. Der Bevölkerungsdruck auf knappe Ressourcen ist somit ersichtlich größer.Daher sind die Männer im Tiefland wesentlich kriegerischer und gewalttätiger, werdenFrauen wesentlich mehr unterdrückt und gepeinigt und ist Kindestötung starkverbreitet (Chagnon 1994: 124; Chagnon 1968; Ember 1982; Harris 1990: 66).An den Unterschieden zwischen Hoch- und Tiefland kann man schon erkennen, daß dieVerhaltensunterschiede vor allem mit den ökologischen Lebensumständen zu tun habenmüssen, also zum Beispiel nicht genetisch oder ethnisch-kulturell bedingt sein können(Ember 1982; Sponsel 1986).Wächst ein Dorf über eine Größe von 200 oder 300 Einwohnern, dann verschlechtertsich nach Auffassung der „Harris-Gruppe“ die Versorgung mit Wild dramatisch. DasEinzugsgebiet für die Jagdzüge wird zu groß, das Wild in der Umgebung verschwindetdurch Flucht oder Überjagung. Die Jäger geraten bei ihren zunehmend ausgedehntenJagdzügen in die Reviere anderer Dörfer und es kommt zu Feindseligkeiten undKämpfen. Innerhalb des Dorfes verschlechtert sich die Stimmung und man beschließteine Trennung, die immer mit Streit und Kampf verbunden ist. Die Ausziehendenhaben viele Probleme. So müssen sie die Bananensetzlinge tagelang durch denDschungel tragen. Da sie für lange Zeit nicht auf Bananen zurückgreifen können,benötigen sie neue Verbündete, die sie eine Zeitlang mit ihren Bananen versorgenwerden. Um diese Hilfe zu bekommen, müssen sie den neuen Verbündeten jedochFrauen abgeben und ihnen bestimmte Dienste leisten. Ferner entstehen die meistenKriege im Indianerland zwischen dem alten und dem neuen Dorf. Das alte Dorfüberfällt gelegentlich das neue Dorf. Während die Auswanderer durch den Busch
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ziehen, können sie außerdem Opfer von Überfällen werden, Opfer von Dörfern, diejeden Einbruch in ihr Territorium verhindern wollen.Nach Auffassung der „Harris-Gruppe“ resultieren die Fissionierung von Dörfern unddie Konflikte letztlich aus der Überjagung, nach Auffassung von Chagnonausschließlich aus den internen Spannungen der Dorfbewohner. Chagnon erklärt dieFissionierung allein aus der Unfähigkeit der Sozialstruktur des Dorfes,Konfliktlösungsinstitutionen für große Populationen generieren zu können, die nichtmehr im wesentlichen durch Verwandschaft vernetzt sind (Harris 1990: 67, 73; Chagnon1994: 125; Chagnon 1975: 97 ff).Im Zuge der Bevölkerungsvermehrung ist das Yanomamö-Land von immer mehr undvon immer größeren Dörfern besiedelt worden. In den dichter besiedelten Regioneninsbesondere des Tieflandes sind die Auseinandersetzungen entsprechend heftiger.Jedes Dorf muß eifersüchtig darauf achten, daß andere Dörfer ihm nicht zunahekommen, es nicht überfallen, die Frauen rauben und die Einwohner töten. Wer sichaußerhalb des Dorfes begibt, ist in Lebensgefahr. In das Niemandsland zwischen denDörfern begibt man sich nur in Begleitung männlicher Krieger. Jedes Dorf muß seinerUmwelt zeigen, daß es stark und bereit ist, jeden Kampf aufzunehmen. Ein Dorf, dasviele Krieger verloren hat, wird mit Sicherheit Opfer des Angriffs eines stärkeren Dorfs.Oft koalieren zwei Dörfer, um ein anderes zu überfallen. Koalitionen wechseln ständigund jedes Dorf muß auch vor befreundeten Dörfern ständig auf der Hut sein. Nur zu oftladen Dörfer andere Dörfer nur deshalb zu einem Fest ein, um Festgäste umzubringenoder um einem Koalitionspartner zu ermöglichen, die zuhause gebliebenen undungeschützten Frauen zu stehlen und Kinder und Alte zu töten. Letztlich handelt es sichbei den Auseinandersetzungen zwischen den Dörfern um einen ständigen Kampf allergegen alle, in dem die großen Dörfer die kleinen vernichten und Freundschaftenzwischen Dörfern nur vorübergehende Zweckbündnisse sind, die sofort zerbrechen,wenn in ihrer gemeinsamen Umwelt neue Koalitionspartner auftauchen (Chagnon 1988,1994, 1975; Meggers 