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Freiwillig eingesperrt - Privilegiertenghettos als Gesellschaftsmodell

angehängt:: Kritik am Beitrag durch den in München lebenden brasilianíschen Kabarettisten und Schriftsteller Zè do Rock

--von Klaus Hart, Rio de Janeiro--
Übermannshohe Mauern, obendrauf zusätzlich Hochspannungs-Drahtverhaue, Überwachungskameras, mißtrauisch dreinblickende Privatpolizei mit Walki-Talkies am pompösen Tor - dahinter Villen oder luxuriöse Penthouse-Blicks, viel Grün, Swimmingpools, Tennisplätze: Brasiliens Betuchte schotten sich immer perfekter gegen Misere und ausufernde Kriminalität ab - das Beispiel dürfte bald auch in Deutschland Schule machen. Fährt der Dominikaner Frei Betto durch die besseren Viertel der 18-Millionen-Stadt Sao Paulo, kommt er immer wieder an solchen "Condominios fechados", geschlossenen Wohnanlagen, vorbei, nennt sie ironisch "Luxusgefängnisse". Über dreihundert gibt es bereits im größten deutschen Wirtschaftsstandort außerhalb Deutschlands, die Nachfrage ist enorm, auf den Wartelisten stehen auch deutsche Manager. Kein Tag ohne ganzseitige Farbanzeigen in den großen Blättern:"Komm und lebe in Freiheit, Sicherheit, Grün!" - ob im neuen "Swiss Park", im "Liberty Village", der "Ville Versailles".

Familienfreundlichkeit ist ein wichtiges Werbeargument:“Hier werden Deine Kinder wie VIPs behandelt!“. Zehn Megaprojekte, jedes mit durchschnittlich 1300 Villen-Geländen, sind brasilienweit im Bau. Vor sechs Jahren lebte nur rund eine halbe Million in solchen Privilegiertenghettos, heute etwa dreimal soviel. Nimmt man die abgesperrten Villen-Privatstraßen der besseren Viertel hinzu kommt man brasilienweit sogar auf über sechs Millionen. Pionier-„Ghetto“ Sao Paulos war Alphaville, gegründet vor fast dreißig Jahren – heute eine Stadt in der Stadt mit rund vierzigtausend Bewohnern, einziges Condominio Brasiliens in dieser Größenordnung. Zwischen Lateinamerikas Wallstreet, der Avenida Paulista in Sao Paulos City, und Alphaville pendeln ständig komfortable Sonderbusse.
Alles nicht nur für den in Deutschland durch Bücher, soziologische Vorträge bekannten Frei Betto ein Absurdum:“Die Stadt sollte Ort des Zusammentreffens, Austauschs, der Solidarität sein – wurde stattdessen zur Geisel der Banditengewalt – mit Condominios provozierender Opulenz, eingekesselt von Misere. Wir sind Fußball-Weltmeister – aber unglücklichweise auch Weltmeister in sozialer Ungleichheit.“ Vierundsechzig Prozent des Volkseinkommens, so der frühere enge Berater von Staatschef Luis Inacio Lula da Silva, seien in der Hand von nur zehn Prozent der Brasilianer, also von nur siebzehn Millionen. Ein Bauarbeiter, der solche“Luxusgefängnisse“ miterrichtet, verdient nur umgerechnet zwischen siebzig Cents und zwei Euro die Stunde, wohnt deshalb an der ausgedehnten Slumperipherie. „Anstatt die Ursachen von Misere, Armut und Massenarbeitslosigkeit zu beseitigen, flieht Lateinamerikas Elite vor den Folgen eigener Politik, zieht es vor, den eigenen Reichtum herauszustellen, baut deshalb diese Condominios fechados, Inseln der Phantasie – voller Angst vor denen auf der Straße, vor dem öffentlichen Raum.“ Denn dort schlägt dieser Elite nur zu oft blanker Haß der in Jahrhunderten durch Elend Brutalisierten entgegen, wie Brasiliens größte Qualitätszeitung, die „Folha de Sao Paulo, kommentiert.
Die Gewaltbereitschaft vor allem der perspektivlosen Unterschichtsjugend ist so groß, daß etwa in Sao Paulo selbst Großdiskotheken und Samba-Ballhäuser nachts vorsorglich von schwerbewaffneter Militärpolizei und Munizipalgarde umstellt werden. Bis auf weiteres in Deutschland noch unvorstellbar, Brasilien gilt weiterhin nur zu vielen stumpfen Deutschen als Traumland, Kenntnisse über andere Länder werden immer geringer. Doch auch Deutschlands Eliten und ihre Politmarionetten kopieren immer mehr Details aus dem neoliberalen Experimentierlaboratorium Brasilien.
