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Brasiliens Gefängnis-Horror: Mittelalterliche Torturen, Rebellionen, Massenausbrüche

"Gesellschaft toleriert Folter"
--von Klaus Hart, Rio de Janeiro--
Seit Jahresbeginn erlebt Lateinamerikas größte bürgerliche Demokratie erneut eine Welle blutiger Gefängnisaufstände. Verrohte Insassen massakrieren, köpfen verhaßte Mithäftlinge und Wärter oder werfen sie lebendig vom Anstaltsdach in die betonierten Innenhöfe. Das Fernsehen überträgt alles live. Massenausbrüche von hunderten Insassen versetzen Bewohner ganzer Städte in Angst und Schrecken. Banditenmilizen stürmen immer wieder Haftanstalten und befreien sämtliche Gefangenen. Ausgerechnet im reichsten und wirtschaftlich führenden Teilstaat Sao Paulo, mit über tausend deutschen Unternehmen, ist derzeit die Lage am gravierendsten - seit Januar kam es allein in den Jugendhaftanstalten zu über vierzig Rebellionen.

Ganze Gebäudekomplexe wurden in Brand gesteckt, weibliche Vollzugsbeamte vergewaltigt. Das Fernsehen zeigte indessen auch Folterspuren an vierundachtzig Häftlingen einer einzigen Anstalt: Tiefe Kopfwunden, ausgebrochene Zähne, Blutergüsse am ganzen Körper. Die befreiungstheologisch orientierte katholische Gefangenenseelsorge, Pastoral Carceraria, informiert die UNO kontinuierlich über die barbarischen Haftbedingungen, kennt die komplexen Ursachen der Aufstände sehr genau, ist in Brasilien am besten über die Lage informiert. “Rebellionen brechen nur dort aus, wo sich die Gefangenen Waffen und Handys beschaffen konnten“, sagt Pastoralpfarrer Valdir Silveira. „Die Verbrechersyndikate bestechen deshalb korrupte Anstaltsbeamte - denn alle Aufstände werden von außen koordiniert.“
Einem Wärter bot man umgerechnet vierzigtausend Euro, damit er zwei Handys durchläßt. Verlockend viel für Gefängnisbeamte, die im Monat umgerechnet keine dreihundert Euro verdienen. Sogar Handgranaten und Maschinenpistolen können deshalb eingeschmuggelt werden.
In ganz Brasilien sind derzeit etwa 340000 Personen inhaftiert – über ein Drittel davon im Teilstaat Sao Paulo. Jeden Monat erhöht sich dort deren Zahl um 1100. Landesweit wurden hunderttausende Haftbefehle noch gar nicht vollstreckt. Schon jetzt sind in den meisten Gefängnissen Brasiliens mehr als doppelt so viele Menschen eingesperrt wie eigentlich zugelassen. Doch die Regierung gibt vorgesehene Mittel für den Bau moderner, humaner Anstalten einfach nicht frei. „Die Häftlinge erleiden jede Form von Gewalt, werden von völlig ungeschulten Gefängnisbeamten gefoltert“, konstatiert Padre Silveiro. „Jugendliche Straftäter werden nicht resozialisiert, sondern physisch und psychisch deformiert. Wenn man sie mit 18 Jahren entläßt, sind sie voller Aggressivität und landen meist kurz darauf wieder im Gefängnis oder in den fensterlosen Zellen der Polizeiwachen.“ Die sind für fünfzehn bis dreißig Personen ausgelegt – doch hineingepfercht werden bis zu 230 Leute. „Allein in Sao Paulo verrohen dort über 20000, verlieren alle Menschlichkeit, entwickeln einen tierischen Überlebensinstinkt.“ Viele haben Tuberkulose, schreckliche Hautkrankheiten, Epilepsie, psychische Leiden. Mangels Betten wird in Schichten geschlafen: Eine Hälfte kauert aneinandergeklebt, während die andere Hälfte solange stehen muß.
In Sao Paulo liegt die Rückfallquote daher nicht zufällig bei über fünfzig Prozent, in stark unterentwickelten Regionen sogar bei neunzig Prozent. Als kleinen Fortschritt nennt Padre Silveiro die „Zentren der Resozialisierung“, wo jeweils nur etwa zweihundert Häftlinge arbeiten und lernen. Alles wird von der Kirche und Nicht-Regierungsorganisationen mitverwaltet. „Resozialisierung funktioniert dort sehr gut – doch siebenundzwanzig solcher Zentren sind viel zuwenig bei so vielen Häftlingen!“
Weil Brasilien nach wie vor internationale Menschenrechtskonventionen gravierend verletzt, hat die Gefangenenseelsorge jetzt einen weiteren Bericht über das Foltern von Häftlingen an die Vereinten Nationen, die Organisation Amerikanischer Staaten und Amnesty International geschickt. „Ein berüchtigter Folterer wurde Jugendgefängnis-Direktor in Sao Paulo - wir haben gebeten, dagegen zu intervenieren.“
Auch die brasilianische Sektion von ACAT – „Christen für die Abschaffung der Folter“, ist bedrückt, daß sich in Lateinamerikas größter Demokratie gegen die systematischen Torturen kein wirkungsvoller öffentlicher Protest formiert. „Behörden und Gesellschaft tolerieren die Folter gegen Arme, Schwarze, Arbeitslose – denn diese Menschen hält man für unwichtig“, betont ACAT-Therapeutin Guanaira do Amaral. „Arme können jederzeit gefoltert werden.“
Nicht zufällig liegt Brasilien auf dem UNO-Index für menschliche Entwicklung nur auf dem 72. Platz, in der Gruppe jener Länder mit mittlerem Entwicklungsniveau – Cuba beispielsweise jedoch auf dem 52. Platz, zusammen mit Deutschland, Argentinien und den USA in der Gruppe der Länder mit hohem menschlichen Entwicklungsniveau.

Klaus | 05.04.05 23:11 | Permalink