1971; Harris 1997: 103 ff).3. Ursachen, Funktionen und Techniken der KriegsführungWie werden nun diese Auseinandersetzungen im einzelnen geführt und welchekriegerischen Konsequenzen und Schäden verursachen sie? Nach John Keegan, demAutor von „Die Kultur des Krieges“, sind die Kriege der Yanomamö unterhalb des„militärischen Horizonts“. Ihre Kriege sind „wirkliche“, weitgehend ritualisierte undbegrenzte Kriege, keine „absoluten“ Kriege im Sinne von Clausewitz. Fast alle Kriegevon Völkern einfacher Kulturstufen sind in diesem Sinne unterhalb des militärischenHorizonts. Die Yanomamö führen keine Entscheidungsschlacht mit dem Gegner, siekennen keinen Aufprall von Einheiten unter Einsatz des Lebens und unter Ausnutzungaller Möglichkeiten. Sie führen keinen massiven und entschlossenen Angriff. Ein Krieg,der aus Entscheidungsschlachten besteht und zum Ziel hat, ein für allemal eineHierarchie von Souveränitäten aufzustellen, findet sich laut Keegan in einfachenDorfgesellschaften meistens nicht, so auch nicht bei den Indios. Es geht nicht um den
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riskanten Einsatz des eigenen Lebens, die Ausrottung des Gegners und auch nicht umEroberungen von Land. Der absolute Krieg kann zur Vernichtung führen, derritualisierte Krieg der Yanomamö hingegen kennt, wie auf einfachen Kulturstufenüblich, eine Abstufung von Gewaltakten. Die einzelnen Phasen dabei sind: derZweikampf im Brustschlagen, der Kampf mit der Keule, der Speerkampf und derÜberfall auf Nachbardörfer. Überfälle auf Nachbardörfer, die eigentlich kriegerischenAuseinandersetzungen, verlaufen nach einem für Völker dieser Kulturstufe weltweitähnlichem Muster. Die Krieger legen sich außerhalb des Dorfes, dem ihr Überfall gilt,nachts auf die Lauer und töten morgens einige unvorsichtige Dorfbewohner. Dannergreifen sie meist sofort die Flucht, weil sie fast immer verfolgt werden. Da sich solcheÜberfälle ständig wiederholen, addieren sich die Tötungen von Männern und dieEntführung von Frauen. Im schlimmsten Fall kann es dann bei fortlaufenderSchwächung eines Dorfes dazu kommen, daß das an Kriegern geschrumpfte Dorfaufgegeben wird. In dieser Extremsituation ist eine Tötung vieler Männer und Kindermöglich. Die Dorfbewohner fliehen und suchen sich ein neues Territorium, wobeimanche von ihnen auf der Flucht erschlagen werden. Die Kriege bestehen also nicht ausentschlossenen Entscheidungsschlachten, sondern aus einer nicht abreißenden Kettevon einzelnen und unsystematischen Tötungen, bei der der Angriff aus Hinterhalt undDeckung mit nachfolgender Flucht die Regel darstellt. Ein verteidigungsbereites undvorsichtiges Dorf muß demnach keineswegs damit rechnen, in einem einzigen hartenKampf vollständig aufgerieben und eliminiert zu werden. Auch der überlegeneAngreifer wird eher nicht die Chance der Elimination seines Gegners nutzen, wenn erdann einen Preis in Form von eigenen Toten beklagen müßte (Keegan 1997: 155 ff;Murphy 1968; Ferguson 1984; Haas 1990; Turney-High 1971; Nettleship 1975).Man kann wohl jetzt schon, die Theorie von der „Proteinknappheit“ ergänzend undweiterführend, behaupten, daß diese Art der Kriegführung nicht den Zweck hat,Eroberungen von Land durchzuführen, sondern die Entfernungen von Dörfern zusichern, zu dichte Besiedelungen und Übervölkerungen zu verhindern, um damit denWildbestand zu erhalten. Denn genau diese Phänomene der Streuung von Siedlungenund Abstandssicherung sind schließlich die tatsächlichen Effekte der Kriegshandlungen.Und genau diese Verhinderung von zu starker Besiedlungsdichte, diese künstlicheSchaffung von Niemandsland durch Dehnung von Entfernungen zwischen Siedlungenbietet dem Wild die Chance der Regeneration.Die Yanomamö sind nicht an Eroberungen von Land interessiert, da sie keinenAckerbau und keine Viehzucht betreiben. Der Anbau von Bananen greift