Man muß sich nur einige Basisfakten vor Augen führen: In Südamerikas reichster Stadt genießen gemäß einer neuen Präfekturstudie gerade 3,46 Prozent der Bevölkerung einen europäischen Sozialstandard und nur zehn Prozent den durchschnittlich asiatischen – doch über die Hälfte lebt wie in Afrika, fast ein Drittel wie in Indien. Etwa alle acht Tage entsteht ein neuer Slum, obwohl allein in der City ganze Wohnblocks, mit über vierzigtausend meist gutausgestatteten Appartements, teils seit sieben Jahren leerstehen. Besetzer werden gnadenlos von der Polizei herausgeprügelt.
Die größtenteils in Aachen aufgewachsene Afghanin Maryam Alekozai machte in einem Slum Sao Paulos, der jährlich über fünfhundert Mordtote zählt, ihr soziales Jahr, zeigte sich über die Sozialkontraste schockiert:“Tagsüber, nachts fallen Schüsse, immer wieder verlieren Kinder ihre Väter. Das ist hier gar nicht so anders wie damals in Afghanistan, als ich klein war. Der Unterschied zwischen einem fünfjährigen Mädchen hier und in Deutschland ist so groß! In den Augen der brasilianischen Kinder sehe ich Haß, ganz tiefen Haß – und Wut. Man blickt nicht in Kinderaugen, sondern eigentlich in Augen von Erwachsenen, die voller Aggressionen sind. Gewalt und Ungerechtigkeit, die in diesem Land herrschen, spiegeln sich in deren Augen – unübersehbar!“ In Sichtweite glitzernder Hightech-Geschäftshäuser und Condominios sind neofeudale Banditenmilizen, die Maschinenpistolen der NATO-Armeen tragen, unumschränkte Herrscher, terrorisieren Bewohner, verhängen Ausgangssperren – manche minderjährige Kindersoldaten Sao Paulos killten bereits bis zu vierzig Menschen. Immer wieder werden auch in Rio de Janeiro Slumbewohner, die sich dem Normendiktat widersetzen, zur Abschreckung lebendig verbrannt. Hätte Deutschland eine Gewaltrate wie Brasilien, würden dort jährlich nicht über tausend, sondern weit über zwanzigtausend Menschen umgebracht, befänden sich mehr als zehn Millionen illegaler Waffen fast jeden Kalibers in Privat-bzw. Gangsterhand.
--granatensichere Bunker im Penthouse –
Der neueste Hit – Spezialbunker in der Villa, im Luxusappartement, sogar granatensicher. Falls doch einmal hochspezialisierte Einbrecherbanden, Geiselnehmer die „erste Verteidigungslinie“ des Condominio fechado durchbrechen sollten, hätte man hier noch eine Rückzugsmöglichkeit. Kostenpunkt – ab umgerechnet 150000 Euro aufwärts. Damit es möglichst nicht soweit kommt, haben manche Condominios mehr als 180 Überwachungskameras in Korridoren, Treppenhäusern, Liften, Garagen, Sportanlagen, am Schwimmbad – Big Brother is watching you. Das Verrückteste - neuerdings haben vielerorts auch die Bewohner per Internet Zugang zum Monitor der Sicherheitsleute, können damit beobachten, was Nachbarn, Gäste gerade im Aufzug oder anderswo tun und treiben.
