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„Mehr Tote durch Feuerwaffen als im Irakkrieg“

Brasiliens NGO „Viva Rio“ kämpft für ein Verbot des Waffenhandels

von Klaus Hart, Rio de Janeiro

In dem Tropenland, einem der am meisten von Gewalt und Mord heimgesuchten Staaten der Erde, fordern Nicht-Regierungsorganisationen und die Kirche seit über einem Jahrzehnt das Verbot des Verkaufs von Waffen und Munition an Zivilisten. Die Regierung von Staatschef Lula hat bereits eine landesweite Kampagne zur Volksentwaffnung gestartet, bei der jedermann legal oder illegal erworbene Pistolen, Revolver, Gewehre oder Maschinenpistolen abgeben kann. Jetzt rückt ein für Oktober geplantes Referendum über das Waffenverkaufsverbot in greifbare Nähe – muß nur noch die letzte parlamentarische Hürde nehmen.

Es könnte klappen – in der Rua do Russell von Rio de Janeiro herrscht vorsichtiger Optimismus. In einem alten Kolonialhaus arbeitet dort die regierungsunabhängige Organisation „Viva Rio“ - sie hatte die Idee zu dem Referendum, sie hat es seit der Gründung 1993 in jahrelanger Kleinarbeit geschafft, immer größere Teile der brasilianischen Bevölkerung vom Sinn eines Waffenverbots zu überzeugen. Im wichtigsten Wirtschaftszentrum Sao Paulo, der drittgrößten Stadt der Welt, sind gemäß neuesten Umfragen 83 Prozent der Bewohner für ein solches Verbot – denn die Gewalt brennt nahezu jedem Brasilianer auf den Nägeln, ist das mit Abstand meistdiskutierte Problem im Familienkreis, unter Freunden und Bekannten. Bei Viva Rio in der Zuckerhutmetropole trägt die junge Französin Josephine Bourgois seit vier Jahren sämtliche Argumente und Fakten zusammen, konzipiert Projekte und Aufklärungskampagnen mit. Für „Viva Rio“ ist sie ein regelrechter Glücksfall, weil sie so analytisch-scharf formuliert, wie es in Brasilien eher die Ausnahme ist.

“In keinem Land der Erde werden jährlich so viele Menschen durch Feuerwaffen getötet wie in Brasilien – über 38000 – das sind mehr als beispielsweise im Irak. Hauptopfer sind junge Männer – doch es sterben in Brasilien auch mehr Kinder durch solche Waffen als in Kriegsländern. In Frankreich entfallen statistisch pro Jahr 0,28 Morde auf einhunderttausend Bewohner, in Japan gar nur 0,02 – in Brasilien sind es dagegen fast zwanzig Morde. Ein Drittel der in Hospitäler eingelieferten Personen erlitten Schußverletzungen, und die Mehrheit davon sind auch noch Kinder!“

Über zwanzig Millionen Revolver, Gewehre und Maschinenpistolen sind meist illegal in Privat-bzw. Banditenhand – doch laut Josephine Bourgois hat ein Großteil der Morde nichts mit dem organisierten Verbrechen, den hochbewaffneten Gangstermilizen der Slums zu tun, die indessen viele Kinder und Jugendliche rekrutieren. Sie weist auf soziokulturelle Gründe: “Hier löst man leider persönliche Konflikte oft noch mit der Waffe. Gibt es Streit zwischen Ehepartnern, Nachbarn, Kneipengästen, Verkehrsteilnehmern, Fußballfans, wird häufig gleich geschossen, gibt es Tote. Wären keine Waffen im Umlauf, käme es nicht dazu. Man lebt hier mit dem ständigen Risiko, getötet zu werden, ist deshalb immer in Spannung – für mich als Französin eine völlig neue Erfahrung. Gewalt gehört zum Alltag. Viele Leute in Europa haben nicht die geringste Idee vom Ausmaß der Gewalt, diesem Gewalt-Ambiente, in dem ich lebe.“

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Die junge Französin Josephine Bourgois

Auch in Deutschland, man weiß es, herrscht gegenüber der Realität nicht nur von Drittweltstaaten oftmals eine regelrechte Wahrnehmungssperre, der allgemeine Kenntnisstand nimmt rapide ab - Berlin, Frankfurt am Main werden häufig für genauso „gefährlich“ gehalten wie Rio.


Faktor Straflosigkeit

In Bezug auf Morde herrscht in Brasilien nahezu Straflosigkeit – nur etwa acht Prozent der Verbrechen werden aufgeklärt, was nicht heißt, daß man die Täter auch faßt, aburteilt. An den riesigen Slumperipherien der Großstädte liegt die Aufklärungsrate gar bei nur einem einzigen Prozent.

Auf dem amerikanischen Kontinent ist Brasilien nach den USA der zweitgrößte Waffenproduzent, ein großer Exporteur. 75 Prozent der bei Morden benutzten Schußwaffen kommen aus nationaler Produktion. Laut Viva-Rio-Mitarbeiterin Josephine Bourgois führt dies zu den Gründen des erbitterten Widerstands gegen ein Referendum durch die sogenannte „Bancada da Bala“, die Schußfraktion im Nationalkongreß. “Das sind Politiker, denen die Waffen-und Munitionsindustrie den Wahlkampf finanziert hat, da sind wirtschaftliche Interessen im Spiel. Die Schußfraktion ist sehr aktiv, hat Abstimmungen über das Referendum immer blockiert. Sie wollen Zeit gewinnen, das Referendum hinauszögern, inhaltlich abschwächen, am liebsten ganz verhindern.“

Alle paar Tage berichtet Brasiliens Presse, daß Granatwerfer aus Schweden, Maschinengewehre, Pistolen aus den USA und europäischen Ländern bei Banditenmilizen beschlagnahmt wurden. Viva Rio befaßt sich auch mit diesem Problem. “Die sogenannten Langwaffen aus den USA sind hier auf dem illegalen Waffenmarkt die Nummer Eins. Wir von Viva Rio haben deshalb im Gouverneurspalast bei einer Zeremonie beschlagnahmte ausländische Waffen den Diplomaten der betreffenden Länder übergeben – darunter die USA, Belgien, Österreich, Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien. Und wir haben diese Diplomaten gefragt – wie konnten diese Waffen aus euren Ländern hier in die Hände von Verbrechern gelangen. Unternehmen sie etwas dagegen!“

Klaus | 18.05.05 17:11 | Permalink

Kommentare

Hallo,

ich möchte euch erstmal ein dickes Lob für den Artikel ausprechen. Ich hab auch schon in Projekten in Rio gearbeitet und weiss von so manch einer wahnsinnigen Situation zu berichten. 2003 wurde eine Mitarbeiterin des Projektes, für welches auch ich gearbeitet habe, erschossen!In der Matinha! Ein ganz normales Schicksal und für die Menschen hier gänzlich unbegreiflich. Deswegen habe ich einen Verein gegründet, der vor Ort noch Kindergärten/ Einrichtungen sucht die wir dann finanziell unterstützen und der hier ganz konkrtete Infos gibt, an Schulen, Unis und auch in privaten Kreisen. Im Moment bin ich hier und in Afrika unterwegs, möchte aber möglichst schnell wieder nach Rio! Habt ihr Konatkt zu UERE?
Auch ein gutes Projekt, würde mich sehr über einen Kontakt freuen.

Abracos
Katrin

Verfasst von: Katrin Feldermann | 25.01.06 15:55

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