nicht dieRessourcen des Regenwaldes an, da Bananen an die Ökologie des Regenwaldesangepaßt sind. Flächen für den Anbau von Bananen sind im Überfluß vorhanden undstellen somit keine knappe Ressourcen dar, um die man streiten müßte. Der Regenwaldist so dünn besiedelt, daß von einer Überbevölkerung im Hinblick auf denBananenanbau, den Platz für Dorfsiedlungen und den Raum für Menschenschlechterdings keine Rede sein kann. Das Ausmaß der Bevölkerungsdichte drückt nurauf eine einzige knappe Ressource, nämlich auf den Wildbestand. DieBevölkerungsdichte befindet sich nur im Verhältnis zum Wildbestand nicht mehr ineinem Gleichgewicht, nur in dieser Frage kann man von einer Überbevölkerung
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sprechen. Da die einzig greifbaren rationalen und ökologischen Effekte derKriegführung der Yanomamö in einer Senkung der Bevölkerungsdichte bestehen, mußman schließen, daß der Druck der Bevölkerung auf den Wildbestand auch dieentscheidende Ursache ihrer Kriege ist. Diese Erklärung läßt sich schon durch denVerweis auf das weitgehende Fehlen von Kriegen in den dünner besiedelten Gebietender Yanomamö abstützen.Vor diesem Hintergrund werden m. E. auch die Techniken und Methoden derKriegführung der Yanomamö mit einem Schlag nachvollziehbar und verständlich.Wenn der Krieg vor allem die Streuung und Entfernungsdehnung von Siedlungenbezwecken soll, dann genügt es, andere Dörfer zu bedrohen, sie auf Abstand zu haltenund die Menschen zu vertreiben. So erklären sich auch die immer aggressivverlaufenden Aufspaltungen von Dörfern und die Feindseligkeiten zwischenAltsiedlern und Emigranten. Da es nur um Entfernungsdehnungen zwischenSiedlungen geht und nicht um die Eroberung von knappem Lebensraum, umwertvollen Ackerboden und um wichtige Flüsse, haben die Kriege nicht den Charaktervon blutigen Eroberungskriegen, von Entscheidungsschlachten, in denen es um Allesoder Nichts geht. Die Völker dieser vorstaatlichen Kulturstufe benötigen keineArbeitssklaven für Felder und haben keine Verwendung für Untertanen, denen manTribute abpressen könnte. Der Aufwand für derartige Maßnahmen wäre in diesemHabitat größer als der Nutzen, den man aus ihnen ziehen könnte (vgl. Murphy 1968;Oesterdiekhoff 1993; Boserup 1981; Ferguson 1984; Haas 1990). Daher genügt es, wennman die Unterlegenen vertreibt, tötet oder aufißt und die Frauen mitführt. So gesehen,ist die zunächst seltsam anmutende Rationalität und Technologie der Kriegsführungunterhalb des militärischen Horizonts wohl aus den so dargestellten ökologischenBedingungen abzuleiten. Auf eine Formel gebracht: Für ertragreiche Bauernhöfe riskiertman eher sein Leben und führt Entscheidungsschlachten als für die Ziele, die die Indiosverfolgen. Daher sind die Methoden und Techniken dieser Kriegführung im erwähntenSinne ökologisch erklärbar und man kann Keegans Theorie des begrenzten Krieges mitHarris Theorie kombinieren.Wenn auch einige spanische Chronisten und Konquistadoren meinten, die Kriege derIndios glichen eher Kinderspielen, so ist der Blutzoll bei dieser Art ständigerKriegsführung gleichwohl gewaltig. Etwa 25% bis 33% der Yanomamö-Männer und 3%bis 7% der Frauen sterben durch Gewalteinwirkung. Dies entspricht etwa den üblichenWerten in den dichter besiedelten und kriegerischen Dorfgesellschaften des alten Afrikaund des Pazifik oder den Zahlen bei den australischen Ureinwohnern. Zum Vergleich:In Nordamerika und Europa außerhalb Rußlands starben trotz der Weltkriege imgesamten 20. Jahrhundert nur etwa 1% der Bevölkerung durch kriegerische Gewalt.4. Streuungseffekte qua Krieg und InfantizidDie hohe Tötungsrate bei den Indios senkt hingegen die Bevölkerungsdichte und dasBevölkerungswachstum so gut wie gar nicht. Die Senkung der Bevölkerungsdichteinfolge der Kriege ist ein Effekt der Streuung und Ausbreitung der Siedlungen in zuvor