Lateinamerikas Betuchten geht es materiell prächtig – trotz Argentinienkrise und Rezession wie in Brasilien. Die Zahl der Millionäre wuchs seit 1997 um die Hälfte, 2001 gar um zwölf Prozent – im Rest der Welt nur um drei. Brasiliens Vermögende bedanken sich beim sozialdemokratischen Staatschef und FU-Berlin-Ehrendoktor Fernando Henrique Cardoso – seine neoliberale Politik war für sie in dessen zweiter, bis Ende 2002 reichender Amtszeit besonders segensreich, förderte die Einkommenskonzentration enorm. Unter den ersten zehn Milliardären des Erdballs sind auch zwei Brasilianer, leben wie die meisten Reichen in Sao Paulo, haben allerdings wie die anderen Begüterten an den traditionellen Elitedistrikten nicht mehr viel Freude. Entführungen gleich in Serie schlagen aufs Gemüt; auch fast alle ausländischen Manager, darunter die deutschen, fahren nur in gepanzerten Limousinen. Und nur in Indien gibt es mehr Arbeitslose als in Brasilien, Misere und Kriminalität nehmen unaufhörlich zu; pro Jahr werden selbst nach den geschönten offiziellen Daten in der immerhin zwölftgrößten Wirtschaftsnation über vierzigtausend Menschen ermordet. Da auch unter dem neuen rechtssozialdemokratischen Staatschef Lula Slumwachstum und Arbeitslosigkeit bisherige Rekorde brechen, dauert die Flucht in die Condominios weiter an, freuen sich Baufirmen und Architektenbüros über ein regelrechtes „Boom-Fieber“.
Aber nehmen wir den Jugendlichen Alvaro, aus guter Anwaltsfamilie, der in Rio de Janeiros Strandviertel Barra da Tijuca realitätsfremd fast ständig hinter Gittern lebt – in einem weitläufigen Bilderbuch-Kondominium der Mittel-und Oberschicht mit allem Drum und Dran. Swimmingpools, Spiel-und Tennisplätze, Golfwiesen und etwas Park, ferner eine Bäckerei, eine Apotheke, ein Fitneß-Center und vor allem Sicherheit im Übermaß. Denn der ganze Condomínio ist von hohen Gitterstäben umgeben und wird von einer bewaffneten Spezialgarde überwacht – ein Berufsstand, dreimal so kopfstark wie die brasilianischen Streitkräfte. Auch Alvaros Familie hat natürlich mehrere Hausangestellte – am stabilen Portal mit den TV-Kameras werden sie wie andere Ortsfremde gefilzt, die Gutbetuchten der immerhin achtgrößten Wirtschaftsnation lassen sich ihre Sicherheit jährlich nicht weniger als 28 Milliarden Dollar kosten.
Das Kontroll-Ritual an der Einfahrt erinnert an das von Militär-oder Geheimdienst-Objekten: Will ein Wagen hinein, wird er zunächst mißtrauisch beäugt, passiert dann die erste übermannshohe Sperre, die sich hinter ihm sofort wieder schließt. Doch die zweite Sperre wird erst nach eingehender Kontrolle des Wagens und seiner Insassen geöffnet.
Ein Fahrer bringt den jungen Alvaro morgens zur Privatschule, nachmittags zurück. Für ihn besteht kaum noch die Notwendigkeit, den Condomínio, gelegentlich „goldener Käfig“ genannt, zu verlassen, andere Viertel oder gar den nahen Atlantikstrand zu frequentieren. In Barra da Tijuca, einer Miami-Kopie für Neureiche und Aufsteiger, zählt Alvaro zu jenen Kids, die von Rest-Rio weit weniger kennen als der oberflächlichste Copacabana-Tourist. Das berühmte Opernhaus, Klöster und Kirchen der Altstadt haben sie bestenfalls auf Prospektfotos gesehen. Besorgte bildungsbeflissene Eltern organisieren deshalb regelmäßig Bustouren, die den Sightseeing-Trips für Ausländer aufs Haar gleichen – auch Alvaro mußte einmal mit. Sein bester Freund Patrick wohnt im selben Condominio, der Vater, ein Unternehmer, bedauert:“Mit meinen Geschwistern habe ich früher noch vor dem Elternhaus auf der Straße Fußball gespielt, sind wir mit dem Rad einfach so rumgefahren – für meine Kinder wäre das alles heute dort völlig unmöglich, wegen der Kidnapper und Straßenräuber viel zu gefährlich. Nur hier, im Condominio, brauche ich mir um sie keinerlei Sorgen zu machen.“
Schon absurd – in Barra da Tijuca werden die neuesten Wohnanlagen mit immer größeren Freizeitparks, Pools, Spaßbädern bestückt – als läge einer der schönsten, saubersten Strände der Welt nicht wenige Fußminuten entfernt. „Das ist der neueste Trend beim Condominio-Bau“, erläutert ein Chefarchitekt, „keineswegs zusätzlicher Luxus, sondern eine Notwendigkeit." Denn die Zehn-Millionen-Stadt Rio sei nun einmal nicht sicher. Für Sao Paulo und die anderen Millionenstädte gilt das gleiche – und solange die Prominentenghettos noch nicht über Privatschulen verfügen, wird für Alvaros Altersgenossen an den College-Toren täglich ein Sicherheits-Zirkus veranstaltet, der Mitteleuropäern den Mund offenstehen läßt: Damit nach Schulschluß alle Privilegiertenkids wohlbehütet wieder zu ihren Condominios und Villen gelangen, wird beispielsweise am „Colègio Dante Alighieri“ Sao Paulos das halbe Viertel durch Militärpolizisten und Body-Guards abgeriegelt, sperrt die Verkehrspolizei sogar Straßen ab, damit die Panzerlimousinen zügig davonbrausen können. Auch diese Kids sagen stets, die Stadt nur wenig zu kennen.
