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Heißer Mai der brasilianischen Landlosenbewegung MST

von Klaus Hart, Rio de Janeiro

Landbesetzungen in ganz Brasilien - ein Marsch von zwölftausend Landlosen über 223 Kilometer ins Regierungsviertel von Brasilia, um den Forderungen nach einer echten Agrarreform, der gerechten Verteilung von Acker-und Weideland, Nachdruck zu verleihen. Denn eine solche Agrarreform ist immerhin in der Verfassung vorgesehen. Der MST bereitet der Lula-Regierung einen heißen Mai, fordert auch die Freilassung aller politischen Gefangenen.

An dem Marsch beteiligen sich die katholische Kirche, die Sozialbewegungen des Tropenlandes, Nichtregierungsorganisationen und Sympathisanten selbst aus Europa.

Eine echte, tiefgreifende Agrarreform zählte zu den wichtigsten Wahlversprechen des brasilianischen Staatschefs Lula – zumindest eine halbe Million von weit mehr Landlosenfamilien sollte Acker-und Weideland erhalten, um kleine und mittlere Agrarbetriebe aufbauen zu können. Über die Hälfte von Lulas vierjähriger Amtszeit ist vorbei, doch de facto wurde bislang nur an rund 64000 Familien Boden vergeben. Entsprechend unzufrieden ist nicht nur das Heer der Landlosen - auch die Kirche, die Sozialbewegungen protestieren. “Ausgerechnet unter der sogenannten progressiven Regierung von Lula kommt die Agrarreform nicht voran“, kritisiert Gilmar Mauro, einer der wichtigsten Führer der Landlosenbewegung MST noch während des Marsches auf Brasilia. „Unter Lula wird weniger Boden verteilt als bei seinem Amtsvorgänger Fernando Henrique Cardoso – und das provoziert natürlich Empörung und Zorn an unserer Basis, bei den Sozialbewegungen – im ganzen Volke, das so große Hoffnungen in Lulas Wahlsieg gesetzt hatte. Doch aus Hoffnung wurde Enttäuschung – deshalb haben wir den Marsch organisiert, wollen Druck auf die Regierung ausüben.“

Nicht nur wegen der Agrarreform, sondern auch für Änderungen der gesamten Wirtschafts-und Sozialpolitik.

„Lula privilegiert Finanzkapital“

Dem neuesten MST-Manifest zufolge liegen Brasiliens Realzinsen derzeit bei fast zwanzig Prozent jährlich – diese wachstumshemmende Taxe sollte auf 2,5 Prozent wie in den Nachbarländern Argentinien und Venezuela gesenkt werden. Für die Lula-Regierung habe die Rückzahlung der Außenschulden, die Privilegierung des Finanzkapitals Priorität, nicht aber der Sozialbereich. Die Mindestlöhne müßten laut MST von derzeit umgerechnet neunzig sofort auf 137 Euro erhöht werden, um die Lebensbedingungen der ärmsten Schichten zu verbessern, Einkommen zu verteilen. “Misere, Obdachlosigkeit und auch der Hunger sind weiterhin gravierende Probleme in Brasilien“, betont Gilmar Mauro im Interview. „Doch um einen Primärüberschuß zu erzielen, die Verpflichtungen gegenüber dem Finanzkapital einzuhalten, kürzt die Regierung sogar bei den Sozialausgaben, den wenigen unzureichenden Sozialprogrammen. Lula erfüllt keineswegs sein Wahlversprechen, zehn Millionen Arbeitsplätze zu schaffen, Industrie und Landwirtschaft zu fördern. Die Wirtschaftspolitik der Regierung halten wir daher für pervers.“

Doch ein Zweig der Landwirtschaft, das hochtechnisierte, exportorientierte Agrobusiness, wird indessen bevorzugt, erhält als wichtiger Devisenbringer jegliche Förderung, wird in den großen Medien als modern und zukunftsträchtig hingestellt. Jene kleinen und mittleren Familienbetriebe, die der MST favorisiere, seien dagegen der blanke Rückschritt. Gilmar Mauro macht eine andere Rechnung auf, weist auf die großen Umweltprobleme, darunter die massive Urwaldvernichtung durch die Exportlandwirtschaft. “Das Agrobusiness mit seinen riesigen Soja-und Fleischausfuhren stützt Lulas Wirtschaftspolitik, weil es für die benötigten hohen Außenhandelsüberschüsse sorgt. Agrarexporteure, die ohnehin große Gewinne machen, werden auch noch von Steuern befreit. Doch kleine und mittlere Agrarbetriebe müssen diese Steuern zahlen – die ganze brasilianische Gesellschaft subventioniert im Grunde das Agrobusiness. Siebzig Prozent unserer Nahrungsmittel kommen jedoch aus den Familienbetrieben – das Agrobusiness produziert nur einen Bruchteil davon, stellt die wenigsten Arbeitsplätze bereit. Während die vielkritisierten Familienbetriebe die allermeisten Leute beschäftigen. Ohne Agrarreform besiegt daher Brasilien weder Massenarbeitslosigkeit noch Hunger und Misere. Gravierend ist die derzeitige Kapitalkonzentration, vier große Multis kontrollieren 80 Prozent der Sojaexporte. Doch gleichzeitig Misere, Arbeitslosigkeit in den Landregionen.“

„Justiz noch reaktionärer als die Exekutive“

Der Marsch auf Brasilia richtete sich auch gegen die weiter existierende Sklavenarbeit, die Morde an Landlosen, deren Führern – gefordert wurde, sämtliche politischen Gefangenen freizulassen. “Beklagenswert, daß auch diese Probleme existieren. Die Justiz Brasiliens ist reaktionärer als die Exekutive. Der Mord an der nordamerikanischen Missionarin Dorothy Stang, die mit uns zusammenarbeitete, fand weltweit Aufmerksamkeit, weit mehr als so viele andere Gewalttaten. Man ist schnell dabei, Landlose zu verhaften. Derzeit sind achtzehn unserer Aktivisten im Gefängnis, weil sie für die Agrarreform kämpften.“

Und – gibt es schon internationale Solidaritätsaktionen zugunsten der politischen Gefangenen Brasiliens? Gilmar Mauro räumt ein, daß davon noch keine Rede sein kann. „Bis jetzt spüren wir noch nichts – daher appellieren wir an die Menschen in der Ersten Welt, auch in Deutschland, uns zu unterstützen, damit die politischen Häftlinge freikommen.“

Klaus | 18.05.05 17:04 | Permalink