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unbesiedeltes Niemandsland, nicht der Tötungen von Kriegern. Eine wirkungsvolleBevölkerungsdezimierung kann man nur durch die Tötung von Frauen, nicht vonMännern und Kriegern erzielen. Alle Yanomamö-Frauen etwa ab dem 10. Lebensjahrsind an Männer vergeben. Ledige Frauen gibt es nicht und viele Männer haben mehrereFrauen. Die kriegsbedingte Tötung von Kriegern wirkt sich deshalb in keiner Weisenegativ auf die Geburtenziffer aus, da in jedem Falle genügend Männer vorhanden sind,um das Fruchtbarkeitspotential aller Frauen maximal auszuschöpfen.Bevölkerungswachstum und Bevölkerungsdichte sind durch männliche Kriegstotebekanntlich nicht zu senken (Harris / Ross 1987; Harris 1990).Die Yanomamö haben diesen Sachverhalt zumindest unbewußt erkannt, denn sie töteneinen großen Prozentsatz weiblicher Neugeborener und Kleinkinder. Die Mütter töteninsbesondere ihre Töchter aktiv, erwürgen sie oder lassen sie verhungern. Der Infantizidist nach Auffassung von der Theorie der „Proteinknappheit“ eine direkte Folge desBevölkerungsdrucks und der Kriegsintensität, wie ich im Folgenden zeigen werde. Sogesehen, senkt der Krieg die Bevölkerungsdichte direkt durch die Streuungseffekte,welche die unmittelbare Folge der kriegerischen Auseinandersetzungen undBedrohungen sind, und er senkt zusätzlich das Bevölkerungswachstum, aber nichtdurch Kriegstote, sondern durch Kindstötung, indem Bevölkerungszuwachs und Kriegaus noch zu erläuternden Gründen die Frauen dazu bringen, ihre Kinder umzubringen.Im weltweiten Durchschnitt liegt das Verhältnis von Jungen zu Mädchen bei etwa 105zu 100. Im dünner besiedelten und unkriegerischen Yanomamö-Hochland kommen auf100 Mädchen 109 Jungen. In der von Chagnon untersuchten kriegerischen Tieflandzonelag das Verhältnis jedoch bei 100 zu 148. In einem noch stärker Kriegsstreß ausgesetztemGebiet, das Jacques Lizot untersucht hat, betrug das Verhältnis sogar 100 zu 260(Chagnon 1975; Lizot 1977, 1985).Infantizid ist weltweit bei kriegerischen Banden- und Dorfgesellschaften eine üblicheStrategie, um Bevölkerungsprobleme zu lösen. William Divale hat 600 Gesellschaftendieses Typs weltweit untersucht. Durchschnittlich betrug in dieser Untersuchung dasGeschlechterverhältnis von Jungen zu Mädchen 128 zu 100. Bei Populationen, die inDivales Untersuchung noch Krieg führten, kamen auf 100 Mädchen 133 Jungen. BeiPopulationen, die einen Frieden zwischen 5 und 25 Jahren Dauer hatten, betrug dasGeschlechterverhältnis 100 zu 113. Friedenszeiten von mehr als 25 Jahren beruhigtendas Geschlechterverhältnis auf 100 zu 106 (Divale / Harris 1976).Damit ist der der eindeutige Nachweis erbracht, daß Kriege nicht nur bei denYanomamö, sondern weltweit in derartigen Gesellschaften Infantizid an Mädchenhervorrufen. Ob man 50% der Mädchen oder der Jungen tötet, entscheidet darüber, obdas Bevölkerungswachstum massiv gesenkt wird oder stabil bleibt. Bei Tötungen nurvon Jungen bleibt es stabil.Während Chagnon den Infantizid gar nicht zu erklären versucht, sieht die „Harris-Gruppe“ in der Tötung junger Mädchen vor allem ein Verfahren zur Verhinderung desBevölkerungswachstums, des Wachstums der Dörfer. Wenn ein Dorf in einem dichterbesiedelten und umkämpften Gebiet zu groß wird, dann grassiert der Infantizid. DerInfantizid dient somit wie der Krieg letztlich der ökologischen Schonung des Wildes.Man muß noch weiter analysieren. Krieg gegen fremde Dörfer und Tötung der eigenen