Hat diese sogenannte Condominio-Generation ein bestimmtes Profil? Soziologen, Anthropologen haben sich der Frage bereits ausführlich gewidmet, Fallstudien angefertigt. Denn so nobel, kultiviert, geordnet, zvilisiert, wie manche denken, geht es in den Elite-Enklaven keineswegs zu – vieles erinnert vielmehr an Gepflogenheiten aus der Kolonialzeit. In einem Luxus-Condominio bei Sao Paulo bespielsweise wurden sogar schon Elf-und Zwölfjährige beim Haschischrauchen angetroffen, den Eltern offenbar egal. Gar nicht wenige erlauben zudem ihren Kindern, im Condominio mit dem schweren Wagen der Familie heraumzubrausen, dort sogar Rennen zu veranstalten. Natürlich versuchten die Wachleute einzugreifen, das Treiben unter Hinweis auf die Condominio-Ordnung zu beenden. Doch da griffen sofort die betuchten Eltern ein, verteidigten ihre Kids, verbaten sich solche Verbote. Und die schlechtbezahlten Wachleute ignorierten künftig alles, aus Angst, die Stelle zu verlieren. Gewöhnlich haben weder Militär-noch Zivilpolizei Zutritt zu den Condominios. Als ein besorgter Vater den ausufernden Konsum auch harter Drogen beenden wollte, deshalb eine Gruppe von Polizeibeamten hineinließ, wurde er von einer Elternkommission beinahe gelyncht: „Im Condominio bestimmen nur wir.“ Sogar Diebstähle werden in Brasiliens Reichenghettos vertuscht. Auch andere Straftaten, die außerhalb der Condominio-Mauern natürlich ein Fall für Justiz und Polizei wären, werden vergeben. Deshalb betont die angesehene Psychoanalytikerin Maria Rita Kehl, daß die schlimmsten Beispiele von Verantwortungslosigkeit und fehlender Bildung stets die nationale Elite liefere, seit jeher daran gewöhnt, mit einer Serie illegaler Praktiken verschiedenster Schwere zu leben. „Väter bieten dem Verkehrspolizisten ein Bestechungsgeld an, damit er von einer Bestrafung läßt, fordern in der Privatschule die Entlassung jenes Lehrers, der aus objektiven Gründen den Sohn nicht versetzte.“ Den Kindern werde von klein an gezeigt, daß sich mit Geld aber wirklich alles kaufen, erkaufen lasse. Und daß selbst aus Luxuskarossen immer wieder Flaschen, Büchsen, anderer Müll auf die Straße geworfen werden, beobachtet jeder einmal in Brasilien – dieser Teil der Stadt, so Maria Rita Kehl, sei schließlich nicht ihrer, sondern jener „der anderen“. Zynismus und illegale Praktiken der Elite korrumpierten, bildeten für das Verbrechen sehr effizient einen beträchtlichen Teil der jungen Generation heran, schlußfolgert die Therapeutin. Elitekids, jene zukünftigen neoliberalen Entscheidungsträger der Mittel-und Oberschicht, werden in repräsentativen Studien als antisozial, superindividualistisch, apolitisch sowie zu Autoritarismus und Gewalt neigend beschrieben. Fast 98 Prozent nennen als allerersten Lebensinhalt einen guten Posten und ein hohes Gehalt, um absolut desinteressiert am Zustand und der Zukunft des Landes ein sorgenfreies Leben führen zu können. Ein Gefühl von Verantwortlichkeit für die soziale Misere, die kraß ungerechte Einkommensverteilung existiere nicht. Auffällig zudem, daß unter diesem Jugend-Segment der Einfluß der nordamerikanischen Kultur am stärksten sei.
Aber ist es wirklich nur das immer wieder herausgestellte Sicherheitsargument, das Betuchte in die Condominio-Ghettos zieht? Die Soziologin Ana Roberts verneint dies nach ausgedehnten Untersuchungen. Am meisten habe sie überrascht, daß es den Bewohnern sehr wesentlich um Status gehe. Wer im Condominio lebe, betone damit vor aller Welt, „ich bin anders“, gehöre zu den Privilegierten. Ebenso werde immer die „bessere Bildung und Erziehung der Kinder“ als Wohnargument betont. Auch da sind laut Ana Roberts große Zweifel angebracht, weil innerhalb des Condominios nur zu oft den Heranwachsenden kaum Grenzen gesetzt würden. Sie nannte den Fall einer Mutter, die ihr Kind zwar seit sage und schreibe drei Tagen überhaupt nicht gesehen habe, dennoch völlig unbesorgt sei – in der Gewißheit, daß es irgendwo im Condominio stecke.
--USA fürchten „Brazilianization“--
Michel Lind, Buchautor, neokonservativer Herausgeber der US-Zeitschrift „The New Republic“, hat diese seit Jahrzehnten existierenden Sozialstrukturen nicht nur in Rio, sondern auch in São Paulo ausgiebig studiert, im Buch „The Next American Nation“ eine ernste Warnung an seine Landsleute gerichtet:“ Wir befinden uns in einem besorgniserregenden Prozeß der Brasilianisierung, hin zu einem tyrannischen System immer ungleicherer sozialer Klassen.“ Für Lind bedeutet Brazilianization, “daß sich die dominierende weiße amerikanische Klasse innerhalb der eigenen Nation noch weiter in eine Art Barrikadennation zurückzieht – in eine Welt abgeschirmter Viertel mit Privatschulen, Privatpolizei, privater Gesundheitsbetreuung und selbst Privatstraßen.“ Nicht anders als eine lateinamerikanische Oligarchie könnten die reichen und mit wohlfeilen Kontakten ausgestatteten Mitglieder der herrschenden Oberschicht prosperieren - draußen das dekadente Amerika mit Ungleichheit und Kriminalitätsraten ähnlich Brasilien, all die Miserablen, Bettler, Straßenkinder. Und ebenso wie in Brasilien sei dann die Mehrheit der Schwarzen und Mischlinge in der Unterschicht anzutreffen – und zwar für immer.
Victor Bulmer-Thomas, Direktor des Zentrums für lateinamerikanische Studien an der Londoner Universität, urteilt:“Ebenso wie die alte französische Aristokratie, fühlen sich die Eliten Lateinamerikas nur dann erst richtig reich, wenn sie von Armen umgeben sind.“ Senator Cristovam Buarque geht sogar soweit, die Eliteangehörigen nicht zu den Staatsbürgern zu zählen:“Die Ungleichheit zwischen Reichen und Armen, ob in Einkommen, Bildung, Wohnniveau, Transport, Freizeitverhalten, Ernährung und Umgangsformen, ist so gewaltig, daß die Elite im Grunde nicht mit am gleichen Tisch sitzt, nicht über die gleichen Themen spricht, nicht jenes Gefühl hat, zum selben Volk zu gehören...Im Brasilien des 21. Jahrhunderts sieht sich die Elite so entfernt vom Volke wie im 19.Jahrhundert.“
Kirchliche Soziologen wie Eva Turin aus Sao Paulo machen bei den vielen betuchten Deutschen der Megametropole ähnliche Haltungen aus:“Sie benehmen sich wie die Elite der Elite, noch über den reichsten Brasilianern, mischen sich nicht mit uns, solidarisieren sich nicht.“
--„Sklavenhaltermentalität“—
Brasiliens katholische Kirche hat die Abschottungs-und Ausgrenzungspolitik der Geld-und Politikerelite stets hart kritisiert – deutliche Worte kamen vor allem von dem deutschstämmigen Kardinal Aloisio Lorscheider und natürlich Kardinal Evaristo Arns in Sao Paulo, der die „Sklavenhaltermentalität“ immer noch tief verwurzelt sieht. Schwarze, Mulatten sind in Brasilien die typischen Slumbewohner und werden mittels eines verdeckten Systems der Apartheid am sozialen Aufstieg gehindert. Der zu PR-Zwecken noch von jeder brasilianischen Regierung um die Welt geschickte Multimillionär, Ex-Fußballspieler und Ex-Sportminister Pelè ist jene Ausnahme, die die Regel bestätigt.