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Kinder gehören m. E. in diesem Habitat unmittelbar zusammen. Der Krieg gegenFremde hätte kaum einen Zweck, wenn er nicht von Infantizid gegen das eigene Blutbegleitet wäre. Sind die Lager und Siedlungen der Feinde zerstört und sind diesevertrieben, dann dürfen die Sieger nicht zulassen, daß die Bevölkerung ihres eigenenDorfes zu stark wächst, um etwa die entstandene Lücke aufzufüllen. Fremde zuvertreiben, um den Lebensraum mit eigenen Leuten zu füllen, ist nur in agrarischenStaatsgesellschaften zweckmäßig. Im Falle der Dschungelbewohner wäre diese StrategieSisyphus-Arbeit. Ob das Wild durch eigene oder durch fremde Leute überjagt wird,ergibt für die Überlebenden keinen Unterschied. Nur wenn die Vertreibung undStreuung von Fremden mittels Krieg ergänzt wird durch Bemühungen, das eigeneBevölkerungswachstum mittels Infantizid einzudämmen, bleibt das günstigeGleichgewicht von Bevölkerungsdichte und Wildbestand erhalten und damit dieNahrungssicherung gewährleistet. Nur Krieg in Kombination mit Infantizid verhindertdie Umwelterschöpfung. Der Krieg bekämpft die Bevölkerungsdichte und der Infantizidbekämpft das Bevölkerungswachstum. Die Verbindung beider Strategien bietet einegrausame, aber wirksame Lösung des Malthusianischen Dilemmas (Dickeman 1975;Freeman 1971; Harris / Ross 1987; Scheper-Hughes 1984).Den Indios wird dieser systemische Zusammenhang wohl kaum bewußt sein. Sieerklären die Tötung der Mädchen mit dem niedrigen Wert der Frau, mit derNotwendigkeit, sich auf das Großziehen von männlichen und verteidigungsfähigenKriegern konzentrieren zu müssen und mit dem Wunsch der Männer, das erstgeboreneKind müsse ein Junge sein. Dies zwingt die Frauen dazu, zumindest erstgeboreneMädchen umzubringen. Jedoch haben nicht nur Männer, sondern auch Frauen einInteresse an der Bevorzugung von Jungen. Letztlich haben es die Frauen in der Hand,das Großziehen der Kinder und den Infantizid zu steuern. Sie bevorzugen Jungen ausden gleichen Gründen wie die Männer, nämlich aus dem Wunsch nach kriegerischerStärke und Schutz (Harris 1997 b: 269 ff).Dies ließe sich so darstellen: Wenn zwei angrenzende Dörfer in einer Generation nur dieKapazität für das Heranwachsen von jeweils 60 Kindern haben, dann wird das Dorf ineinem militärischen Vorteil sein, dem es gelingt, 40 statt 30 Krieger aufzuziehen. DieseÜberlegenheit kann dann nur durch die Tötung von 10 Mädchen erkauft werden. Nurdieser kollektive Behauptungs- und Überlebenswille kann wohl ein so mächtigeskulturelles Motiv generieren, in der Psyche der Mütter die Mutterliebe für ihreunglücklichen Töchter austrocknen zu lassen. Unter der Bedingung eines knappenNahrungspotentials und damit unter der Bedingung einer Obergrenze der Anzahlaufzuziehender Kinder hängt der militärische Sieg eines Dorfes davon ab, möglichstviele kriegerische Männer zu produzieren. Tötung weiblicher Kinder ist in diesem Sinneeine Maßnahme im Zusammenhang militärischer Aufrüstung, eine Frage derOpportunitätskosten.Nun könnte man einwenden, daß ein Maximum an Kriegern nur mit einem Maximuman Frauen und somit mit einem Minimum an Tötungen von Mädchen erzielt werdenkann. Und in der Tat: ein Maximum kriegerischer Kampfkraft eines Dorfes erzielte mandurch ein Verbot jeglichen Infantizids und in der massiven Förderung weiblicherFruchtbarkeit, wie uns die Kulturgeschichte zeigt. Den Yanomamö geht es aber nicht
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um demische Eroberungen fremder Länder – dann wäre dies die richtige Strategie –sondern um ein ökologisches Gleichgewicht. Nur wenn die Bevölkerung auf dieRessourcen drückt, ergibt es einen Sinn, nicht ebenso viele weibliche wie männlicheKinder aufwachsen zu lassen. Der Infantizid resultiert als Kompromiß zwischen derBegrenzung der Dorfgröße und der Maximierung von Kriegern. Wenn der Krieg ausdem Bevölkerungsdruck auf den Wildbestand erwächst, dann resultiert der Infantizidsowohl aus dem Bevölkerungdruck als auch aus dem Krieg. Insofern er aus dem Krieghervorgeht, kann man ihn als einen Kompromiß von Bevölkerungskontrolle undÜberlebenswille der eigenen Gruppe definieren. So bleibt den Indio-Frauen scheinbargar nichts anderes übrig, als zu ihrem eigenen Schutz und auf Kosten ihrer eigenenFreiheit und des Lebens ihrer Töchter möglichst zahlreiche und kampflustige Männeraufzuziehen.5. Krieg und GeschlechterbeziehungenDie Jagd und der Krieg sind weltweit die Ursachen der männlichen Suprematie. DieSozialwissenschaften haben überdeutlich gezeigt, daß die Stellung der Frauen in denGesellschaften besser ist, die keine Kriege führen und in denen die Ökonomie nicht aufbesonderer Körperkraft basiert. Je wichtiger die Jagd ist und je mehr die Landwirtschaftvom Pfluggespann, also von besonderer Körperkraft, abhängt, umso stärker ist diepatriarchale Ausrichtung der Gesellschaft. Ferner: Je kriegerischer eine Gesellschaft ist,desto unterdrückter ist die Stellung der Frau (Harris 1997 b: 263 ff; Hayden 1986; Whyte1978). Diese generelle Gesetzmäßigkeit findet sich auch im Yanomamö-Land: ImHochland ist weniger Krieg, weniger Infantizid und ein entspannteresGeschlechterverhältnis anzutreffen. Die permanente Kriegführung im Tieflandbegünstigt die Aufzucht von Söhnen, deren Aggressivität glorifiziert wird, und dieAbwertung von kampfesuntüchtigen Töchtern. Diese Abwertung und diesesRessentiment rechtfertigt wiederum die Vernachlässigung, Mißhandlung und Tötungder Töchter (Schapiro 1971).Die Unterdrückung und Schikane von Frauen bei den Yanomamö sind scheinbargrenzenlos. Gewalt gegen Frauen, Prügel und Verletzungen sind an der Tagesordnung.„Yanomamö-Frauen sind mit Narben und blauen Flecken übersät, in der Mehrzahl dasErgebnis heftiger Zusammenstöße mit Verführern, Vergewaltigern, Ehemännern. KeineFrau entkommt der brutalen Überwachung durch ihren rauschgiftsüchtigen undjähzornigen Kriegergatten. Alle Männer mißhandeln ihre Frauen. Nette Ehemännerbegnügen sich mit blauen Flecken und kleineren Verstümmelungen; die wilden unterihnen verwunden ihre Frauen und bringen sie um.... Es hebt das Image eines Mannes,wenn er seine Frau in der Öffentlichkeit mit einem Knüppel verdrischt.“ (Harris 1997:94)Die Perversion der Geschlechterbeziehungen geht so weit, daß Frauen auf ihre Wundenstolz sind. Ein Mangel an Verletzungen und an Prügel wird als Desinteresse des Mannes
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gedeutet.Alle Beobachter, die je mit den Yanomamö in Berührung kamen, stimmen darinüberein, daß sie zu den aggressivsten, kriegerischsten und am stärksten von denMännern bestimmten Gesellschaften der Welt gehören. Harris nennt sie Chauvis,Chagnon bezeichnet sie immer wieder als extrem wildtätig und grimmig (Harris 1997:94 ff; Chagnon 1994: 13).„Die Yanomamö sind grimmige Leute. Nie habe ich auch nur einen von ihnen sagenhören:wir sind in Wahrheit Feiglinge oderwir nehmen lieber die Beine in die Handals zu kämpfen... (ich mußte einsehen), daß der Krieg die Hauptbeschäftigung beiihnen darstellt und fast sämtliche Aktivitäten beeinflußt.“ (Chagnon 1994: 11, 13).Die Männer der dichter besiedelten Gebiete werden im Gegensatz zu den Männern ausden streßfreieren Gebieten von Kindheit an zur Gewalttätigkeit erzogen. Es wird ihnenbeigebracht, jede Kränkung mit Gewalt zu beantworten. Die Eltern dulden keinesfalls,daß ihre Knaben sich nicht wehren oder sich nicht durchsetzen. Schon die Zweijährigenbekommen Beifall, wenn sie andere Kinder heftig schlagen. Ein geschlagenes Mädchenhingegen darf sich keinesfalls verteidigen, sondern soll an die Opferrolle gewöhntwerden. Jungen hingegen werden darin geübt, Schmerzen und Folter zu ertragen, keineAngst und keine Empfindlichkeit zeigen. Sensibilität für die Schmerzen anderer werdenbei ihnen anästhesiert, Toleranz und Mitgefühl bleiben unterentwickelt. SchonKleinkindern wird beigebracht, welche Freude es bereitet, Tiere zu quälen und zu töten.Kinder fangen Affen, stechen ihnen die Augen aus, reißen ihnen die Gliedmaßen ausund bereiten ihnen oft unter Folter ein langes und qualvolles Ende. Als Erwachsenepraktizieren