Die Brasilianisierungsdebatte wurde auch durch Roberto da Matta, einen der bekanntesten, derzeit in den USA lehrenden brasilianischen Anthropologen bereichert. Michel Lind habe die Dinge korrekt charakterisiert, die hierarchische Gesellschaftsstruktur genau beschrieben:“Die Elite hat immer Paris, London und New York viel mehr geliebt; im Grunde genommen heißt, zur Brasiliens Elite zu gehören, Ausländer im eigenen Land zu sein.“ Als schwerwiegendes Problem sieht Da Matta, daß die Oberschicht Brasilien nicht mag, „und was man nicht gern hat, kann man nicht kultivieren, pflegen.“
Seine Kollegin Teresa Caldeira hat über Condominios fechados sogar ein vielbeachtetetes Buch, „Stadt der Mauern“, geschrieben. Sie nennt es verhängnisvoll, daß sich die Elite einmauere, aus dem öffentlichen Raum der Städte zurückziehe, anstatt diesen zu verbessern.“Die Begüterten bewegen sich in gepanzerten Limousinen oder Helikoptern, mit Leibwächtern fort, kaufen in gutbewachten Shopping Centers ein, arbeiten in abgeschirmten Bürokomplexen, wohnen in den Condominios fechados.“
Der Vorgänger von Staatschef Luis Inacio Lula da Silva, der heutige UNO-Berater und FU-Berlin-Ehrendoktor Fernando Henrique Cardoso, war gerne in den Condominios, mied die Slums, verdrängte die dortigen Zustände, den Banditenterror. Für Marcelo Rubens Paiva, Kolumnist der auflagenstärksten Qualitätszeitung „Folha de Sao Paulo“, und Bestseller-Autor, ein besonders kurioser Sachverhalt: Der neoliberale Interessenvertreter der Oligarchien, Eliten war in den 50ern eingeschriebenes KP-Mitglied, ist gleichzeitig Großgrundbesitzer und Soziologe, der sich immer noch gelegentlich rühmt, einst als Dozent in Frankreich auch Daniel Cohn-Bendit unterrichtet zu haben. Für Paiva führte Cardoso eine Mitte-Rechts-Regierung aus Intellektuellen und Akademikern – auf dem Throne sitzend, schauten sie auf Brasilien aus der Distanz, seien der Ersten Welt indessen nahe.“ Bedenklich, daß Cardoso-Nachfolger Lula einen sehr ähnlichen neoliberalen Kurs verfolgt, sich zum Vize den Milliardär und Großunternehmer Josè Alencar erwählte, der zu einer rechten Sektenpartei gehört. Vanilda Paiva, Schriftstellerin und Soziologie-Doktorin der Uni Frankfurt, schlußfolgert nicht zufällig, daß sich in der neoliberalen brasilianischen Gesellschaft heute „Ultraarchaisches mit Ultramodernem mischt.“
Unterdessen haben Sozialforscher und Demographen nachgezählt – über vier Millionen Nordamerikaner wohnen bereits in Condominios fechados a la Rio de Janeiro und Sao Paulo. In den USA werden die größten Fortschritte aus Kalifornien gemeldet – Brasilianization-Experte Dale Maharidge zeichnet es im neuen Buch „The Coming White Minority“ ausführlich nach: Weiße konzentrieren sich zunehmend in städtischen „Inseln“ – eingekreist von Minoritäten in regelrechten Enklaven und Ethno-Ghettos. Stabile Gitterstäbe vor sämtlichen Fenstern parterre und im ersten Stock – auch das wird in vielen nordamerikanischen Städten zunehmend normaler. Condominios fechados trifft man zunehmend häufiger in Johannesburg und Lagos - doch auch in anderen afrikanischen Millionenstädten schreitet diese Art der Ghettoisierung munter fort.

Der bekannte brasilianische Schriftsteller und Kabarettist Zè do Rock hat auf den obigen Beitrag in einer ganzseitigen Replik der Zeitschrift ila aus Bonn auf interessante, aufschlußreiche Weise reagiert. Einige von weit mehr Merkwürdigkeiten hat der Beitragsautor hervorgehoben.