sie dergleichen mit fremden Dorfbewohnern (Lizot 1977; Harris 1997: 89 ff;Chagnon 1994: 186 f).Die Unterdrückung der Frauen resultiert in psychologischer Hinsicht aus der Wildheitund Aggressivität der Männer, welche wiederum eine Folge ihrer kriegerischenSozialisation und Aktivitäten sind. Die außenpolitischen Kriege verlängern sich in eineninnenpolitischen Geschlechterkrieg, besser formuliert: in ein vollkommen hierarchischesGeschlechterverhältnis. Die Männer nutzen gewissermaßen ihre militärische Potenz zurUnterdrückung und Verdinglichung von Frauen.Die Yanomamö sagen in diesem Zusammenhang, die Hauptursache ihrer Kriege sei derStreit um Frauen und ihre Gier nach ihnen – so sieht es auch Chagnon. Daß dieseÄußerungen der Indios ihre greifbaren Motive wiedergeben, daran ist kein Zweifel. Dendahinter liegenden systemischen Zusammenhang kennen sie nicht. Aber gleichviel,unbestreitbar wahr ist, daß die Krieger bei ihren Jagdzügen vor allem Frauen erbeuten.Frauen sind die einzige Beute. Sobald die Kriegertruppe sich auf dem Rückzug sicherfühlt, wird die Gefangene kollektiv vergewaltigt. Im Lager angekommen, wird sie denübrigen männlichen Dorfbewohnern noch einmal zum gleichen Zweck zur Verfügunggestellt und dann einem Mann nach langem Feilschen zur Ehe übergeben (Chagnon1994: 136, 264). Mehr als 10% der Ehen kommen durch einen solchen Raub zustande.Infolge des Infantizids und der Vielehe sind Frauen eindeutig Mangelware. Besondersstreitbare und ranghohe Krieger haben mehrere Frauen. Mehr als 25% der Männer
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haben zwei oder mehr Frauen. Da schon die Mädchen an Männer aufgeteilt sind, gibt esfür viele junge Männer nur die Möglichkeiten, entweder verheiratete Frauen gegenDienstleistungen an die Ehemänner zur Verfügung gestellt zu bekommen oder aber siemit Drohungen oder Schmeicheleien zum Ehebruch zu veranlassen. Männer haben eineausgesprochene Zuhältermentalität nicht nur gegenüber Frauen fremder Dörfer,sondern auch gegen die Ehefrauen und die Frauen des eigenen Dorfes. Je kriegerischerein Mann ist um so mehr Frauen hat er zur Verfügung. Die weniger Gewalttätigenlaufen Gefahr, ohne Frau zu bleiben oder aber sich in Abhängigkeit von einem Mann zubegeben, der seine Frau für Gaben und Dienste ausleiht. Obwohl Chagnon jahrelang beiden Indios gelebt hat, haben sie seine Fragen nach ihrem Verständnis von Liebe nichteinmal verstanden (Chagnon 1994: 185).Napoleon Chagnon schließt sich bei seinem Erklärungsversuch des permanentenKriegszustandes mehr oder weniger dem Selbstverständnis der Yanomamö an. Ervertritt eine neodarwinistische Fortpflanzungstheorie, derzufolge die Kriege dieFunktion hätten, die individuelle Genverbreitung von Kriegern zu maximieren. EinKrieger kann nicht nur weibliche Gefangene nach Hause nehmen, sondern er kann auchdurch sein kriegerisches Auftreten die Leute im eigenen Dorf einschüchtern, früherheiraten, mehr Frauen und Liebschaften haben und folglich mehr Kinder zeugen(Chagnon 1988, 1968, 1994: 144 ff). Marvin Harris, Jane und Eric Ross haben mit Rechtdarauf hingewiesen, daß die Schwachstelle dieses Arguments schon der Infantiziddarstellt, der ja eine Methode zur Verringerung und nicht zur Erhöhung desFortpflanzungserfolges darstellt (Harris / Ross 1987). Wäre Chagnons These richtig,dann, so wäre ergänzend zu folgern, müßte eine Maximierung der Produktion vonFrauen mit einer Maximierung der gegenseitigen Auslöschung von Männernkombiniert werden. Die Konsequenz wäre mindestens eine Maximierung vonAuslöschungskriegen und Genoziden bei gleichzeitigem Frauenraub. Die sozialeStruktur und die sozialen Phänomene passen also nicht zu einer fiktivenneodarwinistischen Genstrategie. Krieg und Infantizid wurzeln in abnehmendemJagdwild und dem daraus resultierenden Zwang, das Bevölkerungswachstumeinzudämmen. Es