Leserbrief

Betr.: „Freiwillig eingesperrt – Privilegiertenghettos als Gesellschaftsmodell“ von Klaus Hart in ila 288, September 2005

De Süddeutsche Zeitung berichtete vor kurzem, dass in Sao Paulo 2 millionen straßenkinda leben. Das sind mehr straßenkinda als die stadt kinda hat. Laut der allgemein anerkannten Rosenberg-Untersuchung gibt es 900 obdachlose Gassenkinder in der Stadt und 4500 Kinder, die ihr lebensuntahalt hauptsächlich auf der straßa verdienen. Das ist schlimm genug, und dass manche von ihnen umgebracht werden, ist noch schlimma. Muss man dann aba noch 2 millionen straßenkinda dazu dichten, damit der Artikel die Leute wirklich entrüstet?
Der Klaus Hart hat auch mal wieda hart zugeschlagen. Kaine frage, es ist kein idealer zustand, in ainem condominio zu leben. Aba ob man in a condominio wohnt oda hinta 3 meta hohen mauan mit glassherben obendrauf, spielt keine große Rolle mehr. Áigentlich ist ain condominio netta, wail die kinda tatsächlich vor der tür spielen cönnen, statt im wohnzimmer aingesperrt.
Aber darum geht’s ja nicht. Der Klaus maint, 3,46% der brasiliana haben einen europishen sozialstandard. Anmerkung des Beitragsautors: Was Zè do Rock da „zitiert“, steht gar nicht im Text. Da heißt es, daß 3,46 Prozent der Bewohner Sao Paulos, und eben nicht der brasiliana einen europäischen Sozialstandard genießen. Klaus maint garnichts, sondern zitiert lediglich aus einer Studie, die unter Federführung des damaligen Staatssekretärs für Arbeit der Sao-Paulo-Präfektur, Marcio Pochmann, erarbeitet wurde. Pochmann zählt zu den renommiertesten Wirtschafts-und Sozialwissenschaftlern Brasiliens und publiziert regelmäßig in den Qualitätszeitungen des Landes.
Er sagt auch, dass 6 millionen paulistanos in condominios oder in geschlossenen stradan wohnen, 1/3 da populaçiãon. Also 33% nennt er die privilegierten, aber wenn es darum geht, di stadt arm zu machen, dann sin es nur noh 3,46%.
Anmerkung des Beitragsautors: Was Zè do Rock da kritisiert, steht wiederum interessanterweise gar nicht im Text, ist reine Erfindung. Daher zur Richtigstellung das Originalzitat: Nimmt man die abgesperrten Villen-Privatstraßen der besseren Viertel hinzu, kommt man brasilienweit sogar auf über sechs Millionen.
Obwohl mindestens die Hälfte der europäer in Ländern lebt, die ain nidrigeres HDI (human development index) haben denn ganz Brasilien (ich rede nicht einmal vom relativ reichen Sao Paulo) – Europa ist eben nicht nur Deutshland und Francreih. Die unglaichheit in Europa shrait zum himmel, man bedenke nur, dass das procopf-áincommen da Norwega 80 mal größa ist als das da Albania.
Das HDI berücksichtigt auch sociale factoren wi lebenserwartung, analfabetismus, usw: es gibt 19 europeishe staten mit ainem höheren HDI als Sao Paulo und 21 mit ainem nidrigeren. Un wir reden hir nicht fon den 6 millionen raichen saopaulis
Anmerkung des Beitragsautors: Wiederholung einer falschen Behauptung, siehe oben
(33 v.H. oder lass es auch 30 v.H. sein) die en condominios residiern, sondan da general populaçiãon.
Spazir mal a stunde lang um 5 uhr morgens in Delhi, und du wirst mer obdachlose sen, als du dain ganzes leben in Brasilien geseen hast. Aussa natürli du lebst in Brasilien unta obdach- un landlosen. Aber das tun im üblichen Falle nicht einmal Elendsviertelbewohner.
Un dann sollen die máisten wie en África lêben. Nach dem census des IBGE (Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística) wonen 2 millionen paulistas in slums. Laut IBGE ferdint 1/3 dafon weniga als zwai mindestlöne und 2/3 mer als 2 mindestlöne. A mindestlon betragt momentan 260 real, mit dem namentlichen Wert von 100 Euro und der Erwerbskraft von ca. 260 Euro. Ich bin durch quase 40 africanis lenda geraist e bin in Áfrika Negra sélten leuten begêgnet, die mer als 10 euro im monat ferdínen. Dabai ferglaichen wir si hir mid dem ermsten finftel da paulistanishen population.
Groß-Sao Paulo hat so vil autos wie ganz Schwarzafrika mit seinen 550 millionen einwonern zusammen, wenn man Südafrika nicht mitzeelt.
I kann nur sagen: auf meiner Namensliste stehen 15 Freunde und Bekannte, die en Sao Paulo wonen, aina de ínen hat cain carre, all andren han ains. Es sind techniker, injenieure, sekreterinnen, Werbungszeichner, leute die en büros de 9 bis 18 ura árbaiten, etc – cain ainzig industrielli o mega-groundbesitzi under inen, das sind leute die so leben wie ein durchschnittlicher deutscher, tailwaise auch in condominios – der untashid ist nur, dass sie mehr Sonne haben und weniger geschützt sind, egal wi ser se sich protegeren lássen.
Folgt man dísen fergláichen de Klaus Hart mit ándren continênten,
Anmerkung des Beitragsautors: Wie bereits durch Zitat belegt, handelt es sich nicht um subjektive Vergleiche des Autors, sondern um zitierte Angaben aus einer amtlichen Studie renommierter brasilianischer Experten
e calculert man wifil ainwona in jedem continent auf a carr commen, müsste dise winzige minderheit mit europäischem standard 6 autos in der garage ham – auch jedes bebi braucht 6 autos. Ain haushalt mit eltan und 3 kindan müsste 30 autos ham.
Es gebt im menshlichen berai de german-bashing un im ökonomishen berai de brazil-bashing. Ich bin mit beiden nicht einverstanden. Der artikel besagt auch, dass nur India mer árbaitslose hat. Dabai hat China fast 10 mal plus werklose dann Brasilien (7,0% gegen brasilianische 7,7%, aba ma bedenke dass China fast 10 mal mer menshen hat – der Spiegel-Almanach ist fo 2001, aber dass sich die Zahl der Arbeitslosen in Fussballland in 4 Jahren verzehnfacht hat, ist doch zimle unwarschainle). Fon den 4 lendam, ki plus ainwona dan Brasil ha (China, India, USA un Indonesia), haben nur die Vereinigten Länder etwas weniger Arbeitslose. Gut, im relativem zalem sten die USA bessa da, dafür stet Brasil im relativem zalem bessa da als Alemanha oda Francra. And es ging ja da um el absolute numeron. In absoluten zalen war Brasil übrigens bis ende des letzten jarhunderts die achtgrößte wirtschaftsmacht, dann kam der real-sturz und Brasil ist tatsechlich in der tabelle gefallen. Aba nach dem CIA World Factbook ist es imma noh de nr. 9 nach „purchasing power parity“, also auf die wirkliche Erwerbskraft bezogen.
Claro, wenn ma das salário aines brasileiro árbaitas mit dem aines alemão árbaitas compara, la brasili performa fil shlechta. Wenn du das sagen willst, na bitte. Aba Brasil ferdin es nit, am unteren Ende der Liste gestellt zu werden, vail es fil vaita do únterem ende entfernt is als do ôberem. 0,61 HDI-pontos separam das raichste land Noruega de Sao Paulo, 1,18 pointos separa Sao paulo de Brazil, aber 7,42 punkte trennen Brasil von Somalia.

Es gibt genygend missstende in Sao Paulo und in Brasil, ma muss si nit noh ho zen rechnen.
Anmerkung des Beitragsautors: Wo im Originaltext geschieht das denn?
Fussballland stünde viel besser da wenn es nicht diesen Ruf eines elendigen Landes hätte. Varum vird unferglaichle mer im China als im Brasil investido? Vail nich tegli um report ueba die armut im China in der zaitum stet. No chini e no chiniano governu va tele na wold hau povre der land is – wie die brasilianer es oft tun (und auslenda umso mer). Obwol es in China fil mer armut geb, im absolutos ou relativos números. E ver vird chon uma televisão do Brasil aquirir, wen ali „nou“ hau povre e subdevelopet la land is?

zé do rock

Ze do Rock ist Brasilianer und lebt als Schriftsteller und Kabarettist in München. Weil er die offzielle deutsche Rechtschreibung und Grammatik als absolut konfus und unlogisch empfindet, macht er in seinen Büchern verschiedene Vorschläge zur Vereinfachung der deutschen Sprache. Die hat er auch in dem vorliegenden Leserbrief verwendet.


Klaus | 05.04.05 04:47 | Permalink