ist dieser Zwang zur Streuung von Siedlungen, der den Indios einenso kriegerischen Charakter verleiht und aus ihnen so perfekte Chauvis macht. Dassoziale Verhalten der Indios ergibt sich aus ökologischen Zwängen und nicht aus einerfiktiven Genfitness.6. SchlussfolgerungenChagnon hat die Theorie der Proteinknappheit abgelehnt und behauptet, es sei genugWild in den Wäldern, die Indios litten nicht an Unterversorgung und die Kriege würdenvor allem um Frauen geführt. In seinen eigenen Berichten über die Jagden der Indiosfindet man hingegen genügend Anhaltspunkte, daß Jagden oft erfolglos durchgeführtwerden und nur selten mit reicher Beute belohnt werden. In seinen eigenen Berichten istzu lesen, daß Wild im Mittelpunkt aller Bemühungen und Erzählungen der Indios steht,im Urwald kaum anzutreffen ist und eher eine seltene Delikatesse darstellt. Selbst
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Chagnon erklärt den Kannibalismus aus der Fleischknappheit.Insgesamt zeigt sich, daß die Theorie von Marvin Harris und anderen denZusammenhang von Ökologie, Ökonomie, Sozialstruktur, Siedlungsweise,Geschlechterverhältnis, Kindererziehung, Infantizid und Krieg gut erklären kann. Wievon mir darüber hinaus gezeigt wurde, muß man Infantizid und Krieg aber noch engerals untrennbare Bestandteile eines Ganzen sehen und Keegans Theorie des begrenztenKrieges mit der ökologischen Betrachtungsweise des Ansatzes von Harris inVerbindung bringen. Chagnon ist ein tüchtiger Ethnograf, der aber die von ihmberichteten Fakten nicht gut in einen theoretischen Zusammenhang bringen kann. DieUrsachen des Infantizids, der Kriegführung, der Siedlungsweise, derGeschlechterhierarchie und anderer Phänomene kann er nicht analysieren undunternimmt letztlich noch nicht einmal Anstrengungen in diese Richtung.Der bei den Yanomamö aufgedeckte Zusammenhang von Ökologie, Ökonomie,Sozialstruktur und Krieg ist nicht exotisch, sondern findet sich mit mehr oder wenigergroßen Abweichungen in vielen Gesellschaften weltweit, sowohl in Wildbeuter- alsauch in Agrargesellschaften. Insbesondere die nordamerikanischenSozialwissenschaften der letzten 30 Jahre haben die Bedeutung und die Kausaleffekteökologischer Faktoren, des demografischen Drucks auf knappe Ressourcen, als einender wichtigsten Effekte in der Strukturierung sozialer Systeme herausgearbeitet.Bevölkerungsdruck auf knappe Ressourcen gilt heute insbesondere in denamerikanischen Sozialwissenschaften als einer der wichtigsten Faktoren bei derneolithischen Revolution, bei der Entstehung staatlicher Gesellschaften, hochkulturellerEntwicklungen und bei der Entstehung von Industriegesellschaften. TechnologischeRevolutionen zwecks Produktionsintensivierungen sind oft die Antwort auf sichschließende Scheren von Bevölkerungswachstum, Produktion und Ressourcen gewesen.Umweltbelastungen und Rohstoffverknappungen sind keine Eigenheiten desIndustriezeitalters, sondern seit über 10.000 Jahren ständige Begleiterscheinungen derAusbreitung des homo sapiens. Auf ökologische Probleme, knappe Ressourcen undÜberbevölkerung ist nur zu oft mit Krieg statt mit der Einführung neuer Technologienreagiert worden, welche das ökologische Gleichgewicht auf einem höheren Niveaurestrukturieren können. Kriege regeln ökologische Probleme vor allem demografisch,neue Technologien regeln sie vor allem ökonomisch.Literatur:Abel, Wilhelm, 1981: Stufen der Ernährung, Göttingen: Vandenhoeck.Baksh, Michael, 1985: Faunal Foods as a Limiting Factor on Amazonian CulturalBehavior: A Machiguenga Example, in: Research in Economic Anthropology 7:145 – 175.Boserup, E., 1981: Population and Technology, New York.Chagnon, Napoleon und R. Hames, 1979: Protein Deficiency and Tribal Warfare inAmazonia: New Data, in: Science 203: 910-913.
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Klaus | 09.08.05 00:57 | Permalink